Berlin Kolumnen

Berlin Kolumnen

[Kurze Texte über Berlin, zwischen 2000 und 2009, hier chronologisch, die meisten veröffentlicht in den Kolumnen „Alltag“ und „Berliner Abend“ in der Wochenzeitung  Freitag und „Berliner Szenen“ in der taz.]


Gell, Dumbo!

der Freitag 21.7.2000

Am Sonntag versammelten sich auf der Berliner Galopprennbahn Hoppegarten »Zehn tausende Tierfreunde, um 14 Elefanten dabei zuzusehen, wie sie freudig zu ihrem Futter laufen«. Diese verblüffend harmlose Interpretation des Moderators beklatschte das Publikum derart handfest, dass man geneigt war, ihm zu glauben. Draußen vor den Toren der Arena hatten böse Zungen das Volk noch vor seiner eigenen Verdummung gewarnt, für die solche Veranstaltungen und irgendwie auch die Elefanten verantwortlich seien. Da keine Zeit war für komplexe Argumentationsketten vom Elefanten zur Verdummung, entschied das Volk mit der ihm in solchen Momenten stets eigenen intuitiven Sicherheit: »Volks verdummung? Dit wüsst ick.« Und strebte dem Spektakel zu.

Kaum hatte das Volk die Tore passiert, wurde es gewahr, dass die Liebeserklärung, die hier in den märkischen Sand gestampft werden sollte, nicht nur den Dickhäutern galt, sondern auch den Indern, die ja in diesem, unserem Land in letzter Zeit so schlecht weggekommen sind – und das nur wegen eines blöden Kinder-Reims. Es ging nicht nur um den öffentlichen Futterlauf der 14 Elefanten, sondern es sollte ein Tag der Verbundenheit werden zwischen den beiden Völkern, also dem deutschen und dem indischen, und ein »Zeichen der Toleranz« gesetzt werden.

Das Volk, so muss man sagen, zeigte sich dieser, ihm unverhofft zukommenden Aufgabe gewachsen. Es tolerierte an diesem Tag alles, was sich ihm bot, mit geradezu elefantösem Gleichmut: nach dem Verdummungs-Vorwurf und der Leibesvisitation die indischen Imbissbuden mit ihrem Korianderduft, die Samosas und die Patadams, die an diesem Tag Patadums hießen, die fahrenden indischen Händler mit ihrem illustren Warenangebot, die indischen Tänze, mit und ohne Bauch, und die dabei unerlässliche indische Musik. Vor allem der Tanz zu Ehren einer elefantenköpfigen Gottheit berührte das Volk in seiner tiefsten Seele. Als Zeichen der Verbundenheit schwenkte es das aufblasbare Konterfei von Benjamin Blümchen und erreichte so mit der ihm eigenen Spontaneität den religiösen Schulterschluss.

Ebenso wohlwollend tolerierte das Volk den indischen Co-Moderator und vor allem den original indischen Maharadscha mit dem langen Namen und die mitgereiste Prinzessin. »Am Rande der Wüste Thar liegt Jodh pur, eine Stadt, die den Charme und die Tradition der alten Welt vereint. Jodhpur war die Festung der Maharadschas der Rathore-Dynastie, die schon seit dem 5. Jahrhundert …«, aber lassen wir das. Was braucht es vieler Worte, wenn einem die Co-Co-Moderatorin von RTLefant doch versichert, dass sie tags zuvor mit dem Maharadscha zum Essen war und sich der Gast dabei als »sehr charmant« und vor allem »sehr europäisch« erwiesen habe. Der Pressetext zitierte den Maharadscha zudem mit den Worten: »Ich habe früh gelernt, zu tun, was von mir erwartet wurde. Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist.« Solch unverhohlen menschliches Geständnis schlägt Brücken zwischen den Kulturen.

Mit unübersehbaren Gesten der Verbundenheit duldete das Volk schließlich die 14 Elefanten auf der »schönsten Galopprennbahn Deutschlands«, und nur unverbesserliche Kritikaster werden festgestellt haben, dass kein einziger unter ihnen herausragende Softwarekenntnisse vorzuweisen hatte. Stattdessen sagte ihnen der Beipackzettel so sympathische Eigenarten wie Gemütlichkeit, Zutraulichkeit und Verschmustheit nach. Wem das nicht die Tierliebe im Herzen entfacht, kann der sich noch Mensch nennen? Und so besah sich denn das Volk milden Blickes das unbeholfene Gerenne der tonnenschweren Tiere. In den Pausen fläzte man im Gras, Volk und Elefanten, hüben aß man Heu und bewarf sich auch damit, drüben gab es Thüringer und Lachsersatz, und es war klar: Man war sich an diesem Tage näher gekommen. Auf der Suche nach einer Serviette wird dem einen oder der anderen ein Flugblatt der Protestler in die Finger gekommen sein: »Veranstaltungen wie diese nehmen den Tieren jede Würde, jeden Respekt und jede natürliche Schönheit.« Da konnte das Volk nur noch schmunzeln: »Von wegen! Wir machen es uns schön, gell Dumbo ?«


