Europa 2005 27 Octobre & Corneille-Brecht

Durch die Mauer
Zu Europa 2005 27 Octobre (Cinétract) (2006) und Corneille-Brecht (2009), zwei Kurzfilmen von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

Europa 2005 – 27 Octobre und Corneille-Brecht (1), zwei Filme von Jean-Marie Straub, der erste noch gemeinsam mit Danièle Huillet. An dem zweiten sieht man dann zunächst vor allem die vertrauten Elemente, die ihn zu einer Fortsetzung der gemeinsamen filmischen Arbeit machen: der Bezug auf literarische Texte, auf Brecht im Besonderen; die Lesung, das Rezitativ als eine Form, die das Filmbild auf unkonforme Art arretiert, die zu einem Insistieren wird auf etwas, von dem Film oft nichts wissen will; der völlige Verzicht auf Be-Bilderung; das blinde Vertrauen in die Stimme und die Resonanz des sprechenden Körpers; der sichere Zugriff auf die Nervenstränge eines literarischen Erbes, um ihm diese ungeheure Auferstehung in der Gegenwart des Kinos zu verschaffen. Der andere, Europa 2005 27 Octobre, ist sinnigerweise als „Cinétract“ bezeichnet worden. Ein fünfmaliger Schwenk über die Sackgasse in Clichy-sous-Bois, in der am 27. Oktober 2005 zwei Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei in einem Starkstrom-Trafo starben. Die Bilder sind weder stumm, noch wortlos, noch sprachlos – denn es gibt zwei Texte an die Wand geschrieben und es bellt ein Hund, der etwas will oder nicht will -, und sind doch durchdrungen von der Verweigerung, sich zu irgendeiner Äußerung hinreißen zu lassen. Denn eine Äußerung, eine Replik, eine Geste, die sich in den kommunikativen Raum einschreiben würde, der hier ein vollkommen medialisierter und unfreier war und ist, würde unversehens und unverzeihlich dem, was geschehen ist, einen Sinn, einen Grund, einen Anfang geben und einen Platz in einem Argument, das zu spät kommt. Wie dieser Film.

Auch in einem Film von 1981, der schon im Titel auf das zu früh/zu spät der Rebellion reflektiert (Trop tôt, trop tard), haben Straub und Huillet eine Schrift auf einer Wand gefilmt: „Les paysans se revolteront 1976“. Es ist dort der einzige Text im Bild, dessen Motivation sich mit dem Text trifft, den zwei Stimmen lesen zu den Bildern: Engels und Hussein über die Bauernrevolten in Frankreich und Ägypten zu unterschiedlichen Zeiten. Unterschiedliche Zeiten, in denen etwas zu früh oder zu spät passierte, weshalb es wiederholt werden musste, an anderer Stelle, um auch dort zur Unzeit zu kommen. Weshalb es wiederholt werden muss. Weshalb die Sache, die Geschichte unversöhnt ist und es nicht verwundert, dass die Schrift an der Wand datiert ist: „Les paysans se revolteront 1976“. Ein einfacher Satz im futur simple, eine Revolte wird angekündigt für eine Zukunft, die einmal mehr bereits vergangen ist.

Auch dieser Cinétracte zeigt, wie jeder Film, das Vergangene. Was Kino immer macht: sichtbar machen, „was schon einmal gesehen wurde: gut gesehen, schlecht gesehen, nicht gesehen“, wie Serge Daney meinte. Auch „Europa“ ist datiert: 27. Oktober 2005. Das Datum steht aber nicht an der Mauer, hinter der Bouna Traoré und Zyed Benna starben. „27. Oktober 2005“ sollte auf dieser Mauer stehen. Die meisten, die es angeht, würden wissen, was gemeint ist. Für die anderen sollte man noch dazu schreiben: „Les exclus se sont revoltés“. Stattdessen steht da (nun, seit dem „Vorfall“, oder schon vorher? Das ist hier zumindest nicht ganz ohne Belang, denn diese Frage nach der Datierung flattert wie ein Huhn ohne Kopf um das kalte Grausen, das sich aus dem Bild erhebt): dort steht also: „STOP! NE RISQUE PAS TA VIE“ und „STOP L’ELECTRICITÉ ET PLUS FORT QUE TOI”. Es steht aber nicht einfach geschrieben, sondern es steht gezeichnet. Die Worte tun so, als stünden sie dort geschrieben, in Wirklichkeit sind sie ein Klau, oder, schlimmer noch, ein erzwungenes Sprechen, ein unter Folter erzwungener Satz, der wider Willen hervorgepresst wird in einer Sprache, die dem Erpresser nicht zusteht, die er aber braucht um auch die anderen erpressen zu können. Verräterische Worte, Verräterworte. Worte, die so tun, als gebe es zwei Verräter, dabei gibt es zwei Tote. Und Tote lügen nicht. Hätten die Polizisten die beiden Jungen erwischt, wären diese nicht hinter dieser Mauer gestorben, und dann hätten sie ihnen wohl gesagt oder von Rechts wegen jedenfalls sagen müssen: „Alles was ihr sagt, kann gegen euch verwendet werden.“ Und so ist es auch posthum geschehen. Denn „STOP! NE RISQUE PAS TA VIE“ tut so, als sei es gesprüht, hingesprayt von einem Sprayer, ein tag, ein bisschen comic style, eine nächtliche Spur, eine coole Message von einem, der’s drauf hat. Das Perfide dieses Bildes – denn es ist ein Bild, das wir sehen, nachdem es kurz ein Satz war, den wir lasen – verschlägt einem die Sprache und zunächst auch das Denken. Das Denken will nicht denken, was es denken muss angesichts dieses Bildes: dass sich das Elektrizitätsunternehmen, in deren Transformatoren zwei von der Polizei gehetzte Kinder den Stromtod starben, mit dem andernorts von Rechts wegen hingerichtet wird… – dass dieses Unternehmen sein Bedauern, seine Schuld, seine Scham, seine perfide Identität dadurch ausdrückt, dass es sich den Anschein gibt, die Sprache dieser hingerichteten Kinder zu sprechen, dass es glaubt, ihnen dieses letzte Geständnis noch entrissen zu haben und sich anmaßt zu vermitteln, was Bouna Traoré und Zyed Benna noch zu sagen hatten, als sie starben. Nehmt uns als Warnung. Andernorts hängt man Totenköpfe an solche Mauern. Hier hat man sich etwas Besonderes einfallen lassen. Hier wirbt man mit dem Tod, flirtet mit dem Makabren, wie es die Werbung ja auch sonst tut, wenn es um Strom, Gas, Autos, Fernsehgebühren geht.

