Ein Gespräch mit Christophe Gargot über die Suche nach Gerechtigkeit in Ruanda und die Herausforderung, darüber einen Film zu machen.
Seit 1993 berät Christophe Gargot verschiedene NGO’s in Menschenrechtsfragen, insbesondere wenn diese in Krisenregionen aktiv werden wollen. Typischerweise besteht seine Aufgabe darin, das Vorhaben einer Organisation hinsichtlich seiner Relevanz und seiner Stringenz im gegebenen Kontext zu evaluieren. Ist das Ziel der Mission klar? Wird das Vorhaben der politischen und sozialen Lage in dem betreffenden Gebiet gerecht? Gargot hat sich im Rahmen dieser Arbeit auch mit Formen der „tansitional justice“ auseinandergesetzt, niedrigschwelliger, dezentraler Formen der Rechtsprechung, wie zum Beispiel den Gacacas in Ruanda, Laiengerichten, die einen kollektiven Umgang mit dem Trauma des Völkermords von 1994 ermöglichen sollen und die Hauptinstrumente für dessen juristische Aufarbeitung darstellen.
Im Rahmen eines anderen Auftrags unternahm Gargot eine Vergleichsstudie über die Rolle audio-visueller Medien in der Arbeit internationaler Strafgerichtshöfe und Tribunale. Der UN-Gerichtshof für Ex-Jugoslawien in Den Haag, die Tribunale in Kambodscha und Sierra Leone und der Internationale Gerichtshof in Arusha/Tanzania (ICTR), der zur Aufarbeitung des Völkermords in Ruanda eingerichtet wurde – stets wurde die Arbeit der Gerichte ausführlich gefilmt und archiviert, aber nach welchen Gesichtspunkten und mit welchen Zielen, für wen und zu welchem Gebrauch? Nachdem er bereits regelmäßig eine dokumentarische Kamera bei seiner Arbeit eingesetzt hatte, führten die bildpolitischen Fragen rund um die internationale Gerichtsprechung Gargot zu seinem ersten Dokumentarfilmprojekt, D’Arusha à Arusha.
Welche Rolle spielte deine Beratertätigkeit bei der Idee, einen Film über die Folgen des Genozids in Ruanda zu machen?
Es wäre falsch zu sagen, dass der Film aus der Beraterarbeit hervorgegangen ist. Am Anfang stand vielmehr eine Freundschaft. Im Jahr 1999 besuchte ich einen Freund in Arusha und erlebte bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal einen internationalen Gerichtshof bei der Arbeit. Diese erste Begegnung mit dem ICTR war eine herbe Enttäuschung. Ich hatte erwartet, dass die „internationale Gemeinschaft“ dort präsent sei – Historiker, Soziologen, Anthropologen. Aber Fehlanzeige. Es saßen ein paar Journalisten auf den Zuschauerbänken und das war’s! Und es gab auch keinerlei Konfrontation mit einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit. Ich hatte das Gefühl, dass angesichts der hohen Erwartungen, die wir in dieses Gericht hatten, hier etwas grundlegend schief gelaufen war. Als darüber nachdachte, was in diesem Saal eigentlich vor sich ging, bekam ich den Eindruck, dass das Gericht versuchte, sich vor der Außenwelt zu schützen, wahrscheinlich weil seine Ambitionen so eine schwere Bürde waren. Andererseits glaube ich, dass sie zu selbstgerecht waren angesichts ihres Status als die „internationale Gerichtsbarkeit“. Diese Selbstgerechtigkeit, gestützt durch ein solides Budget, ließ sie offenbar annehmen, dass sie niemandem wirklich Rechenschaft schuldig sind.
Du fandest bald heraus, dass die Verhandlungen gefilmt wurden und dass dieses Filmmaterial frei zugänglich ist. Wie bist du dieses Material angegangen, als du anfingst, an deinem Film zu arbeiten?
Als der Freund, den ich besucht hatte, 2000 aus Arusha zurück kam, brachte er mir ein paar Videobänder mit, von denen er annahm, sie seien interessant für mich. Das waren sie natürlich. Als ich anfing, mir die Bänder anzusehen, wurde die Frage immer drängender: ‚Was machen die da eigentlich? Warum filmen die das, was soll uns dieses Material erzählen?’ Das Rohmaterial erzählt natürlich erst mal gar nichts. Ich fing also an, das Material zu analysieren. Inwiefern dient es der Wahrheitsfindung? Welche Geschichte schreibt es? Was zeigt uns der ICTR in diesen Bildern, und was wird uns in diesem Zeigen gleichzeitig vorenthalten? Damit fing die Arbeit an.