Stadt als Drama

der Freitag, 12.10.2001

In der Hochzeit der Berliner Bauwut, in den späten neunziger Jahren eines bereits vergangenen Jahrhunderts, ist Hubertus Siegert immer wieder hinter die Bauzäune gegangen und hat den Protagonisten und Geburtshelfern des neuen Berlin über die Schulter geschaut. In manchmal erschreckend schönen, dann wieder verblüffend banalen Bildern zeigt er Momente, in denen über die Stadt gesprochen wurde, und Momente, in denen an ihr gebaut wurde. Wenn sein Film Berlin Babylon nun in den Kinos läuft, ist er bereits ein Zeitdokument. Die Topographie, die er zeigt, lässt sich so schon nicht mehr wiederfinden. Das Spannungsfeld zwischen der Flüchtigkeit des Moments und der Nachhaltigkeit seiner Wirkung offenbart sich nun im Kino.

Wo in Berlin nicht am Zukünftigen gebaut wird, überlagert sich Vergangenheit gleich schichtenweise. Das Jetzt wird zum Provisorium und findet seinen Ausdruck in den gelben Container-Städten auf den Großbaustellen, in veränderter Straßenführung und umgeleiteten Flussläufen. Seit dem Fall der Mauer gibt sich Berlin als eine Stadt ohne Gegenwart. Wenn man nun diese Gegenwart, die nicht stattgefunden hat, in Berlin Babylon doch zu sehen bekommt, hat sie etwas Unheimliches. Die Bilder lösen sich aus dem dokumentarischen Kontext und verdichten sich auf einer neuen Ebene zum Bild einer Stadt, die man zu kennen meint, ohne dass man sagen könnte, woher.

Anstatt das Gesehene eilig zu benennen und ihm mit der Akribie des Archivars einen Platz zuzuweisen, gönnt sich der Film die Distanz des ethnologischen Blicks. Scheinbare Banalitäten werden zu geheimnisvollen Zeichen: Innenhöfe erinnern an Gefängnishöfe, obsolet gewordene Gebäude sinken ächzend zu Boden wie tödlich getroffene Dickhäuter. Ein bemannter Zementtrichter schwebt minutenlang über dem Rohbau, auf dem er seine Last ablassen soll, als sei das Kreisen über dem Zielgebiet Teil eines symbolischen Manövers. Andernorts wird unter Anrufung Gottes ein Kassiber in den Grundstein versenkt. Im nächsten Bild machen sich Arbeiter mit einem Presslufthammer daran, ihn wieder auszugraben, um ihn an anderer Stelle im Fundament zu versenken. Was in Wirklichkeit planmäßig verläuft, erscheint dem, der den Plan nicht kennt, als Sabotageakt.

Anstatt zu interviewen, beobachtet die Kamera die Protagonisten in alltäglichen Arbeitssituationen. Indem sie namenlos bleiben und die Untertitel lediglich ihre Rollen enthüllen, erscheinen sie als Figuren eines zeitlosen Dramas: der Architekt, der Investor, die Dezernentin, der Polier, die Stadt. Wie die Legende vom Turmbau zu Babel bekommt das Bauvorhaben Berlin damit etwas Archetypisches. Stets mischt sich in das Zufällige ein Anteil des Inszenierten. Obwohl der Film mehr erzählt als dokumentiert, verliert das Gezeigte keineswegs an Authentizität. Vielmehr entsteht so der gar nicht trügerische Anschein, dass das Authentische längst Anteile des Inszenierten in sich aufgenommen hat. Der Architekt vor seinem Modell, der Investor auf seinem Grundstück, der Bundeskanzler an seiner Gedenkstätte: Der Wille zur Inszenierung liegt bereits im Rohmaterial des dokumentarischen Bildes. Geradezu folgerichtig bewegen sich Bauherren und Politiker wie Darsteller in den von ihnen selbst zu verantwortenden Kulissen.

In seinen fragmentarischen Überlegungen zum Begriff der Geschichte schreibt Walter Benjamin: „Vergangenes historisch artikulieren, heißt nicht, es erkennen, ›wie es denn eigentlich ist‹. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ Ganz in diesem Sinne bemächtigt sich Siegert seines Materials. Die Bilder dramatisieren die Stadt und erzählen von diesem Augenblick der Gefahr, in dem sich Hellsichtigkeit und Sorge verbinden. Die Gefahr, um die es geht, assoziiert bereits der Filmtitel: dass das blindwütige, von sich selbst euphorisierte Bauen alle Chancen der Verständigung verschenkt. Dass die Stadt, wenn sie einmal fertig ist und die Kräne verschwunden sind, sich in Disharmonien ohne jede Dialektik erschöpfen wird, in stadtplanerischen Monolithen, die längst aufgehört haben, reizvoll zu sein, die ihr Woher und Wohin nicht verraten und ihrer Umgebung nichts zu sagen haben.

