Der Stein

[Keine Erinnerung an diesen Text. Die Datei besagt, dass er im Mai 2002 geschrieben wurde.]

Eigentlich hätte es ein kurzer Spaziergang werden sollen. „Die Füße vertreten“, hatte er sich gesagt, und sich dabei vorgestellt, das Blut im Körper in Bewegung zu bringen, indem er einen Fuß vor den anderen setze. Das Herz aus seiner nachmittäglichen Trägheit herauszureißen, um den Kreislauf in Schwung zu bringen, die Zirkulation der Säfte, wie er dachte, und damit die Gedanken. Den Körper und den Kopf zu lüften, frischen Wind hereinzulassen. Er streckte sich, als er auf die Straße trat, spürte aber, dass die Anspannung nicht ganz weichen wollte, versuchte sie zu lokalisieren, griff sich umständlich über die Schulter in den Nacken und fühlte die Härte des Fleisches, unsicher ob diese dem langen Sitzen oder der Verrenkung des Armes geschuldet sei, die er vollführen musste, um die fraglichen Stellen zu ertasten. „Wer so denkt, der hat den Krampf im Kopf“, wies er sich zurecht. Folgte aber zugleich diesem Gedanken und stellte fest, dass die Verspannung tatsächlich im Kopf zu sein schien. „Ich belauere mich. Ich lauere meinen Gedanken auf, wie ein Einbrecher, der sich hinter der Tür verschanzt hat.“

Tatsächlich hatte er sich im Kopf bereits eine Route zurecht gelegt für den Spaziergang, die ihn niemals weiter als wenige Minuten vom Haus entfernen würde, ihm also jederzeit die Möglichkeit offenließ, beim plötzlichen Auftauchen eines neuen Gedankens die nächste Querstraße zu nehmen, um in kürzester Zeit wieder am Schreibtisch zu sitzen und den Gedanken in Worte einzufangen. Eine lauernde Kreisbahn. Er hatte nichts zu schreiben dabei. „Ich hätte zuhause bleiben sollen. Einen Kaffee hätte ich mir machen sollen und ein bisschen auf und abgehen. Aufs Klo hätte ich mich setzen sollen. Der Kaffee stark genug, wäre nicht ohne Wirkung geblieben. Und dann dort, die Hose zwischen den Beinen, das Blut im Kopf, hätte ich gewusst, wie weiter.“ Nun stand er an einer Ampel und starrte auf das rote Männchen, das ihm das Gehen verbot. Der Verkehr, von dem er in seiner Wohnung nichts mitbekam, war dicht. Zu dicht, um sich der ärgerlichen Weisung des Männchens zu widersetzen. Die Salatköpfe am Gemüsestand schwitzten. Leute saßen vor den Cafés in der Sonne oder im Schatten. Wie lange schon, dachte er, wie lange noch? Dort einen Kaffee zu trinken, kam ihm in den Sinn, aber jetzt stehenbleiben und sich setzen, wollte er nicht.

Weit hatte er laufen müssen, um die Stadt nicht mehr zu hören. Freien Lauf hatte er sich schließlich geben wollen, nachdem ihn die Ängstlichkeit seiner Routenplanung erschreckt hatte. Das Verschlagene daran. Kurz hatte er sich umgesehen, ob es in Ordnung ginge. Schließlich ging es nicht um das Flüchtige, das was einen Moment da und im nächsten schon wieder weg wäre. Was gut war, würde Bestand haben, dachte er und verließ die Route, die ihm längst zur Routine geworden war. Die Stadt ist groß, die Stadt ist fast alles. Man könnte an jeder beliebigen Stelle graben, und könnte tief graben und würde doch immer nur wieder Stadt finden. Er mochte die Stadt. Manchmal dachte er, sie hätte ihn hervorgebracht. Er sei ein Gedanke der Stadt, war ihm neulich in den Kopf gekommen, kurz vor dem Einschlafen ein letzter Wink eines erschöpften Tages. „Die Stadt ist ein Albtraum“. Sein Bruder war neulich zu Besuch gewesen und hatte sich im Liniennetz der U-Bahn verfahren, hatte sich in den Straßen dann verlaufen und war Leuten begegnet, die er sich scheute, nach dem Weg zu fragen, weil er glaubte, sie aus seinen Träumen zu kennen. „Die Stadt träumt uns“, hatte er ihm geantwortet, ohne genau zu wissen, was er damit sagen wollte. „Was meinst du damit?“ Er wusste es nicht.