Der Zufall wollte es, dass zur gleichen Zeit ganz Frankreich über die Mitschnitte des Prozesses gegen Klaus Barbie diskutierte, der 1987 in Lyon stattgefunden hatte. Seit 1985 erlaubte ein Gesetz das Filmen solcher Prozesse, die von nachhaltigem historischem Interesse waren. Der Barbie-Prozess war der erste, der gefilmt wurde, gefolgt von dem Touvier-Prozess und dem Papon-Prozess. Der Knackpunkt ist, dass das Gesetz, das das Filmen gestattet oder sogar anweist, gleichzeitig eine Embargozeit vorschreibt, für die diese Bilder unter Verschluss bleiben sollen. Historiker sollen erst nach 30 Jahren Zugang zu diesen Bildern haben – im Barbie-Fall wäre das 2017 gewesen -, die allgemeine Öffentlichkeit muss sogar 50 Jahre warten. Daran sieht man, welchen Wert, aber auch welche Gefahr man in Frankreich in diesem Material sah. Glücklicherweise focht ein Fernsehkanal, „Historie“, dieses Gesetz an und bekam das Recht zugesprochen, das Barbie-Material bereits vor Ablauf der 50 Jahre der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Mehr als 70 der insgesamt 185 Stunden Filmmaterial wurden daraufhin im Fernsehen gezeigt. Dies geschah etwa zeitgleich zu meiner ersten Auseinandersetzung mit dem Videomaterial aus Arusha. Meine Fragen waren damals also in aller Munde: Warum filmen wir dieses Prozesse? Und was machen wir nachher mit dem Material?
Am Anfang deines Films zeigt du vier verschiedene Szenen, vier Orte, die für vier verschiedene Formen stehen, mit dem umzugehen, was sich 1994 in Ruanda ereignete. Zunächst sehen wir die Gedenkstätte in Murambi, ein offizieller, ernsthafter, sehr öffentlicher Ort. Dann sehen wir die ersten Bilder vom Gerichtssaal in Arusha: ein geschlossener Innenraum, ohne sichtbare Außenwelt. Dann sind wir im Haus von Jean de Dieu, eines deiner Protagonisten, der sich kürzlich vor einem Gacaca als Täter zu verantworten hatte und nun auf das Urteil wartet. Und dann sehen wir das staatliche Gefängnis in Kigali. Im weiteren Verlauf wird der Film immer wieder die Vorgänge an diesen verschiedenen Orten einander gegenüberstellen, es scheint mir aber, dass es dir dabei nicht so sehr um einen vergleichenden Blick geht. Am Ende finden wir uns immer noch irgendwo zwischen diesen Orten, ohne eine klare Antwort, welcher von ihnen am ehesten die Bühne wäre, auf der Gerechtigkeit und Versöhnung ihren Auftritt haben.
So ist es. Denn es gibt diesen Ort nicht, oder vielmehr er liegt tatsächlich irgendwo zwischen all diesen Orten, die natürlich alle durch die gleiche Geschichte miteinander verbunden sind. Ich glaube, dass wir mit der Idee der Gerechtigkeit auch die Vorstellung verbinden, dass wir alle etwas gemeinsam haben. Dieses Gemeinsame legitimiert letztlich die internationale Gerichtsbarkeit von der Art, wie sie in Arusha praktiziert wird. Aber heutzutage wird um dieses Gemeinsame nicht mehr gerungen, es wird einfach postuliert. Wir sind alle Teil des Universums, also haben wir alle etwas gemeinsam – basta! Und eine Sache, die wir gemeinsam haben, ist diese Vorstellung von Gerechtigkeit. Okay, warum nicht? Ich denke aber, dass man verdammt optimistisch sein muss, um an diese Art universeller Gerechtigkeit zu glauben. Für mich besteht die Verbindung zwischen den verschiedenen Orten, die ich am Anfang einführe, nicht von selbst, sondern sie ist etwas, das wir herstellen müssen, wenn wir wollen, dass sie etwas verbindet. Diese Orte und Kontexte zu verbinden bedarf einer intellektuellen Anstrengung und ist keinesfalls selbstevident. Der Film bringt den Betrachter genau in diese Position. Er gibt ihm nicht die Lösung vor, oder zeigt ihm, wie man’s macht; er zeigt ihm nur die verschiedenen Sichtweisen auf das Thema und baut dann auf seine Fähigkeit, selber zu denken. Womit kann ich mich identifizieren, was ist mir fremd? Was bedeutet es, für eine universelle Idee von Gerechtigkeit einzutreten? Haben wir etwas gemeinsam? Und können wir uns über all das mit den Mitteln des Films verständigen?