Manchmal meint man in Berlin Babylon der Stadt beim Träumen zuzusehen. Das Aufwachen aus diesem Traum steht allerdings noch aus. Wir sind immer noch in der Gegenwart.

Scheinleser
taz, 16.7.2002

„Scheinleser“ stand über dem Schlitz, der die Scheine aufnehmen soll. Zum Schein las ich, um unauffällig die peinlichen Bemühungen des herbeitelefonierten Notdienstes beobachten zu können. Ich dachte, es beträfe ja nicht mich, sondern nur das amerikanische Pärchen, dessen Wäsche in der Maschine gefangen war. Denn der Automat hatte zwar den Schein akzeptiert, dies aber nicht durch eine Guthaben-Anzeige belohnt. Nun stand der störrische Automat zur Strafe offen und wurde vom Notdienst mit Flüchen belegt und mit dem Autoschlüssel traktiert. Die umstehenden Waschwilligen hatten indes dem Automat schon längst verziehen und verlagerten ihren Groll nun auf den Notdienst. Der trug nicht mal einen Blaumann. Das konnte ja nicht gut gehen. Der Mann sah aus, wie ein Makler, der lieber DJ geworden wäre, auf keinen Fall jedoch Waschsalon-Notdienst. Nachdem die Flüche und der Schlüssel keine Wirkung gezeigt hatten, fragte er in die Runde nach einem spitzen Gegenstand. Eine Frau hielt ihm ihr Strickzeug hin und nun pokelte der Scheinnotdienst im Scheinleser, wobei ihm die Sicht von dem halbfertigen Pullover verhängt war, der noch an den Nadeln baumelte. Als auch dies nichts brachte, betätigte er den Hauptschalter. Der Automat blinkte ein letztes Mal zwinkernd und alle Maschinen standen still und auf Null. Jeder eilte zu seiner halbfertigen Wäsche. „Jetzt ist alles aus“, rief einer mit etwas übertriebenem Pathos. „Soll ja auch“, meinte der Notdienst, ordnete den Kabelsalat am Automaten, blies ein paar mal über die Stecker und schloss das Gerät mit der Diagnose: „Scheiß Waschpulver.“ Als wäre das die Losung gewesen, trat nun ein, was niemand mehr erwartet hatte: der Scheinleser summte, die Anzeige bestätigte Geldempfang und die Maschinen machten da weiter, wo sie aufgehört hatten. Die Strickerin half den Amerikanern bei der Programmwahl, der Notdienst wünschte allen ein schönes Wochenende und ich las nun wirklich den ersten Satz: „Einem ihn anbettelnden Hund gab er ein Stück Brot, das zuerst verschmäht, hernach aber, in Erwägung vielleicht, dass eine Begrenzung dem Begnügen mit einem Nichts vorzuziehen sei, gutgeheißen und artig verzehrt wurde.“

Boa constructa
der Freitag, 29.10.2004

„Wir sind die Schlange“, sagt einer im Dunkeln. Es klingt säuerlich. Dabei heißt es doch „Wir sind das Volk“ und müsste frech klingen. Aber vielleicht hat er Recht, es können nicht alle gleichzeitig das Volk sein, man muss sich hinten anstellen. Wir tun alle einen Schritt. Es geht voran.

Es gibt zwei Schlangen: die eine, die die Schlange ist, und die andere, die die Schlange beobachtet, vor allem den Kopf, um zu sehen, was sich dort tut und wie oft, und um auszurechnen, wann man wohl am Kopf wäre, wenn man sich jetzt am Schwanz einreiht. Bei manchen geht die Rechnung nicht auf und sie reihen sich nicht ein, wollen weder Volk noch Schlange sein, sondern gehen in die Tadschikische Teestube und trinken Rauchtee mit Moskovskaja. Es gibt also streng genommen nur eine Schlange, und es gibt ja auch nur ein Volk, nämlich uns. Und deshalb soll es wohl schicklich sein und der Sache dienlich, Volkspalast zu nennen, was einmal Palast der Republik hieß.

„Wartet ab“, denkt einer im Dunkeln. „Wer lieber ein Volk als eine Republik sein will, bekommt am Ende noch ein Schloss geschenkt.“ Oder Schlimmeres. Eine Boa Constrictor zum Beispiel, von der man weiß, dass sie den Kopf so weit aufreißen kann, dass man bequem ein Lamm darin parken kann. Übrig bleiben wird wahrscheinlich nicht Volk, und schon gar nicht Republik, sondern am Ende nur Palast. „Gehen wir in den Palast“, wird es heißen. Man hakt sich unter und geht. Nichts ist schöner als ein schöner handlicher Kompromiss mit Klettverschluss und Sichtfenster. Wer so einen Palast hat, wäre maßlos, wollte er noch ein Schloss obendrein. Wie sich das auch anhört: „Volksschloss“, oder noch schlimmer: „Schloss der Republik“. Das fügt sich nicht. „Entschuldigung, wir sind die Schlange.“ Hoffentlich hält er, was wir uns hier versprechen.

