Ein Gespräch mit Kristina Konrad und René Frölke über ihren Film Unas Preguntas (2018), das wir im Vorfeld der Premiere des Films im Forum der Berlinale 2018 geführt haben.
Tobias Hering: Kristina, was hat dich bewegt, 1986 nach Uruguay zu gehen?
Kristina Konrad: Wenn man nicht muss, gibt es in der Regel ja zwei Gründe, irgendwohin zu gehen: entweder Arbeit, oder Liebe. Ich war vorher zweieinhalb Jahre in Nicaragua gewesen und hatte dort einen Uruguayer kennengelernt, der in Schweden im Exil war. Ich wollte sehr gerne im Kontinent bleiben. Nicaragua war damals wahnsinnig spannend, aber ich war dort als weiße Europäerin wirklich gringa-gringa, die Fremde. Wir haben dort in einem sehr einfachen Häuschen gelebt, aber wenn ich geblieben wäre, dann hätte ich wahrscheinlich wie die anderen weißen Künstler und Journalisten auf die Hügel gemusst, d.h. in eine Villa, mit Mauern, wo es kühler ist. Unten war es aber nicht nur heiß, sondern auch gefährlich. Man konnte sehr einfach in unser Haus einsteigen. Und wenn man filmt, braucht man ein Auto, technische Ausrüstung usw. Uruguay war dann eigentlich sehr gut für mich, denn es ist ein Einwanderungsland und solange ich den Mund nicht aufgemacht habe, hätte ich eine von dort sein können. Und ich kam in einem spannenden Moment.
Ich kam in ein Land, das nach 20 Jahren von Unterdrückung und Angst und zwölfjähriger Diktatur „aufatmete“ und dessen redefreudige BewohnerInnen nach jahrelangem Schweigen wieder laut redeten: Aufbruch, alles war in Bewegung, vieles schien möglich.
TH: In den ersten Einstellungen des Films sieht man nach einem langen Schwenk über die Bucht von Montevideo zunächst fast leere, wie verlassene Straßen – eine merkwürdige Leere, die es nachher im Film nie mehr geben wird. Was ist das für ein Moment, mit dem ihr da beginnt?
René Frölke: Es ist für die meisten Zuschauer die erste Begegnung mit diesem Land – Uruguay, am Ende der 80er Jahre. Vieles darin wird dem Zuschauer fremd erscheinen, einiges vielleicht auch vertraut. Dieses Herumstreifen in den leeren Straßen von Montevideo ist wie der Blick auf die leere Bühne zu Beginn eines Theaterstücks, nach und nach füllt sich diese Bühne mit Menschen und mit ihren Problemen. Diese Bilder sind ein Stück weit ein Ankommen an diesem Ort und in dieser Zeit, sie stellen aber auch ein Gegengewicht dar zu dem, was dann in den nächsten fast vier Stunden passiert.
TH: Der Film deckt eine Zeitspanne von etwa eineinhalb Jahren ab. Es beginnt im Oktober 1987 mit der Unterschriften-Kampagne für ein öffentliches Referendum gegen das Amnestiegesetz. Dann gibt es einen kurzen Zwischenschritt etwa ein Jahr später, als knapp 20.000 Unterzeichner ihre Unterschriften noch einmal verifizieren sollten, und der längste Teil des Films widmet sich dann dem Wahlkampf vor dem eigentlichen Plebiszit, das am 16. April 1989 stattfand. Man hat den Eindruck, Kristina, dass ihr meist zu dritt unterwegs wart. Blieb dieses Team über die ganze Zeit konstant?
KK: Eigentlich waren wir vor allem zu zweit, María Barhoum und ich. Ich war neu, noch fremd und als Schweizerin vor allem sehr fasziniert von der Dynamik und Lebendigkeit auf der Straße. Ich wollte teilnehmen, Land und Menschen näher kommen und die politischen Entscheidungen und deren Hintergrund verstehen, und ich hatte eine Kamera, also habe ich María ein bisschen den Ton erklärt, und dann sind wir einfach losgezogen, ohne genau zu wissen, wohin es führen würde oder für wen. Ab und zu war auch Graciela Salsamendi dabei. Graciela war Uruguayerin und sie war in Deutschland im Exil gewesen. Sie hat vor allem fürs Radio gearbeitet und wusste immer, wo etwas Interessantes los war. María und Graciela waren auch meine besten Freundinnen.