Ich sehe eine Verbindung zwischen dieser Art, den Zuschauer in die Verantwortung zu nehmen, und einigen Reaktionen, die du in Berlin vom Publikum bekommen hast. Zwar schienen die Leute die intellektuelle Herausforderung generell zu schätzen, sie hatten aber dennoch irgendwie das Gefühl, der Film „zeige ihnen nicht alles“. Da fiel mir auf, dass wir als Publikum oft ein enorm hohes Selbstvertrauen in unseren Informationsstand haben. Wir fühlen uns gut informiert, klagen sogar über Informationsüberflutung, und suchen in einem Film daher bereits nach dem, was er uns „Neues“ erzählt. Was wir dabei aber in jedem Fall voraussetzen ist, dass wir das bestätigt bekommen, was wir bereits zu wissen meinen. Hat die Vorstellung eines „überinformierten“ Publikums für dich eine Rolle gespielt, als du an dem Film gearbeitet hast?
Nicht so sehr. Ehrlich gesagt, interessiere ich mich viel mehr für das, was dem Publikum an meinem Film fehlt, als dafür, ihnen befriedigende Antworten zu geben. Ich hatte sogar eine Riesenangst, Antworten zu geben, wie das ja viele Filme tun. Wenn ich stattdessen das Gefühl hinterlasse, dass etwas fehlt, gelingt es mir vielleicht, Fragen anzuregen. Viele Leute, vor allem solche, die sich in Ruanda gut auskennen, sagen mir: ‚Wer wird einen solchen Film verstehen können?’ Sie meinen, man solle nicht zu viel vom Publikum erwarten. Es ist mir klar, dass wir es mit einem schwierigen und sehr schmerzhaften Thema zu tun haben, aber ich bin überzeugt, dass viele Leute die unzähligen Filme satt haben, die auf einer einfachen Moral basieren und ihnen eindeutige Antworten anbieten. Sie haben es satt, für dumm verkauft zu werden.
Als ich dreizehn Jahr alt war, zeigte uns unser Geschichtslehrer Nuit & Brouillard von Alain Resnais und das war ein enormes Erlebnis für mich. Ich habe zwar nicht jedes Detail gleich verstanden, aber das Entscheidende war, dass unser Lehrer uns für mündig und fähig hielt, diesen Film auszuhalten. Eine der interessantesten Erfahrungen mit meinem eigenen Film hatte ich, als ich ihn jungen französischen Studenten zeigte. Die waren 8 oder 10, als sich diese Dinge in Ruanda ereigneten, aber der Film hat sie gepackt. Einige Filme fühlen sich genötigt, uns im Abspann noch einmal zu sagen: „Nie wieder Krieg“ oder etwas ähnliches, damit wir auch bloß die gute Botschaft nicht verpassen. Aber mit derartigen Gesten führen sie uns in Wirklichkeit weit weg von dem, worum es eigentlich geht. Es braucht Zeit, darüber nachzudenken, was geschehen ist und was wir mit all dem anzufangen haben. Da gibt es keine leichten Antworten und sie werden wahrscheinlich nicht für alle die gleichen sein. Bring erst mal die verschiedenen Aspekte zusammen, dann gebt den Leuten Zeit und Raum, um nachzudenken und ihren eigenen Weg durch das Dickicht zu finden. Zerstört vor allem nicht die Möglichkeit einer eigenen Erfahrung!
Diese Forderung wird in deinem Film in gewisser Weise auch von Jean de Dieu geltend gemacht. Du zeigst ihm das Videomaterial von den Gerichtsverhandlungen in Arusha. Wir sehen ihn, wie er sich das zuhause ansieht auf einem Fernsehbildschirm. Nach einer Weile sagt er: „Das geht mir zu schnell. Kann man die Bilder verlangsamen?“
Das ist ein sehr wahrhaftiger Moment in dem Film. Für Jean de Dieu ist es das erste Mal, überhaupt Videobilder zu sehen, und dann auch noch diese Bilder. Natürlich geht das alles viel zu schnell. Es braucht viel Zeit, um zu verstehen, was wir da sehen, worum es geht, und um dann die richtigen Fragen stellen zu können. Genau das sagt Jean de Dieu: ‚Geht das auch langsamer? Ich will mich nicht hetzen müssen, vor allem nicht, wenn Dinge in mir hochkommen, die mir den Spiegel vorhalten.’ Viele Fragen sind noch offen, aber bevor wir sie beantworten können, müssen wir ihnen erst einmal Zeit lassen, überhaupt aufzukommen. Wie gesagt, ich habe diesen Film nicht gemacht, um Antworten zu geben, sondern um mich an der Formulierung der Fragen zu beteiligen. Darin liegt der Unterschied zwischen Erinnerung als „Verpflichtung“ zu betrachten, womit ich nichts anfangen kann, und Erinnerungsarbeit. Letzteres interessiert mich und ist meines Erachtens auch das, worum es bei „Geschichte“ geht.