Sterne und Planeten
der Freitag 29.7.2005

Kinder sind klasse, denke ich, solange ich nicht der bin, der ihnen erklären muss, warum man eine Leiter nicht senkrecht aufstellt, und warum man anderen Menschen nicht mit brennenden Stöcken vor dem Gesicht herum fuchtelt. „Was heißt senkrecht, Papa?“ Kinder sind klasse. Ein gutes Dutzend Erwachsene und noch mal so viele Kinder teilen sich hier ein Haus in einem Dorf am See. Alle leben in der Stadt, das Haus in der Uckermark ist der Rückzugsort für ab und an. „Alles Junge und Kreative hier“, meint Tabea, die mit ihrem Sohn Vladimir da ist. Sie selbst nimmt sich aus, denn sie sei nicht mehr jung und seit Vladi habe sie auch keine Muße mehr gehabt für die Kunst. Sie sei Bildhauerin (gewesen), sehe es aber mittlerweile gar nicht mehr als so großen Verlust an, nichts mehr mit dem Kunstbetrieb zu tun zu haben, in dem sie sich zuletzt ohnehin nicht mehr wohl gefühlt habe. Ich sage: „Ich glaube, es gibt nur wenige Modelle, die einem alles erlauben.“ Ich denke daran, dass ich zum Beispiel nicht Mutter sein kann und meinem Sohn die Haare kraulen am Lagerfeuer, und auch nicht Vladi sein kann und mich an ihr Bein lehnen. Aber ich sage nichts, das wäre zu kompliziert. Katarina sagt, sie fände es schön hier, aber der Gedanke, immer hier wohnen zu müssen, mache ihr Angst. Was soll man mit den Nachbarn reden, und es gibt ja nur die. Nur Silke und Martin sind mit ihren zwei Kindern Paul und Lotta vor sechs Jahren ganz hier raus gezogen. Sie hatten die Hausgemeinschaft mit gegründet, sich dann aber ein eigenes Haus gekauft und saniert zum festen Wohnsitz. Als Lotta schulpflichtig wurde, haben sie mit anderen Ex-Städtern in Angermünde eine freie Schule gegründet, die ihnen nach zwei Jahren vom Land anerkannt wurde. Die Kinder wachsen nun auf dem Land auf, das war der Plan, sie müssen also mit den Nachbarn, ob sie wollen oder nicht.

Einer der Nachbarn hat am frühen Abend angefangen, eine Böschung mit der Motorsense zu mähen. Nach einer Stunde lässt sich der Lärm nicht mehr ignorieren und jemand sieht im Amtsblatt die vorgeschriebenen Ruhezeiten nach. Von 22 bis 6 Uhr. Martin geht zum Nachbarn und sagt: „Bis acht, dann ist Schluss“, und der antwortet: „Das lass mal meine Sorge sein.“ Das Amtsblatt wird nicht erwähnt. „Hartz IV-Mäher“ nennt jemand die Dörfler. „Oh, gemein!“, lacht Katarina. Nun lauschen alle der Sense. Um kurz vor acht verstummt sie tatsächlich. „Der wird sich revanchieren“, meint Martin trocken. Jetzt, da die Sense schweigt, hört man die Nachbarn hinter der Hecke. Eine Frau ruft: „Jetzt hau doch mal ab hier!“ Ich stell mir vor, wie sie eine Wespe verscheucht, und frage mich, wie die Dörfler wohl die Städter nennen. Auch mit dem Nachbarn auf der anderen Seite gebe es Ärger, erzählt Martin, „seit die neue Frau auf dem Hof ist.“ Eine humorlose Hochschwangere mit gefärbten Haaren und „dem Blick einer KZ-Aufseherin“. Die Nachbarn haben nun auch eine Terrasse, genau wie die, die sich Martin und Silke gebaut haben. „Und jetzt können wir unsere kaum benutzen, weil die ständig auf ihrer sind“, meint Martin. Silke beschwichtigt: „Die haben eine Terrasse, wir haben eine“. Und: „Heute Abend brauchen wir uns doch nicht beklagen, denn wir sitzen ja hier.“ – „Vielleicht sollten wir uns sowieso wieder hier einmieten“, sagt Martin. Es wird kein Grundsatzkonflikt sein, sonst würden sie es nicht am Lagerfeuer vor einem Fremden besprechen. Martin ist Filmemacher und bereitet einen Film vor über das Leben russlanddeutscher Aussiedler in Mecklenburg. Silke ist Ornithologin und erstellt Gutachten für Windkraftanlagen über Vogelzuglinien und mögliche bedrohte Vogelarten. Ich denke an die Falken und Bussarde, die den ganzen Tag über dem Dorf und den Feldern kreisten. Wenn gemäht wird, ist das ein großer Tag für die Raubvögel. So hängt alles zusammen, oder vieles zumindest, und man muss kein Darwinist sein, um das gut zu finden.

