[Ich weiß nicht mehr, warum ich diesen Text geschrieben habe. Den Datei-Informationen kann ich lediglich entnehmen, dass es am 4. November 2009 um die Mittagszeit gewesen sein muss, und ich vermute, dass es geregnet hat.]
„Wir waren gewarnt!“, warnt seit kurzem ein Plakat vor dem Film 2012. Darauf sieht man eine wogende Flutwelle, die ein Gebirge überschwemmt. Damit man auch weiß, dass es sich dabei um ganz, ganz hohe Berge handelt, ist im Vordergrund auf einem Felsvorsprung stehend ein Mann abgebildet, der an seinem geschorenen Kopf und der orangefarbenen Stola um die Schultern unschwer als tibetischer Mönch zu identifizieren ist. Wir sehen also die Überflutung des Himalaja und ich nehme im Wegschauen nochmal die Jahreszahl 2012 wahr. Das ist bald. Dann kommt der Bus. Als ich aussteige, habe ich meinen Regenschirm liegen gelassen, am ersten wirklichen Regentag des Herbstes, und ich weiß, dass ich mir wohl in dieser Saison keinen zweiten mehr anschaffe. Es hat einfach keinen Sinn.
Ein überraschend unterhaltsames kleines Buch von Brian Cathcart heißt „Rain“ (Granta Books, London, 2002) und handelt vom Regen, und zwar dem britischen Regen. Cathcart ist Journalist, lebt in London und hat für das Buch ausgiebig die Geschichte der wissenschaftlichen Behandlung des Wetters recherchiert und diese gelegentlich abgeglichen mit eigenen Beobachtungen in Romanen, aus dem Fenster, im Bus und im südlichen Hinterland von London, wo sich einige der übelsten Überschwemmungen der letzten Jahrzehnte ereignet haben. Für den Alltag empfiehlt Cathcart eine eher lakonische Haltung zum Regen. Die Betonung liegt dabei auf Haltung, was stets auch etwas mit dem aufrechten Gang zu tun hat, der einem meist verlustig geht, wenn man anfängt, zu rennen und sich Gegenstände über den Kopf zu halten. Seinen Ausgang nimmt das Buch vom Schreibtisch des Verfassers, an dem dieser sitzt und in den Regen hinausschaut.
Every time it rains, I sit at home and wonder why… singt auch Randy Newman auf seinem 1999 erschienen Album „Bad Love“. Fragen zum Regen stellt man sich, wenn es regnet. Eine vergleichsweise harmlose Tautologie, wenn man bedenkt, dass man das Wetter ja eh nicht ändern kann. Dem Einzelnen am Schreibtisch, im Bus oder im Regen gesteht Cathcart diesen Alltagsdefätismus noch zu. Von der Menschheit als Ganzer, oder ihrem britischen und mit dem Regen besonders vertrauten Teil fordert Cathcart jedoch einen zupackenderen Umgang mit dem Wetter. Durchaus können wir das Wetter verändern, schlimmer noch: wir haben es bereits verändert und sind möglicherweise erst jetzt, nach Jahrzehnten des Handelns wider besseres Wissen, gezwungen, uns in das Wetter zu fügen. Allerdings von Gram gebeugt und keineswegs mehr aufrecht gehend. Eine neuere Studie zum „ganzheitlichen Umgang“ mit dem Problem von Überschwemmungen, aus der Catchcart gegen Ende des Buches zitiert, trägt den Titel Learning to live with rivers. Es scheint, als seien wir zurück an dem Punkt, wo wir das Feuer neu erfinden müssen. Oder um Gottes Willen natürlich nicht das Feuer, mit dem ja der Teufelskreis begann, sondern … ja, was? Das Rad, Boote, Pontons, Regenschirme?
Learning to live with rivers klingt jedenfalls wie eine frühkindliche Lektion und es ist vielleicht Zeit, zu dem überzugehen, woran ich wirklich denke, wenn es regnet. Auch Randy Newman denkt nämlich nicht, wie ich durch die Verstümmelung seiner Liedzeile suggeriert habe, an die Gründe für den Regen. Every time it rains, I sit at home and wonder why… ever since you said goodbye, I felt so all alone. Der Regen lässt ihn an die verflossene Liebe denken, an die Abwesenheit der anderen und das eigene Alleinsein hinter der undurchsichtig gewordenen Fensterscheibe. Warum regnet es schon wieder? Warum das Ganze? Warum meint sie, es sei besser, wenn wir uns nicht sehen? Und warum kann ich mich nicht einmal selbst davon überzeugen, dass sie Unrecht hat?