TH: Die Gespräche, aus denen ein Großteil des Films besteht, führt meistens María Barhoum. Sie macht einen sehr involvierten Eindruck, man merkt, dass sie in der politischen Landschaft situiert ist und eine eigene Geschichte hat.
KK: María war Anarchistin. Sie ist vor ein paar Jahren gestorben, deshalb sage ich „war“. Ihre Eltern waren beide arme syrische Einwanderer und sie war die jüngste von vier Töchtern und hatte ein Stipendium bekommen, um Kunst zu studieren. 1974 musste sie praktisch von einem Tag auf den anderen ins Exil gehen. Das geschah oft so unter der Diktatur, dass dich einer gewarnt hat: Du wirst gesucht… Maria ist zuerst in Schweden gelandet, aber dort hat sie es nicht ausgehalten: Sprache, Mentalität, Klima – ihren drei Monate alten Sohn hatte sie zurücklassen müssen, ihre Schwester hat ihn nach einem halben Jahr nach Schweden gebracht. Ihr uruguayischer Mann verließ sie sehr schnell in Schweden. Sie ging dann zuerst nach Frankreich und von dort nach Spanien. Als es 1985 wieder möglich war, ging sie mit ihrem Sohn zurück nach Uruguay. Während sie im Exil war, hat sie alle möglichen Scheißjobs gemacht, aber nachdem sie dann zurück gekommen war, fing sie an, als Kunstlehrerin zu arbeiten. Wir haben die Dreharbeiten Marías Arbeitszeiten angepasst.
TH: Was den Film über weite Strecken trägt, ist die besondere Art, wie María die Gespräche führt, bzw. wie ihr euch mit der Kamera und dem Tonbandgerät in die Gesprächssituationen hinein begebt. Man hat das Gefühl, dass diese Situationen meist sehr sensibel sind, dass starke Befindlichkeiten im Spiel sind, auf die ihr euch schnell und spontan einstellen musstet.
KK: Es war ambivalent. Einerseits war die Bereitschaft, mit uns zu sprechen, sehr groß. Zwei Frauen wurden nicht so ernst genommen, aber machten auch weniger Angst. Eine Offenheit, die es heute so nicht mehr gibt. Man kann nicht mehr einfach im öffentlichen Raum auf fremde Leute mit der Kamera zugehen und sie etwas fragen, auch in Uruguay nicht mehr. Andererseits meldete sich dann aber doch ab und zu die Angst, vor der Kamera etwas laut auszusprechen. Von den Militärs wurde ja seinerzeit öffentlich, auch im Fernsehen gedroht: „Wenn Grün gewinnt, [also die Gegner des Amnestiegesetzes], dann wissen wir nicht, was wir machen werden.“
Die Repression begann ja schon Jahre vor der Diktatur, und wenn man 20 Jahre nicht frei reden konnte, dann wird man die Angst nicht von einem Tag auf den anderen los. Auch María hatte Angst. Sie war registriert und es war eben nicht so, dass die Bösewichte nun im Knast saßen, sondern sie liefen alle frei herum. Und wenn wir jemanden angesprochen haben, wussten wir nicht, auf welcher Seite er stand, ob er gelitten hatte, ob er Militär war, ob er Verwandte vermisste, oder Verwandte hatte, die beim Militär waren. Für María war das eine sehr schwierige Situation, aber sie war ein emphatischer Mensch. Sie hat sehr schnell gespürt, wie die Leute drauf waren. Man merkt es daran, wie sie sprechen, welche Wörter sie verwenden.