Die Kinder sind müde geworden, die Erwachsenen schweigsamer. Paul kuschelt sich in die Armbeuge seines Vaters. Martin zeigt ihm die Sterne und erklärt ihm den Unterschied zwischen Sternen und Planeten: „Die einen leuchten aus sich selbst heraus, die anderen bekommen ihr Licht von einer Sonne.“ Paul will wissen, wo das Holz hingeht, wenn es verbrennt, und warum Zweige mit Blättern qualmen. Als er mich vorher beim Grillen gefragt hat, warum die Glut brennt, wenn man rein bläst, und nicht ausgeht wie eine Kerze, habe ich ihm gesagt, dass es „etwas mit dem Sauerstoff zu tun hat“. Als Vater kommt man nicht so einfach davon. Martin beantwortet Pauls Fragen ernst und gewissenhaft, denn es ist wichtig. Ein wichtiger Moment zwischen Vater und Sohn. Vielleicht denkt Martin daran, dass sich Paul in ein paar Jahren an diesen Abend erinnert, und er will, dass der Sohn dann lächelt bei dem Gedanken an die Worte des Vaters: „Die, die aus sich selber leuchten.“


Suborte

der Freitag, 9.11.2007

„Was passiert, wenn Immobilien Know-how, Investment Know-how und künstlerisches Know-how zusammenkommen?“ Das erste, was in einem solchen Fall meist passiert, ist eine Powerpoint-Präsentation. Und die dreht denn an der Wand ihre stumme Runde und stellt sich selbst alle sechs Minuten dieselbe Frage. Ein Projektraum in einer „Büroimmobilie im Grenzgebiet zwischen Kreuzberg und Mitte“, ein junges und selbstredend innovatives Unternehmen mit der Hoffnung auf „noch unausgeschöpfte Entwicklungspotenziale“. Ein großer Raum im ersten Stock, durch Raumteiler begehbar gemacht. Die Schritte suchen die Fenster. Weil es draußen schon dunkel und innen zu hell ist, geht man auf sein Spiegelbild zu und muss das Gesicht an die Scheibe pressen, um zu sehen, wo man ist. In einer toten Ecke Berlins, wo dreimal in der Nacht der Wachschutz vorbeifährt und niemand geweckt wird, wenn morgens der Müll abgeholt wird.

Beim Reinkommen ist mir ein Büffet aufgefallen, und ich finde dort noch warme Pasta und kalten Weißwein. Das eine in der linken, das andere in der rechten Hand stelle ich mich nun der Kunst, die an den Wänden hängt, steht, oder klebt und die das Know-how beweisen soll, das zu behaupten die Powerpoint-Präsentation nicht müde wird. Neobarocke Bordüren aus Plastik, zum Cunnilingus verschränkte Hasenstatuetten, die Wände dramatisierende Schwarzweiß-Grafiken. Dekorative Objektkunst, die niemanden stört, solange sie nicht die Fluchtwege versperrt, und sich deshalb auch sicher gut verkauft.

Gewusst wie, das erste Standbein steht. Das dritte sitzt mittlerweile mit meinem Begleiter an einem Tisch in der Powerpoint-Nische und zeigt an die Wand, wo sich gerade aus einem Kreis ein Triangel formt. In der rechten unteren Ecke steht „Investment Know-how“: „Das bin ich.“ Ich stelle das Weinglas auf den Tisch, um die Pasta essen zu können, und setze mich zu den beiden. „Was passiert…“, fragt die Wand wieder einmal, und ich denke: „Was passiert, wenn man den Abend mit einem Freund verbringen will, der aber auch jemand anderem zugesagt hat, bei einer Ausstellungseröffnung vorbeizuschauen?“ An der Wand dreht sich nun das architektonische Modell eines Gebäudes, einer „Universität“, und füllt sich mit roten Kreisen. „Suborte“, meint der Freund des Freundes, seien informelle Punkte in einem Gebäude, die sich zwischen den formellen Orten ergäben, typischerweise am Rande der Wege, die das Gebäude durchziehen und die formellen Orte miteinander verbinden. Ich denke an Hörsäle, Toiletten, Mensen, an Korridore und Pinnwände, an Sitznischen unter den Treppen und Heizkörper, die einem in den Hintern schneiden. „Suborte“ prägen entscheidend die Kommunikationskultur eines Gebäudes, sagt der Freund des Freundes, und die Powerpoint-Präsentation gibt ihm das nächste Stichwort: „Subtexte“. Das Gebäude werde aufgewertet, wenn man die „Suborte“ highlightet, und dafür bediene sich der hier vorgestellte Entwurf einer Reihe per Zufall generierter Satzfragmente: „Subtexte“, die auf bunte Planken gedruckt dreidimensional in die „Suborte“ hineinragen sollen, wenn ich dem 3D-Effekt nicht in der falschen Richtung auf den Leim gegangen bin. Konkret: die wenigen noch nicht beschriebenen und beklebten Flächen eines Gebäudes (einer Uni!) sollen mit „ungestaltet-gestalteten“ Satzbrocken möbliert werden.