Die dramaturgische Herausforderung deines Films hat gewisse Ähnlichkeiten mit der, der sich Eyal Sivan mit Un spécialiste stellt, dem Film über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, der ausschließlich aus den Aufnahmen besteht, die im Gerichtssaal gemacht wurden. Ich erinnere mich an eine Bemerkung, die Sivan letztes Jahr bei einem Vortrag in London gemacht hat. Er sprach über den Wahrheitsgehalt dokumentarischer Bilder und insbesondere den Gebrauch solcher Bilder im juristischen Kontext. Er sagte: „There is no justice without a scene.“ Eine Vorbedingung für Gerechtigkeit ist die Konstruktion einer Bühne, auf der diese erscheinen kann. Daraus ergab sich für ihn die enorme Herausforderung des Filmemachers, der sich mit solchen Gerichtsaufnahmen auseinandersetzt und der in seinem Film eine Bühne herstellt, auf der Angeklagter, Ankläger und Opfer dann als solche erscheinen. Du schaffst in deinem Film verschiedene Szenen, die als solche Bühnen fungieren, und du stellst sie einander gegenüber. Kannst du etwas mit Sivans Gedanken zur Verantwortung des Filmemachers anfangen?
Ja, und wir können sogar noch weiter gehen. Was ist ein Gerichtsprozess? Eine sehr primitive Szene, die dann aber sehr komplex wird: eine Opferszene. Ein Gerichtsprozess ist stets ein Ritual regulierter Gewaltanwendung. In Europa sind Gerichtssäle in der Form eines Kreuzes angelegt, was uns stets daran erinnert, dass wir es hier mit einer Opferstätte zu tun haben. Zu einem Opfer gehören die Richter, der Ankläger, der Angeklagte und das Publikum. Das Publikum ist Bestandteil der Kreuzform der Opferstätte. Schließlich wird das Urteil ja auch „im Namen des Volkes“ ausgesprochen. Das Neue und Befremdliche am ICTR ist nun, dass das Publikum, die Öffentlichkeit, durch eine dicke, kugelsichere Scheibe von der Opferstätte getrennt ist und dadurch auf Distanz zum Geschehen gehalten wird. Insbesondere die sinnliche Erfahrung ist damit ausgeschlossen. Man hört nicht, was drinnen passiert. Man kann sich natürlich die Kopfhörer aufsetzen und mithören, aber die Stimme, die man hört, kommt aus der Übersetzerkabine. Die Öffentlichkeit wird nicht mehr als Teil der Opferszene betrachtet und das ist ein dramatischer Einschnitt gegenüber dem traditionellen Aufbau dieser Szene. Es verstümmelt die öffentliche Dimension des Prozesses. Stattdessen werden nun Filmaufnahmen zum Ersatz für die fehlende öffentliche Erfahrung dieser Rechtsprechung. Wenn man aber mit diesen Bildern arbeitet, stellt man bald fest, wie armselig sie sind und wie schwer es ist, mit ihnen etwas anzufangen, weil ihnen die natürliche Perspektive eines Zuschauers vollkommen abgeht. Wer beobachtet hier wen? Um überhaupt eine Erfahrung dieser Rechtsprechung durch diese Bilder zu ermöglichen, macht man sich dann daran, die Körperlichkeit des Ortes zu rekonstruieren, damit sich der Betrachter zu einem Teil der Szene machen kann.
Dazu hast du die Bilder, die du hattest, dekonstruiert, aber auch zusätzliche Aufnahmen hergestellt und dem Gesamtbild hinzugefügt, Interviews und beobachtendes Material, das du in Ruanda gedreht hast. Betrachtest du dieses zusätzliche Material als einen Teil des Ortes, den du „rekonstruierst“, oder würdest du sagen, dass es diesem zusätzliche Orte hinzufügt?
Ich würde sagen, dieses Material stellt den Raum her, in dem die Bühne aufgestellt ist. Indem ich die Gerichtsaufnahmen Jean de Dieu und anderen zeige, versuche ich, die fehlende Öffentlichkeit zu rekonstruieren. Das ist ein Teil der Arbeit. Der zweite Teil ist die weitgehende Dekonstruktion der Gerichtsaufnahmen im Schnittprozess. Beim Schneiden ging es mir darum, eine Dramaturgie herzustellen, wie man sie aus Gerichtsfilmen kennt. Indem ich den Betrachter in der Mitte des Gerichtssaals positioniere, gebe ich ihm die Möglichkeit zurück, eine sinnliche Erfahrung des Gerichtsprozesses zu haben. Im Rohmaterial findet sich nicht eine Aufnahme, die uns einmal den Raum in einer Totalen zeigt. Wir wissen einfach gar nicht, wo die Öffentlichkeit sitzt, wie groß der Raum überhaupt ist und so weiter.