TH: Ich habe den Eindruck, dass die Entscheidung, die Gespräche um den Kernbegriff „Frieden“ zu führen, sehr wichtig war. „Frieden“ scheint wie ein trojanisches Pferd zu funktionieren, denn irgendwie fühlt sich jeder angesprochen und sogar ein bisschen verpflichtet, seine Definition von Frieden in Worte fassen zu können. Bei „Frieden“ hat sich eher etwas geöffnet, als es wahrscheinlich bei Begriffen wie Gerechtigkeit oder Demokratie der Fall gewesen wäre.
KK: Das waren genau unsere Vorüberlegungen. In der Wahlpropaganda war der Begriff „Frieden“ allgegenwärtig. Es wird ja sehr häufig so argumentiert, nicht nur damals in Uruguay: Wir brauchen Frieden, um wirtschaftlich vorwärts zu kommen. In Deutschland in den fünfziger Jahren gab es das auch. „Wir müssen vergessen, das Schreckliche hinter uns lassen und in Frieden vorwärtsschreiten.“ Es schien uns auch tatsächlich ein neutralerer Begriff als „Gerechtigkeit“. In manchen Schichten sagt Gerechtigkeit auch nicht jedem so viel, aber Frieden sagt allen etwas. Es war dann aber eben interessant zu hören, wie unterschiedlich die Bedeutungen waren. Für die Armen heißt Frieden, essen zu können, und für die Reichen natürlich nicht. Für die Reichen heißt Frieden „Ruhe“.
In der politischen Debatte wurden Frieden und Gerechtigkeit auch gegeneinander ausgespielt. Die Rechte argumentierte, dass diejenigen, die nun Gerechtigkeit fordern, den Frieden zerstören wollen, den man mit dem Amnestiegesetz vermeintlich erreicht hatte. Wenn wir da auf dem Begriff Gerechtigkeit herum gehackt hätten, wären viele Türen wahrscheinlich viel schneller zugegangen.
TH: Unas Preguntas besteht fast ausschließlich aus flüchtigen, aber intensiven Begegnungen mit unterschiedlichen Menschen. Im Gegensatz zu vielen anderen Langzeitdokumentationen gibt es hier keine Protagonisten, an die ihr euch über längere Zeit drangehängt, oder die ihr dann im Schnitt nachträglich aufgebaut hättet. Wie bewusst habt ihr diese Entscheidung gefällt?
KK: Nur mit Tota Quinteros [einer Galionsfigur des Widerstands gegen das Amnestiegesetz], haben wir über die eineinhalb Jahre mehrmals gefilmt. Wir haben sehr früh entschieden, keine Experten, keine Politiker – nur wenn sie im Fernsehen auftreten und wir dieses Material verwenden –, auch keine Interviews mit bekannten Intellektuellen wie z.B. Eduardo Galeano oder Mario Benedetti. Uns interessierten die „normalen Leute“ auf der Straße, deren Meinungen man ja nicht kannte. Wir überlegten auch: Sollen wir noch mit Leuten nach Hause gehen und das Gespräch dort weiterführen? Wir haben uns aber dagegen entschieden, denn man hätte sich dann für zwei oder drei Protagonisten entscheiden müssen, wir wollten jedoch ein breiteres Spektrum. Außerdem wollten wir ja unbedingt auch aufs Land, das oft übergangen wurde und meistens konservativ wählt. Wir haben dann auch festgestellt, dass die Linke, also die Verfechter des Voto Verde, [die Gegner des Amnestiegesetzes], auf dem Land ganz schlecht gearbeitet haben. Sie waren dort einfach nicht präsent und die Landbevölkerung war vor allem durch die offiziellen Medien und ihre „Caudillos“ (Großgrundbesitzer) informiert.
TH: Was mich auch nach dem zweiten Sehen des Films verblüfft, ist, dass es in diesen vier Stunden keine „Durchhänger“ gibt. Und das obwohl ihr beim Schneiden offenbar keine Angst vor der Länge hattet. Man hat nie das Gefühl, dass mit Ungeduld und möglichst effizient, auf den Punkt geschnitten wird, sondern man bekommt in langen, weitgehend ungeschnittenen Passagen mit, wie ein Gespräch überhaupt zustande kommt, wie es sich entwickelt, wie es auch verkümmert, wenn eine Barriere nicht überwunden wird.