Ich merke, dass ich eine Weile das Kauen vergessen habe und greife nach dem Weinglas. Mein Freund sagt „hm“ und nickt. Er ist Dozent an einer Uni. Ich stelle mir vor, wie er im Geist die Klauseln über die Mitbestimmung des Lehrkörpers bei gestalterischen Eingriffen in den Baukörper rekapituliert. Schweigend sitzen wir in unserer Nische, die Powerpoint-Präsentation fragt wieder mal, was passiert, wenn eins zum anderen kommt. Und ich frage mich, ob uns aus diesem Schweigen vielleicht ein aus der Wand ragendes Satzfragment gerettet hätte. Aber welches? „dass man diesen Gedanken auch mahnend verstehen kann hört der Hirsch den Herbst im Atem seiner Herde“.

Videothek
der Freitag, 20.03.2008

Bei meinen Freunden Tanya und Rob steht in der Mitte des Wohnzimmers ein Beamer auf einem Tisch. An das gegenüberliegende Bücherregal ist ein Laken befestigt, das sich jederzeit herunterrollen lässt, und zwei Matratzensofas sind allzeit bereit auf diese potentielle Projektionsfläche ausgerichtet. Die Römer hätten sich so Filme angeschaut, hätte es damals schon Filme gegeben. Neben dem Beamer steht auch meistens eine Schale mit Weintrauben oder Mandarinen, aber die werden auch gegessen, wenn es keinen Film zu sehen gibt. Überhaupt habe ich in diesem Zimmer noch nie einen Film gesehen, und dennoch drehen sich die Gespräche hier fast immer um Film und Filme. Mit der sanften Notwendigkeit, mit der auch das Mobiliar um den Beamer angeordnet ist. Meistens werden diese Gespräche auch ausgelöst durch die von dem Beamer ausgehende und mal von mir, mal von Tanya, mal von Rob ausgesprochene Frage, ob man sich nicht gemeinsam einen Film anschauen sollte.

Tanya und Rob haben sechs Jahre in Los Angeles gelebt, bevor sie nach Europa ausgewandert sind, zuerst nach Paris und dann nach Berlin, wo sie nun bereits sieben Jahre leben, also länger als seinerzeit in Los Angeles. Es wäre billig, zu vermuten, dass die bei Exilanten übliche Pflege der „heimischen Kultur“ im Falle von Amerikanern – insbesondere, wenn sie in „L.A.“ gelebt haben – unweigerlich die Form einer affektiven und archivarischen Beschäftigung mit Hollywood und dem amerikanischen Film annimmt. Billig wäre das und ein Klischee.

Als ich Tanya und Rob neulich wieder einmal besuchte und wir uns auf die Matratzensofas gefläzt hatten, kamen wir nach den freundschaftlichen Preliminarien über die Arbeit und den U-Bahn-Streik schon bald auf die mögliche Abendgestaltung und von dort auf Filme zu sprechen. Den Hintergrund dieser Gespräche bildet gewissermaßen eine Videothek von unbeschreiblichen Ausmaßen und einem unerschöpflichen Reichtum an Filmen aller Länder und Zeiten. Eine Videothek, in der nicht nur alle Filme aufbewahrt werden, die jeder von uns bereits gesehen hat, sondern darüber hinaus auch alle Filme, von denen einem von uns bei irgendeiner Gelegenheit einmal erzählt wurde, von denen wir gelesen haben, oder die in den Filmen, die wir bereits kennen, zitiert oder denen dort auch nur eine angedeutete Referenz erwiesen wird. Eine recht umfangreiche Videothek also, wie es sie zumindest im uns bekannten Teil Berlins nicht und wahrscheinlich nirgends auf der Welt gibt. Warum also rausgehen und sich einen Film ausleihen? Ohnehin würde keine DVD, auch wenn sie noch so viele „Extras“ bietet, auch nur annähernd das Interesse befriedigen können, das wir an einem Film haben, die Missverständnisse und Fehlurteile und Verwechslungen, die in unseren Köpfen zum Teil des Films werden, zu dem Film, den wir sehen wollen.