Als Leo Hurwitz den Eichmann-Prozess in Jerusalem filmte, ließ er eine Holzwand mit kleinen Guckfenstern bauen, damit er die Kameras auf Augenhöhe installieren und so die Perspektive der Öffentlichkeit einnehmen konnte. Aus diesem Material hat Eyal dann Un spécialiste geschnitten. Hier, im ICTR, sind die Kameras an der Decke, als würden sie eine Art Gottesstandpunkt einnehmen. Das Rohmaterial ist einfach schlecht gemacht, weil der ICTR keine Ahnung hatte, wozu diese Bilder überhaupt einmal dienen sollten. Hat sich mal jemand gefragt, was es bedeutet, historisch derart bedeutsame Vorgänge zu filmen? Nein, kein Gedanke. Das Material, das in Sarajevo und Kambodscha gedreht wurde, ist noch schlechter. Ich sehe darin ein gravierendes Problem, weil ein Großteil des Rohmaterials einfach unbrauchbar ist.
Ein weiterer Bestandteil deiner Rekonstruktion der sinnlichen Erfahrung sind Originalsendungen des Radiosenders “Radio Libre des Mille Collines”. Du verwendest Archivmaterial aus der Zeit des Genozids, und zwar Sendungen von Georges Ruggiu, der später vom ICTR wegen Anstachelung zum Völkermord verurteilt wurde, und dessen Prozess einer derjenigen ist, die auch in deinem Film vorkommen. Es gibt dort eine Szene, in der wir eine besonders fanatische Hetzrede Ruggius vom April 1994 hören. Dazu sehen wir auf der Leinwand Männer, die auf einem Dorfplatz Fußball spielen. Ruggiu zitiert Macchiavelli: „Es ist besser gefürchtet, als geliebt zu werden.“ An dieser Stelle ist man unmittelbar versucht, die Bilder als eine Versöhnungsgeste gegen die Worte zu sehen: Hier sehen wir Hutu und Tutsi, wie sie 15 Jahre nach dem Völkermord friedlich miteinander Fußball spielen. Mir sind dann aber Zweifel gekommen, ob es das war, was du mit dieser Szene erreichen wolltest.
Stimmt, das war nicht meine Absicht. Natürlich ist der Gegensatz Hutu/Tutsi eine Realität, allerdings nicht so sehr eine ethnische. Vielmehr ist dieser Dualismus ein soziales Konstrukt, das „ethnische Identität“ zu einem politischen Machtfaktor werden lässt. Das war der treibende Faktor in dem, was 1990 passierte, und es dominiert auch heute noch die kollektive Wahrnehmung. Von 1990 bis 1994 gab es in Ruanda einige Leute, die sich von der Schreckensherrschaft dieses ethnischen Konstrukts befreien wollten. Sie nannten sich “Hutus moderés” und “Tutsis democrats”. Eine sehr kurze Phase in der jüngeren Geschichte Ruandas, in der es die Hoffnung gab, das Regime der ethnischen Zugehörigkeit zu brechen. Im Abkommen von Arusha 1993 fand diese Hoffnung ihren Ausdruck, aber dieses Abkommen erwies sich rasch als Scheinerfolg.
Die Szene mit dem Fußballspiel soll daran erinnern, dass wir es in der politischen Arena mit einem Spiel zu tun haben, das von Ehrgeiz und Machtgier bestimmt wird, und dass der Soundtrack, den wir dabei hören, uns sehr vertraut vorkommt. Schau, in Ruanda leben die Menschen seit Jahrhunderten zusammen im selben Land, sprechen die gleiche Sprache, haben die gleiche Kultur und die gleichen sozialen Codes. Wer hat da ein Bedürfnis nach Ethnizität? Wie in anderen Ländern auch dient die Rede von ethnischer Identität lediglich denen, die an die Macht kommen oder sich diese erhalten wollen. Ich hatte aber noch etwas anderes im Sinn mit diesen Bildern des Fußballspiels. Es ging mir auch dabei darum, dem Film eine Körperlichkeit zu geben, denn ich glaube, dass die Voraussetzung für eine intellektuelle Erfahrung eine sinnliche Erfahrung ist. Eine, die sich über Körper vermittelt, und zwar nicht nur tote Körper. Und das ist etwas, das wir tatsächlich alle gemeinsam haben.