RF: Diese Gespräche sind eben interessant wegen dem, was an ihren Rändern geschieht und sich erzählt. Über die Dauer des Films muss der Zuschauer einiges lernen, über das Land, seinen damaligen Zustand, die Zeit davor, die Zeit der Diktatur. Dieses Wissen muss man sich Stück für Stück erarbeiten und oft ist ein kleines, eher unwichtiges Detail in einer Antwort wichtig, weil es sich einfügt, vielleicht auch erst sehr viel später im Film, im Zusammenspiel mit einer anderen Szene. Die Szenen haben alle ihre Widerparts, ihr Gegenstück, mit dem sie sich verhaken und behaken können. Grundsätzlich haben wir jedes Gespräch weniger als ein Interview, sondern viel mehr eben als selbstständige Szene aufgefasst. Dabei ist es immer wichtig, die Figur die da spricht, ein bisschen kennenzulernen. Das sind lauter Puzzleteile die sich in ein größer gefasstes Bild einfügen, und das Erfassen dieses großen Bildes wird sehr lange in der Schwebe gehalten. Gleichzeitig sind die vielen verschiedenen Menschentypen, denen man die ganze Zeit begegnet, unglaublich interessant, einmal fotografisch, die Gesichter sind oft einfach wahnsinnig spannend, aber auch, weil man sich die ganze Zeit Gedanken über ihre Herkunft macht und dabei ein Gefühl bekommt, wie sich dieses Land zusammensetzt.
TH: Ein anderes Element, das sich durchzieht und mein Interesse wachhält, ist dass man das Suchen und Finden der Kameraposition mitbekommt. Maria ist fast immer näher an den Befragten als die Kamera, und dadurch sind sie und das Mikrofon oft im Bild. Die Kamera hält sich eher etwas zurück. Um mehr zu sehen? Es gibt auch Momente, wo du abschweifst, wo du der Bewegung einer Passantin folgst oder dich für den Ort interessierst, wodurch der oder die Sprechende, die man weiterhin hört, an den Rand oder aus dem Bild rutschen. In diesen Momenten lebt etwas, eine gewisse Anspannung oder Unruhe, die für mich damit zu tun hat, eine Haltung zu finden zu dem, was passiert.
KK: Ich bin keine Kamerafrau, ich habe das nie professionell gelernt. Was du Unruhe nennst, kommt also gewiss auch von einer gewissen Unsicherheit meinerseits. So war ich zum Beispiel unsicher mit der Schärfe und habe deshalb manchmal nah auf ein Gesicht gezoomt, um die Schärfe deutlicher erkennen zu können. Auch habe ich versucht, das Mikrofon aus dem Bild zu lassen, habe das jedoch bald aufgegeben. Das ging nicht, was auch damit zu tun hatte, dass vieles sehr spontan und schnell geschah. Wir haben praktisch nichts gesetzt. Wir wollten die Leute nicht dirigieren, und ihnen sagen, „Setzen Sie sich doch bitte dahin, das gibt das bessere Bild“, usw. Weil die Leute also meistens sitzen oder stehen, wo wir sie angetroffen haben, war ich es, die sich bewegt hat und das Bild finden musste. Und ja, ich wollte auch immer etwas von der Umgebung einfangen.
TH: Indem im Bild transparent wird, wie es entsteht, erscheint es mir dann auch schlüssig, die Unschärfen drin zu lassen und manchmal sogar die Band-Enden. Was oft Gefahr läuft, manieriert zu wirken, bekommt hier für mich den Charakter einer Signatur. Wenn Gespräche abrupt enden oder mitten im Satz beginnen, dann weiß man, dass man wirklich den Anfang und das Ende gesehen hat.