Randy Newman schien schon immer eine innige, aber unkomplizierte Beziehung zum Regen gehabt zu haben. Wenn es in seinen Songs regnet, wird es traurig. Schon 1966 schrieb er I think it’s going to rain today und meinte damit eine Welt aus leeren Fluren und leeren Sprüchen, die sich nicht scherte um die profunde Einsamkeit in ihm. In den 80er Jahren schufen UB40 eine Coverversion des Songs und holten ihn damit von Kalifornien, wo es doch kaum regnet, nach London, wo er zum Wetter passte. Die UB40-Version ist schön. Sie entdeckt in dem Song einen langsamen, welligen Rhythmus, ohne ihm seine schöne Melancholie zu nehmen. In einem anderen Song von Randy Newman aus der gleichen Zeit regnet es bereits. Sit by my window and watch the rain, I hear it beating on my windowpane. Well, it makes me so sad, bet no one ever hurt this bad. Selbstmitleid ist ein Wesensmerkmal von Randy Newmans Musik, aber es kommt immer daher mit einem ausgleichenden Maß an Selbstironie. Die einsamen Männer, die in seinen Songs behaupten, dass sie die traurigsten Menschen der Welt sind, sind in ihrer Wetterfühligkeit stets auch ein bisschen lächerlich. Aber auch, wenn sie sich anschicken, dem Regen die Stirn zu zeigen, werden sie den Nimbus der Lächerlichkeit nicht los. Der Rider in the Rain, den Newman auf dem Album “Little Criminals” besingt, ist recht besehen ein Don Quixote, der den Regen in der Wüste sucht: I’m the son of the prairie and the wind that sweeps the plain, so I’m gone to Arizona, just a rider in the rain.
Ein ernstes Unwetter bricht dann allerdings herein in Newmans Louisiana 1927, in dem er die Überschwemmung besingt, die der Mississippi in den Südstaaten anrichtete kurz bevor das ganze Land in die Depression verfiel. What has happened down here is the winds have changed. Clouds roll in from the North and it starts to rain. Rained real hard and it rained for a real long time, six feet of water in the streets of Evangeline. Ähnlich wie in Cathcarts Bericht von den Überschwemmungen in Südengland beschreibt Newman eine gewisse Dickköpfigkeit, mit der die Menschen die Ursachen für die katastrophalen Schäden, die das Wasser in ihrem Leben anrichtet, an der falschen Stelle suchen. Die Menschen ertranken nicht vor ihren eigenen Häusern, nur weil der Wind sich gedreht hatte. Aber in Louisiana bekam die Tatsache, dass das Wetter sich von Norden zuzog, sogleich eine politische Bedeutung: They are trying to wash us away. Der kurze, lächerliche Auftritt von Präsident Coolidge, den der Song beschreibt, gibt zwar dem Misstrauen der Südstaatler gegenüber dem politischen Establishment in Washington Recht. Das Wetter zum Planspiel des Oval Office zu machen, ist jedoch eine ortstypische Überreaktion, die nur wieder auf die elementare Hilflosigkeit dem Wetter gegenüber verweist.
Als Newman vor einigen Jahren eine CD herausbrachte, auf der er alte Songs neu eingespielt hatte, klangen die meisten dieser Lieder erstaunlich zeitgemäß, obwohl sie in den 60er und 70er Jahren geschrieben sind. Political Science etwa war, ohne dass sich ein Wort daran geändert hätte, nun ein Song über die Bush Administration und ihr obszönes Kokettieren mit der Massenvernichtung: Let’s drop the big one now. Und Louisiana 1927 rief natürlich sofort „Katrina“ in Erinnerung, den Tornado, der einen Teil von New Orleans zerstörte und Tausende von Familien obdachlos machte. Auch dort waren die Auftritte der Regierenden lächerlich und beleidigend gewesen, und es wurde darüber diskutiert, dass das Wetter die eine Sache sei, das politische Kalkül um Versicherungen, Bergungsarbeiten, Opferbilder und Schuldzuweisungen aber eine ganz andere. Die Menschen, die tagelang ohne nennenswerte Hilfe in einem Football Stadium ausharren mussten und dort letztlich wie Schuldige gefangen gehalten wurden, haben zu spüren bekommen, dass es den politisch Verantwortlichen lieber gewesen wäre, das Wasser hätte sie ins Meer gespült. Sie werden sich angesehen haben und es ging ihnen für immer eine Illusion verloren, an die jemand wie Randy Newman ohnehin nie geglaubt hat. Vielleicht weil er nicht musste. Schließlich ist, bei Regen die eigene Traurigkeit zu kultivieren, ein Privileg derjenigen, die ein dichtes Dach über dem Kopf haben, außerhalb der Überschwemmungsgebiete leben und für den Zweifelsfall versichert sind. Erst wenn der letzte Baum gerodet und der letzte Fluss vergiftet ist und ich nasse Füße bekomme, werde ich bei Regen an den Klimawandel denken.
Tobias Hering