Deine Skepsis gegenüber einer ethnischen Interpretation von Versöhnung lässt sich auch daran ablesen, wie du Jean de Dieu und seine Frau Marie Goretti zeigst. Er ist ein Hutu, ein geständiger Täter; sie ist eine Tutsi, die er nur um Haaresbreite vor seinen marodierenden Kumpanen retten konnte. Als „gemischtes Paar“, für das Versöhnung eine ganz konkrete, persönliche Herausforderung ist, wären sie doch prädestiniert, im Film zu Stellvertretern einer optimistischen Zukunftsprognose zu werden. Du hast sie im selben Raum interviewt, wir sehen sie aber nie gemeinsam im Bild. War das eine bewusste Entscheidung?
Ja. Ich habe nie vorgehabt, sie gemeinsam zu interviewen. Ich wollte eine Beziehung herstellen zu jemandem, jedem von ihnen, nicht zu etwas: dem gemischten Paar. Ich habe das Gefühl, dass wir ein komplexeres Verständnis von ihrer Geschichte bekommen, wenn wir ihnen einzeln gegenübertreten und nicht als Paar. Außerdem bezweifele ich, dass ich einen Zugang zu Marie Goretti bekommen hätte, wenn ich in Anwesenheit ihres Mannes mit ihr gesprochen hätte. Die Umstände, unter denen jemand bereit ist, zu erzählen, sind sehr fragil – sie sind es auf jeden Fall in Ruanda.
Seit dem prominenten Beispiel der Wahrheitskommissionen in Südafrika gilt es als ausgemacht, dass man in Afrika mit Gewalterfahrungen und kollektiven Traumata anders umgeht. Die Grundidee scheint zu sein, dass der kollektive Prozess nicht auf Bestrafung aus sein sollte. Das Ziel ist nicht Rache, sondern einen Weg zu finden, auch nach dem monströsesten Geschehen weiter miteinander leben zu können. Man kann die Täter schließlich nicht für alle Zeiten loswerden, Täter und Opfer werden sich vielmehr den Raum teilen müssen. Einige Kommentatoren sehen darin eine bestimmte Philosophie am Werk, die besagt: Was immer einem von uns geschehen ist, ist allen geschehen. Daher ist meine Möglichkeit auf ein Weiterleben abhängig davon, dass der andere es auch kann. Den Gacaca-Prozessen in Ruanda scheint ein solches Denken zugrunde zu liegen. In deinem Film kommen sie jedoch nur am Rande vor.
Ich finde die Gacaca ausgesprochen problematisch. Um die Idee der Versöhnung, der sie vermeintlich dienen sollen, wurde vor allem deshalb so viel Wind gemacht, damit die Bevölkerung sie akzeptiert und natürlich auch, um die internationalen Organisationen zufrieden zu stellen, die Ruanda finanziell unterstützen. Wenn man sich die Gacaca aber genau ansieht, wird man erkennen, dass sie nichts mit Versöhnung zu tun haben. Sie verkörpern eine sehr klassische, rohe Form der Rechtsprechung, die nur eine Aufgabe hat: Verbrechen an den Tutsi zu verhandeln. Bei einem Gacaca-Prozess gibt es keine Anwälte, viele Richter sind Analphabeten. Ein Verbrechen, das von einem Soldaten der RPF an einem Hutu begangen wurde, kann man vor einem Gacaca gar nicht anklagen – schon gar nicht im Nordosten des Landes, wo nach allem, was wir wissen, zahlreiche Verbrechen auch gegen Hutu begangen wurden. In vieler Hinsicht erscheinen die Gacaca daher als ein Racheinstrument. Vielen Leuten dienen die Prozesse dazu, ihre Autorität in einer Gemeinde zu festigen. Die Drohung, jemanden vor einer Gacaca anzuklagen, ist ein sehr wirksames Erpressungsinstrument.
Jean de Dieu befand sich ja in einem Gacaca-Verfahren.
Ja, aber mittlerweile wurde er frei gesprochen.
Was passiert konkret, wenn jemand vor einer Gacaca verurteilt wird?
Wenn das Urteil milde ausfällt, wird die Gefängnisstrafe in der Regel in gemeinnützige Arbeit umgewandelt. Aber wenn das Urteil drastisch ist, was häufig ist, dann wandert jemand für 10, 20, 25, manchmal 30 Jahre hinter Gitter. Erst vor einer Woche wurde eine Dame, die ich kenne, zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Und wofür? Weil sie während des Völkermords die Tochter ihrer Nachbarin nicht beschützt habe. Aber jeder weiß, dass diese Dame auch viele Tutsi vor den Mördern gerettet hat. Nun wird sie nur aufgrund der Anklage einer Nachbarin, die sie ganz offenbar nicht leiden kann, verurteilt. Schrecklich. Das geht gewaltig nach hinten los, denn es öffnet Ressentiments Tor und Tür. Was Versöhnung betrifft, bin ich der Meinung, dass uns die Gacaca auf Abwege führen.