So haben wir eine gute Stunde über die so unterschiedliche Darbietung von Catherine Deneuve in Polanskis „Ekel“ und Godards „Verachtung“ diskutiert, ein spannendes Gespräch, das auch den existenzialistischen Gehalt der beiden Filmtitel auslotete und dessen Nachhaltigkeit keinen Schaden nahm, als uns ein Blick ins Lexikon daran erinnerte, dass die vermeintliche Deneuve in „Verachtung“ in Wirklichkeit ja Brigitte Bardot war. Sei’s drum. Partout wollte uns anschließend der Name des männlichen Parts in „Bonnie & Clyde“ nicht einfallen. „Irgendwie dekadent, ein Beau, aber nicht wirklich gut aussehend“, meinte Tanya, und Rob kam dann schließlich auf Warren Beatty. Nicht allerdings, weil ihm plötzlich der Film wieder vor Augen gestanden wäre, sondern weil Tanyas Beschreibung ihn an den echten Warren Beatty denken ließ, in dessen Badezimmer er einmal ein Schloss ausgetauscht hatte. Robs Beziehung zu Filmen geht oft den direkten Weg über Erinnerungen an Los Angeles, wo er in der Zeit, als die beiden dort lebten, zuerst als Hilfskoch und später als „Locksmith“, also als Schlosser, gearbeitet hat. Er ist ausgebildet in diesem Beruf, auch sein Vater ist Schlosser gewesen und hatte einen Laden voller Schlösser und Schlüssel in einer Kleinstadt in Connecticut. Von einigen Hollywood Stars weiß Rob, ob sie ihren Burger mit oder ohne Zwiebeln essen und ob sie Wein oder Bier dazu trinken. Bei anderen war er zuhause, hat Schlösser an Toren und Türen ihrer Villen in Beverly Hills repariert oder ausgetauscht, wurde zur Unzeit gerufen, um ein verklemmtes Minibar-Schloss zu öffnen, oder eben bei Warren Beatty einen zusätzlichen Riegel an die Badezimmertür zu montieren. Warren Beatty saß lesend am anderen Ende des immensen Schlafzimmers in einem weißen, Fell besetzten Bademantel. Kein Wunder, dass Rob zu Filmen seine eigenen Geschichten hat, ähnlich wie der Protagonist in David Lynchs „Lost Highway“: „Ich erinnere mich an die Dinge lieber auf meine Weise, nicht unbedingt, wie es passiert ist.“ Wie heißt der noch gleich?

Blaulichtviertel
der Freitag, 9.1.2009

Berlin sei eine gute Stadt zum Leben, sage ich anderen immer gerne, weil es leicht sei, von ihr wegzugehen und auch leicht wieder zurückzukommen. Das ist so ein Spruch geworden. Nun komme ich mal wieder zurück nach Berlin und muss lernen, den Telegrammstil der Wohnungsanzeigen in meine eigenen Bedürfnisse zu übersetzen. Will ich Pk, Dn, Lam, Sfl oder Ghs? Und brauche ich Bd, gr, Bk und GEH und zwar sfr? Aber auch wenn die Botschaft in vollständigen Worten formuliert wird, liegt der Sinn nicht brach vor Augen. Während „Schlossnähe“, „Spreeblick“ und „Kiezlage“ sich am realen Objekt noch irgendwie bewahrheiten, ist „verkehrsgünstig“ oft schon ein Hinweis darauf, dass die Wohnung in einer Gegend liegt, aus der man nur schnell wieder wegkommen möchte. Auch vermeintlich lockende Auskünfte wie „10 min vom Alex“ oder „Nähe Maybachufer“ sollen in der Regel darüber hinwegtäuschen, dass die Wohnung eben gerade nicht mitten im Zentrum oder in Kreuzberg liegt.

Die Makler haben eine eigene Art und Weise, die Stadt zu vermessen. Glaubt man ihrer Kurzprosa, so erstreckt sich „Kreuzberg!“ im Süden mittlerweile bis zur Neuköllner Boddinstraße und im Osten bis in den Plänterwald, während es im Westen schon weit nach Schöneberg hineinreicht, das dafür seinerseits erst am Steglitzer Kreisel endet. Kurz und gut, trotz virtueller Wohnungsbegehungen und 360 Grad Portfolios findet man die neue Wohnung erst, wenn man sich einen Termin in der Wirklichkeit geben lässt.

In der Wirklichkeit angekommen, stehe ich auf der Terrasse einer aufgesetzten Dachgeschosswohnung im Böhmischen Viertel in Neukölln (Rixdorf!). Um sich von dem dichten Wolkenpanzer nicht die Pointe nehmen zu lassen, greift der Makler in die Tasche und hält mir einen kleinen Kompass hin. Folgsam zittert die Nadel auf dem S. „Südbalkon“, beziehungsweise „Sü-Bk“, wie es in der Anzeige hieß. „Gr.“ stand da noch, und ja, groß ist die Wohnung auch, zu groß finde ich. Der „Wohnbereich“ kaum wohnlich gemacht mit der „amerikanischen Küche“, das Schlafzimmer durch den Dachgiebel wie ein riesiges dunkles Zelt. Dahinter das Bad, dessen verschwenderische Größe auch durch Bidet, Doppelwaschbecken und Pissoir keinen rechten Sinn bekommt. Neben der Badewanne schließlich eine Tür, die kurioserweise direkt ins nächste Treppenhaus führt. „Fluchtweg“, sagt der Makler, und ich frage mich, ob er Gedanken lesen kann.