Nun war er raus aus der Stadt. Es war kühler hier. Ein unbestelltes Feld lag vor ihm, die Straße machte einen Bogen, war gesäumt von Bäumen. Er roch den Asphalt. Er würde gehen, bis er den Asphalt nicht mehr riechen könnte. Er durchquerte das Feld, schnupperte. Die Erde roch rußig. Ob nicht Asphalt und Erde letztlich aus dem gleichen Stoff, dachte er, und den gleichen Geruch haben müssten, kam dann aber an eine Böschung und roch das Gras und legte sich. Er lag auf dem Rücken, spürte die Knubbel der Grassode durch sein Hemd, dachte an grüne Schlieren und lachte. Er wälzte sich herum, versuchte dem Druck des Bodens die Buchten seines Körpers abzulesen. Er spürte, oder glaubte zu spüren, wie sich das wirre Muster der Halme in seine Haut drückte. Man würde ihm ansehen, dass er sich auf dem Boden gewälzt hatte. Er lag auf dem Bauch. Das Kinn auf der Erde, die Arme seitlich am Körper blickte er geradeaus und sah ein paar Schritte entfernt, auf der Kuppe der Böschung einen Stein. Was sei er für einer, dachte er, wenn es ihm nicht gelänge, diesen Stein als das zu erkennen, was er war, ein Stein. Dass er nicht aufstehen werde, verordnete er sich übermütig, bevor er nicht bis zur Zufriedenheit mit diesem Stein fertig geworden sei und alles diesen Stein Betreffende gedacht und verstanden habe. Der Stein war grau, vermutlich hart, und schwer. Wie hart, wie schwer? Er konnte ihn nicht erreichen und aufstehen durfte er nicht. Hart und schwer also und beweglich nur durch eine Kraft von außen, niemals aus eigenem Willen. Ohne Willen schlechthin der Stein. Unter dem Stein die Erde ein wenig gequetscht in genau dem Maße, in dem das Gewicht des Steins dies verlangte. Zwischen dem Stein und der Erde, man wusste das, wahrscheinlich Würmer und Asseln, die Würmer ganz bleich von der Dunkelheit, die Asseln grau und rund wie ein Muttermal oder ein Bluterguss. Was noch? Eine Rückseite, die sichtbar war, aber nicht von hier aus. Der Stein müsste sich drehen, oder er selbst. Die Drehung der Erde alleine genügte nicht. Die Erde also, auf der der Stein liegt, das Weltall, in dem die Erde kreist, mein Gott und so weiter. Was noch? Der Stein konnte ergriffen und gebraucht werden. Um bei Streitigkeiten zwischen zweien den einen zum Sieger, den anderen zum Besiegten zu machen. Der Stein war härter als sein Kopf. Wie lange der Stein wohl schon dort gelegen hatte, dachte er noch, spürte aber bereits, wie die Schwere seines Körpers auf seine Lungen drückte. Ob er nun aufstehen dürfe, fragte er sich. Er stellte sich stur und starrte den Stein an. Der Stein war fertig mit ihm, aber er noch nicht mit dem Stein. Aber wann würde es genug sein mit dem Stein. Er müsse den Stein mitnehmen und sich auf den Schreibtisch legen, wie andere früher einen Totenkopf, als Mahnung, als Warnung, als albernen Schabernack, dachte er ärgerlich und stemmte sich hoch. Er klopfte sich die Hose ab, das Hemd, ein paar Halme und Krümel, und ging zurück zur Straße den Weg in die Stadt, ohne den Stein aber mit dem Gefühl im Gepäck, eine Niederlage erlitten zu haben, die er sich selbst eingebrockt hatte. Ein Kaffee hätte es auch getan.