In deinem Film zeigst du Teile des Schlussplädoyers von Raphael Constant, dem Verteidiger von Ex-General Théoneste Bagosora, einem der höchstrangigen Angeklagten. Constant bezeichnet das ICTR als ein “Tribunal der Besiegten”, nicht der Sieger. Während einer Publikumdiskussion in Berlin hast du betont, dass man erst gewinnen muss, um Recht sprechen zu können. Das Problem sei nicht, ob es sich um ein Tribunal der Sieger handelt…
…sondern wie es mit der Autorität umgeht, mit der es ausgestattet wurde.
Du kritisierst gerade die Schwäche des ICTR, nicht seine vermeintliche Stärke.
Ich denke, man muss Raphael Constant in seiner schwierigen Lage Recht geben. Er weiß, dass sein Klient kein „netter Junge“ ist, aber darum geht es ja auch nicht. Er fragt: ‚Was tun wir, damit wir alle etwas lernen aus diesem Prozess? Haben wir etwas gelernt?’ Und seine Antwort ist: ‚Nein. Wir sind kaum klüger als am Anfang. Natürlich werdet ihr Richter eine Antwort haben, natürlich werdet ihr meinen Klienten schuldig sprechen. Aber gemessen an dem, was unser Auftrag war, ist das, was wir erreicht haben, mickrig.’ Das Gericht stand tatsächlich vor einer großen Herausforderung, wenn man bedenkt, dass es schließlich Geschichte schreiben sollte. Wenn es diese Herausforderung aber nicht annimmt, tritt an die Stelle eines Lernprozesses ein ideologisches Regime. Und das einzige, was uns diesem Regime gegenüber bleibt, ist Bekenntnis oder Ablehnung.
Glaubst du, dass dieses Scheitern einmal mehr damit zu tun hat, dass auch das Verfahren vor dem ICTR der ethnischen Lesart der Ereignisse gefolgt ist?
Natürlich kann man die Verbrechen an den Tutsi nicht mit denen vergleichen, die die RPF an Hutu verübt hat. Der Maßstab ist ein anderer. Aber ein internationaler Gerichtshof muss beide Seiten betrachten, sonst ist er nicht fair. Die historische Antwort, die die internationale Gemeinschaft mit dem Mandat des ICTR formulierte, wurde nicht konsequent ausbuchstabiert. Die Schwäche dieses Tribunals ist, dass es seinem Mandat nicht voll gerecht geworden ist. Eine der stärksten Beschränkungen war der politische Druck aus Ruanda, den das Gericht jedoch offiziell verleugnete. Von Anfang an, hat die Regierung in Kigali klar gestellt, dass sie den ICTR in Arusha lediglich „toleriert“. Ruanda war das einzige Land, das sich der Bildung des internationalen Gerichtshofs widersetzte. Die Botschaft war einfach: ‘Um eure Ermittlungen zu führen, müsst ihr mit denen kooperieren, die in Kigali an der Macht sind, und das ist die RPF.’ Die erste Warnung war die Entführung von Froduald Karamira in Indien 1996 durch ruandische Agenten. Der ICTR wollte ihn in Arusha verhören. Stattdessen wurde ihm in Kigali der Prozess gemacht, er wurde verurteilt und öffentlich hingerichtet. Eins zu Null für Kigali.
In Nürnberg, 1945, war sich Robert H. Jackson seiner Verantwortung voll bewusst. Er wusste, dass das einzige, was als Beweis in Frage kommt, die Tatsachen sind. Deshalb gab es in Nürnberg so wenige Zeugenvernehmungen. Eine Zeugenaussage ist so schwach. Wenn du einen Ruander nach Arusha bringst, was glaubst du, was er dir erzählt? Etwas, das ihn zuhause kompromittiert? Natürlich nicht. Und doch basierte 80% der Beweisführung in Arusha auf Zeugenaussagen. Und glaubst du, Raphael Constant durfte alle die Zeugen vorladen, die er wollte, damit sie für Bagosora aussagten? Natürlich nicht. Glaubst du Raphael Constant bekam Zugang zu allen Unterlagen und Archiven in Ruanda, die er einsehen wollte? Natürlich nicht. Du übernimmst die Verteidigung in einem Verfahren, hast aber gar nicht die Mittel, deine Arbeit richtig zu machen. Das gleiche gilt aber auch für die Anklage. Auch die Anklage hatte nur die Mittel zur Verfügung, zu denen ihr von den ruandischen Autoritäten Zugang gewährt wurde. Das bezeichne ich als die Schwäche dieses Gerichts.