RF: Eine sehr grundsätzliche Entscheidung war, dass es im Film keinen zusätzlichen Kommentar gibt. Alles muss sich aus den Szenen selbst herleiten. Und dazu war es unbedingt notwendig, die Einstellungen in ihrer Form zu belassen. Hätte man klassisch geschnitten und auf saubere Anfänge und Enden Wert gelegt, wäre das nicht möglich gewesen. Es geht nicht primär darum, den Archivcharakter des Materials herauszustellen, dieser ist eher Mittel zum Zweck. Es braucht die sichtbare Arbeit hinter und neben der Kamera, um das ganze szenisch zu halten, Kamera und Interviewer sind quasi die Anspielpartner des jeweils Interviewten, es ist nicht bloß die Aneinanderreihung von Monologen. Gleichzeitig läuft da diese Parallelhandlung ab, die die Entstehung des Films miterzählt, ein Making-Of, ein Film im Film.
TH: Die Zeit vergeht in diesem Film in sehr unterschiedlichen Rhythmen. Das erste Jahr vergeht schnell, aber dann gibt es immer wieder retardierende Momente, wo man nach einer Stunde Film merkt, dass es immer noch der gleiche Tag ist. Der Gesamtzeitraum sind zwar diese anderthalb Jahre, aber vier Fünftel des Films scheinen sich in den Wochen unmittelbar vor dem Plebiszit im April 1989 abzuspielen.
RF: In seiner Grobstruktur, in der Abbildung der anderthalb Jahre, bleibt der Film in der historischen Chronologie. Nur die Szenen der letzten zwei Wochen vor dem Plebiszit werden nicht in ihrer historischen Reihenfolge gezeigt. Hier richtet sich die Erzählung eher nach den Argumenten und Stimmungen, das Pendel schlägt mal nach Gelb und mal nach Grün aus, die Realzeit rückt dabei in den Hintergrund. Das alles gibt im Prinzip die Materiallage wieder – der größte Teil wurde in den 2-3 Wochen vor dem Plebiszit gedreht, wahrscheinlich auch, weil sich die Zustände mehr und mehr zuspitzten. Ein gutes Beispiel für die Anordnung: die Gedenkveranstaltung der Milicos für den getöteten Arzt Acosta Y. Lara liegt knapp vor der Hälfte des Films, sozusagen als das dunkle Zentrum des Films, historisch war diese Veranstaltung aber am letzten oder vorletzten Tag vor der Wahl. Ein interessantes Detail, das im Film nur ganz am Rande erwähnt wird: in den letzten drei Tagen darf per Gesetz keine Wahlwerbung stattfinden. Auf beiden Seiten wurde dies aber mit Gedenkveranstaltungen mehr oder weniger umgangen.
TH: Ihr habt erst vor gut einem Jahr begonnen, aus dem Material einen Film zu schneiden. Kristina, wie war dein Verhältnis zu diesem Material während der 30 Jahre, in denen es unbearbeitet blieb? War es für dich immer irgendwie präsent oder ist es von einem Tag auf den anderen aus der Vergangenheit aufgetaucht?
KK: „Immer präsent“ wäre übertrieben. Aber ich habe es auch nie vergessen, denn es war eine sehr wichtige Zeit für mich. Wir haben auf U-Matic-Kassetten gedreht. Eine Kassette hat zwanzig Minuten und die waren sehr groß und auch teuer. Und manchmal gab es auch keine in Montevideo. Also mussten wir ziemlich sparsam damit umgehen, und manchmal haben wir, wenn wir keine mehr hatten, bereits aufgenommene Kassetten überspielt. Wir haben geschaut, ob es Material gab, das uns nicht so interessant erschien, und dann haben wir diese Kassette überspielt.
