Double Tide (2009)
von Sharon Lockhart
Während der Arbeit an ihrem Film Lunch Break (2008) ging Sharon Lockhart oft ans Meer, an die zerfranste Küste von Maine, die aus der Luft aussieht wie ein Stück Stoff, das zweihundert Jahre lang unter der Erde gelegen hat. Lunch Break ist während einer Mittagspause in der Schiffswerft Bath Iron Works gedreht und Sharon Lockhart dehnt die Fahrt durch den langen Fertigungsgang, in dem die Arbeit ruht, zu einer gefühlten Ewigkeit, an deren Ende man vergessen hat, was „Arbeit“ einmal bedeutete. Arbeit, körperliche Arbeit, und diejenigen, die sie verrichten, hat Sharon Lockhart in ihren letzten Filmen mehrfach ins Bild gesetzt. Komplementär zu Lunch Break entstand in der gleichen Werft Exit, der das Kommen und Gehen der Arbeiterinnen und Arbeiter durch das Fabriktor, den Schichtwechsel zeigt und damit in einer einfachen Geste eines der ersten Motive der Filmgeschichte mit einer der letzten großen Produktionsstätten an der amerikanischen Ostküste verbindet, die im übrigen vor allem Rüstungszwecken dient.
Sharon Lockhart lebt in Los Angeles, geboren ist sie in Maine. Sie ist mit den Gezeiten aufgewachsen, die das Wasser in die Buchten und Sunde drücken und wieder heraussaugen und die dabei eine charakteristische Küstenlandschaft geschaffen haben, die wiederum der Nährboden für die Fischerei- und Schalentierwirtschaft war, für die Maine berühmt wurde und die dort heute noch betrieben wird. Eine charakteristische Erscheinung sind die „Clammer“, Menschen, die bei Ebbe das Watt abgehen und mit den Händen oder einer Forke die etwa 30 Zentimeter tief im feuchten Sand lebenden Clams ernten, eine fleischige und ergiebige Muschelsorte, für die auf dem Markt ein hoher Preis erzielt wird. Als harte körperliche Arbeit mit eigenwilligen, vom schlickigen Sand aufgezwungenen Rhythmen und Geräuschen war das Clamming prädestiniert, zum Sujet von Lockharts nächstem Film zu werden. Bei der Recherche nach Clammern, die sich von ihr würden filmen lassen, fiel immer wieder der Name Jen Casad. Sie ist eine der wenigen Frauen in der Gegend, die ihren Lebensunterhalt vorwiegend mit Clamming bestreiten, und sie ist selber Künstlerin, zeichnet und malt das Leben an der Küste, die Fischerei, von der ihre Familie seit Generationen lebt. Es stellte sich schließlich heraus, dass Jen Casad genau gegenüber dem Hotel wohnt, in dem sich Lockhart für die Dreharbeiten an Lunch Break eingemietet hatte, in dem kleinen Küstenort South Bristol.
In Double Tide sehen und hören wir 99 Minuten lang Jen Casad bei ihrer Arbeit im Watt. Der Film besteht aus zwei knapp 50-minütigen statischen Einstellungen, die am gleichen Ort aus einer fast identischen Perspektive aufgenommen wurden. Die erste in der Morgendämmerung, die zweite in der Abenddämmerung. Während Jen Casad ihrem durch die Lage der Clams und die Fließrinnen der Ebbe bestimmten Weg folgte, war Sharon Lockharts Arbeit durch die Länge der Filmrollen in Segmente unterteilt, zwischen denen sie reg- und lautlos neben der Kamera verharren musste und dabei langsam mit den Beinen ins Watt sank. Film und Tonspur waren ausgeliefert dem, was das Licht, der Nebel und die Luft zeigen oder verschleiern, was Vögel, ferne Schiffe, Flugzeuge und Hände und Füße der einsamen Clammerin zu hören geben würden. Ganz ohne Inszenierung ging es dabei jedoch nicht zu. An drei Tagen gingen die beiden Frauen mit einem kleinen Team – einem Kameramann und einem Tonmeister – ins Watt, um zu filmen. Erst am dritten Tag hatte sich die Clammerin damit abgefunden, sich an die Begrenzungen des Bildausschnitts zu halten. Die Takes, die zu Double Tide wurden, sind an diesem Tag entstanden.
Tobias Hering
Double Tide auf der Website von Sharon Lockhart.
Ich habe Double Tide auf der Berlinale 2010 im Forum-Programm gesehen. Einige der Informationen im Text beruhen auf einem privaten Gespräch mit Sharon Lockhart und Jen Casad.