Hannah Arendt fasste ihre Erfahrung des Eichmann-Prozesses in dem berühmten Satz zusammen, sie habe “die Banalität des Bösen” gesehen. Es gibt in deinem Film eine merkwürdige Reminiszenz an diese Formulierung, als der Verteidiger von Georges Ruggiu seinen Klienten als eine „banale Person“ beschreibt und dies als entlastendes Detail verstanden haben möchte. Ich glaube, ein Grund, warum das Böse vor Gericht zur Banalität wird, liegt darin, dass das Verfahren darauf aus ist, eine individuelle Schuld nachzuweisen. Damit verengt sich die Perspektive ganz erheblich. Man fängt an mit den überwältigenden Fakten des Völkermords und am Ende hat man einen einzelnen Mann, der lediglich Fahrpläne koordiniert hat, wie es Eichmann für sich in Anspruch nahm. In deinem Film meine ich zu sehen, wie du abwechselnd verschiedene Perspektiven montierst, um den Konflikt zwischen individueller Schuld und objektivem Urteil zu verdeutlichen. Glaubst du, dass Filme – nicht nur deiner, sondern Filme an sich – ein Mittel sind, eine kollektive Erfahrung herzustellen, und womöglich so etwas wie ein kollektives Gedächtnis zu konstituieren?
Eine interessante und komplexe Frage, auf die ich aber erst mal keine Antwort parat habe. Kollektive Erfahrung- wahrscheinlich schon. Aber kollektives Gedächtnis… – ich würde sagen: Lasst uns daran gemeinsam arbeiten.
Ist es das, was du versucht hast?
Ja, in gewisser Weise schon. Ich denke, dass die kollektive Arbeit letztlich von Autoren, von Filmemachern gemacht wird. Ein Prozess kann nur einen kleinen Teil davon übernehmen. Erst muss er von einer kollektiven Erfahrung zu einer individuellen Schuld gelangen. Und dann muss er sich bemühen, diese Reduktion zu verschleiern, aber das gelingt natürlich nicht. Wir haben so hohe Erwartungen an einen solchen Prozess: die Geschichte gerade zu rücken, das soziale System zu reparieren, die Erinnerung zu berichtigen und die Schuldfrage zu klären. Das sind natürlich völlig überzogene Erwartungen an einen Gerichtsprozess. Diese Arbeit müssen Leute wie wir übernehmen, indem wir Bücher schreiben und Filme machen. Wir können Dinge miteinander verknüpfen, wir haben eine gewisse Distanz, die uns das ermöglicht. Schon an den Fragen eines Staatsanwalts oder Verteidigers erkennt man den Druck, unter dem sie stehen, eine schnelle Antwort zu produzieren. Sie können sich keine Zeit lassen und manchmal können sie nicht tiefer in die Materie eindringen, weil es ihrem Klienten schaden würde. Im Film sehen wir den Staatsanwalt, Charles Adeogun-Philips, wie er Bagosora ins Kreuzverhör nimmt. Er will eine kurze, eindeutige Antwort auf die Frage, ob Hutu und Tutsi ethnisch getrennt waren: ‚Waren sie, oder waren sie nicht?’ Er scheint zu glauben, er könne mit einer einfachen Antwort auf dieses Frage belegen, dass der Völkermord von langer Hand abgesprochen war. Ja oder nein? Auch heute, nachdem Bagosora verurteilt wurde, haben wir noch keinen einzigen Beweis, dass der Völkermord wirklich geplant war. Sieben Jahre nach Beginn des Verfahrens, das als das wichtigste galt, waren die Richter nicht in der Lage, die angenommene Komplizenschaft zu beweisen. Das zeigt, wie schwierig es ist, und dass der Prozess sein Limit erreicht hat: ein Individuum, das mit seinem Leben konfrontiert ist.
Denkst du, das ist eine strukturelle Unmöglichkeit, ein Scheitern der juristischen Szene, der Opferstätte als solcher, oder war das ein Scheitern dieses speziellen Prozesses?
Ich denke, dass es ein strukturelles Problem ist, aber ich bin ja selber noch dabei, das herauszufinden. Genau wie in Nürnberg ist es Aufgabe des Historikers, in die Archive zu gehen und sich das Material immer wieder unter neuen Blickwinkeln anzusehen und dabei Verbindungen herzustellen, die bislang vielleicht nicht gemacht wurden. Nur so entsteht ein historischer Prozess. Und dieser Prozess wird uns schließlich auch Antworten geben.