Das Klima in Montevideo ist sehr feucht, und obwohl die Bänder in einem sehr guten Schrank aufbewahrt waren, konnte man einige nicht mehr retten. Allerdings hatte ich schon Ende der 90er Jahre vieles auf Mini-DV überspielt. Als ich 2015 das Haus aufgelöst habe, bin ich auch wieder auf einen dicken Stapel Papier gestoßen: das komplette Transkript der Gespräche auf Schreibmaschine, aber wir fanden damals keinen Weg, aus den unzähligen Gesprächen einen Film zusammen zu schneiden, der nach dem Resultat des Plebiszits noch interessiert hätte. Es war nicht mehr aktuell und doch zu nah – und wir Macherinnen waren zu involviert. María sagte mir immer wieder: Du musst das jetzt endlich mal schneiden! – Und jetzt erlebt sie es leider nicht mehr.
TH: Frappierend, möglicherweise alarmierend, ist die Aktualität, die der Film meines Erachtens heute hat. Ging es beim Schneiden vor allem darum, diese Aktualität herauszuarbeiten, oder war euch wichtiger, dem historischen Moment gerecht zu werden? Habt ihr das überhaupt als Gegensatz empfunden?
KK: Ich habe das eigentlich nie als Gegensatz empfunden. Ich habe auch einmal Geschichte studiert. Ich will damit sagen, dass ich eine Beziehung habe zur Geschichte. Ich denke, dass gewisse Geschichten, eine gewisse Geschichte, immer eine Bedeutung haben in der Gegenwart. Ich finde das, was die Leute gesagt haben, aber auch interessant jenseits von Tagesaktualität. Zum Beispiel, dass viele der Befragten gesagt haben, Frieden bedeute für sie, dass die Kinder genug zu essen haben. Ich denke nicht, dass wir beim Schneiden darauf geachtet haben, dass es besonders aktuell rüberkommt, sondern einfach, dass es interessant wird. Mit der Hoffnung, dass wenn es interessant ist, man darin auch eine Bedeutung für heute entdeckt.
RF: Ich denke, dass die Geschichte jedes zwischenmenschlichen Prozesses, wenn sie konsequent erzählt ist, per se zeitlos ist und immer einen Bezug zum Hier und Jetzt hat.
TH: Fast alle Situationen und Gespräche des Films sind auf der Straße gefilmt. Interessanterweise ist auch das zweite Wort, das neben paz, Frieden, in den Gesprächen wohl am häufigsten vorkommt, calle, die Straße. Zum einen wird die Straße mit Armut assoziiert, der Ort, wo man landet, wenn man ganz unten ist. Sie ist aber auch der Ort, wo Demokratie stattfindet, die Öffentlichkeit, man geht auf die Straße usw. Für viele ist die Straße auch der Ort, an dem sich das subjektive Sicherheitsgefühl bewähren muss: Kann ich unbesorgt auf die Straße gehen?
KK: Eine Lieblingscharakterisierung von María war: „tiene calle – no tiene calle“, Straße haben – keine Straße haben. „Straße haben“ bedeutet direkte sinnliche Erfahrung, nicht akademisches Wissen haben.
TH: Auch die Gefahren der Straße bekommen eine politische Bedeutung. Wer unter der Diktatur gelitten hatte, assoziiert die Straße mit willkürlicher Gewalt der staatlichen Organe. Für die Rechten dagegen standen hinter allen Gefahren der Straße immer noch die Tupamaros.
KK: Alles wurde damals sofort politisiert. Man hat kaum ein Gespräch geführt, in dem nicht politisiert wurde. Damals war auch der öffentliche Raum noch viel wichtiger als heute. Und in Uruguay erlaubt es das Klima einfach auch, dass man viel draußen und auf der Straße ist. Die Behauptung, man könne in Montevideo nicht auf die Straße gehen, wurde von der rechten Propaganda instrumentalisiert. Damit sollte den Leuten Angst gemacht werden, sie sollten sich nicht draußen versammeln, sondern zuhause bleiben und fernsehen. Aber es war nicht wirklich gefährlich, damals in Montevideo auf der Straße unterwegs zu sein. Auch als Frau alleine habe ich die Straße nicht als bedrohlichen Ort empfunden. Heute ist es viel gefährlicher als früher. Und heute ist kaum mehr was politisch. Heute ist alles privat.