Eigentlich möchte ich mal in den alten Westen ziehen, weil ich den nach all meinen Berliner Jahren am wenigsten kenne. Neukölln ist zwar auch „alter Westen“, obwohl es östlicher liegt als große Teile des alten Ostens. Insgeheim hege ich aber den Wunsch, wohin zu ziehen, wo mich niemand erwartet, und nach Neukölln ziehen nun alle, denen Kreuzberg zu teuer geworden ist. Wo würde mich niemand erwarten? „Repräsentativer Jugendstil am Lietzensee“ habe ich mir angestrichen und steige an der Karl-Marx-Straße in die U-Bahn. Die U7 (nicht die U1) ist für mich die Linie des alten Westens, von Rudow im Südosten nach Spandau im Nordwesten. Wie auf einer Zeitreise erscheinen auch die Leute, nicht weil sie so betagt wären oder von gestern, sondern weil ich meine, in ihren Gesichtern das Leben der Stadtteile lesen zu können. Wie nirgendwo sonst in Berlin scheinen mir die Viertel entlang der U7 von Biografien gezeichnet, weil Menschen in ihnen alt geworden sind. Und das sollte ja auch der Normalfall sein, dass sich die Viertel mit den Menschen verändern, anstatt dass die Menschen ihresgleichen hinterher ziehen müssen alle paar Jahre, weil der Markt eine neue Lücke freigegeben hat.

„Repräsentativ“ ist der Jugendstil vor allem nach vorne zur Straße hin. Das „Objekt“, ich ahnte es schon, ist eine einfache Hinterhauswohnung mit Blick auf ein penibel gepflegtes Immergrüngeviert. Aber die Wohnung ist vernünftig geschnitten und fühlt sich verlässlich an. Im Gegensatz zu vielen „topsanierten“ Altbauwohnungen in Prenzlauer Berg und Mitte, wo nach vier Jahren schon wieder die Handwerker (und Anwälte) kommen müssen, sieht hier alles aus wie in Würde gealtert. Das Parkett hat sanfte Mulden, die von unverrückten Möbeln und um sie herum führenden Pfaden erzählen, und die Heizkörper sind von der bauchigen Sorte, auf die der Lack so oft nachgetragen wurde, dass sich die Rippen nun fast berühren. Was für Leute in dem Haus wohnen, frage ich den Makler und er antwortet „Bildungsbürgertum“, als wäre es eine Rebsorte. Ich nicke wissend und frage mich, ob er sich denkt: „Eben Leute wie du.“

Als ich eine knappe Stunde später in Moabit aus der U-Bahn steige, ist es schon fast dunkel. In den Bäumen an der Turmstraße klettern Elektriker herum. Hertie hat eine neue Schrift, riecht aber noch genauso schlecht nach altem Waschwasser und Chanel Egoiste. Der Makler führt mich in ein Hinterhaus. Schon am Klingeln seines Schlüsselbundes meine ich zu erkennen, dass die Sache einen Haken hat, und als er die Tür öffnet, sehe ich gleich, was es ist: in der ganzen Wohnung sind die Decken auf 2,30 Meter abgehängt und sämtliche Oberflächen mit Nut und Feder verkleidet. Je nach Phantasie (und Temperatur) wird man sich in den Windfang einer Skihütte oder in eine finnische Sauna versetzt fühlen. Wir wissen beide nicht so recht, wohin mit uns in der Leimholzzelle. Ich fahre mit der Hand über die Wand. Der Makler meint, man könne das gewiss auch herausreißen, und ich frage ihn, was denn dahinter sei. „Kabelsalat nehme ich an“, sagt er.

Drei Straßen weiter habe ich mir den nächsten Termin vermerkt. Vorderhaus, zweiter Stock. Die Dielen knarzen unter dem Schritt. Die Vormieterin steht im „Berliner Zimmer“, das murmelnde Kind in einer Tragetasche auf dem besenreinen Boden. „Ich habe gerne hier gewohnt“, sagt sie zu niemand Bestimmtem. Die Maklerin sagt, es sei ein helles Zimmer, nachmittags habe man hier direkte Sonne. Ich schaue durch das große Fenster in den Hof und rechne: westliche Straßenseite, die Wohnung liegt links, das Fenster geht also direkt nach Norden. Ich sage ihr das. Sie habe es auch erst nicht glauben können, insistiert sie, aber die Sonne scheine mittags bis an die andere Wand. Sie hält sich die Kladde vor die Brust wie einen Schild. Ich wünschte, ich hätte einen Kompass. Bevor sie mir erzählt, dass man bei Föhn das Kreuzberger Maybachufer sehen kann, verabschiede ich mich.

Als ich von der Straße noch mal hochblicke, sehe ich, wie im zweiten Stock das Licht ausgeht und durch einen blauen Schein abgelöst wird. Auch das haben sich die Makler einfallen lassen, dass blaues Licht Leerstand signalisiert. Und dass Leerstand lockt. Einen Stock darüber flackert das milchige Blau eines Fernsehers. Dort wohnt jemand.