Der zweite Satz steht in der gleichen heuchlerischen Ästhetik auf einer Wand etwas weiter im Hintergrund. Ästhetik: dieser kurze Film genügt, einem dieses Wort widerwärtig und auf immer verdächtig zu machen. Fünf mal schwenkt die Kamera aus der gleichen Position einmal hin, einmal zurück über diese Sackgasse, in die die beiden Jungen gerannt sind und in der sie in den Tod getrieben wurden, der hinter dieser Mauer auf sie wartete, wo jetzt, da beim Rückschwenk die Kamera noch etwas hinaus fährt über den Punkt, an dem sie begann, ein Hund zu bellen beginnt, den wir nicht sehen. Dieses Bellen wiederholt sich fünfmal, setzt mal etwas früher, mal etwas später ein, je nachdem, so denkt man, wie tief der Sonnenschlaf des Hundes war oder wie weit hinters Haus die Kette ihm erlaubt hatte, sich zurückzuziehen. Aber früher oder später bellt er. Wir sehen ihn nicht. Hätten wir dort gestanden, wo Danièle Huillet und Jean-Marie Straub wohl gestanden haben hinter der Kamera, wären wir womöglich erschrocken zusammengefahren, hätten uns umgeschaut, von wo das Bellen kommt; um sicher zu sein, dass ja noch eine Mauer oder ein Zaun uns von dem Hund trennen. Dem Schwenk merkt man ein Erschrecken jedoch nicht an, die Kamera zittert nicht, sie wird fest gesessen haben auf dem Stativ, oder wir sehen hier nur die Takes, bei denen sich die Filmenden schon längst an das Bellen gewöhnt und bereits begriffen hatten, dass dieses Bellen die Sprache ihres Filmes sein würde.

Man sieht und hört in diesem Film gleichzeitig nichts und alles, und das ist mir so noch nie passiert im Kino. Ich denke, dass dieser Film alles enthält, was Kino ist und sein kann, und dass, wer mehr verlangt, sich fragen sollte warum, und wofür dieses Mehr gut sein soll. Es ist Frühling, es ist nicht mehr Oktober, die Bäume in dieser Sackgasse blühen. Kitschig, fast obszön die rosa Blüte dieser Bäume. Jedenfalls ist jemand zu spät gekommen, um zu verhindern, dass die beiden Jungen starben. Nicht aber zu spät, um die Obszönität dieses Ortes zu dokumentieren: die Erpressung an der Wand, die Blüte, das Bellen. Die Zeit, die vergangen ist, und die gleichmütige Natur. (Eisenstein verleugnete diese Gleichmütigkeit der Natur, um ihre Verwendung für den Film zu legitimieren: als Bestandteil einer Dialektik, die ganz im Dienste des Menschen stehen könne. Ist aber diese Ehrenrettung der Natur nicht kompromittiert dadurch, dass er sie 1936/37 unter der Bedrängnis äußert, mit seiner Anhänglichkeit zur Natur andernfalls als konterrevolutionär zu gelten? Nicht dass Straub/Huillet nicht unter Bedrängnis gestanden hätten mit ihren Filmen, und mit einem solchen im Frühling 2006 in Paris vielleicht ganz besonders.) Die Gleichmütigkeit der Natur: die Bäume, die nicht anders können, als zu blühen im Mai, und der Hund, dem es „im Blut liegt“ zu bellen, wenn sich auf der Straße etwas tut, sie wirken hier tatsächlich als dialektischer Gegensatz: nicht zu dem menschlichen Leid, das der selbe Ort im Herbst davor erlebt hat, sondern zu der verspäteten Empörung und der aufwallenden, einsamen Revolte des Betrachters im Morgengrauen einer Bewusstwerdung, die sich eingestehen muss, zu spät zu kommen. Es sei denn, sie will sich anmaßen, die Tode der beiden Jungen in einer anderen Zeit, Jetzt, mit einem komplexeren „Sinn“ zu verrechnen. Das wäre bereits das Argument, die Rede, der sich Straub/Huillet hier entziehen und daran erkennt man die unerbittliche, aber keineswegs „mächtige“, sondern am Rande des Nervenzusammenbruchs sich haltende Ethik dieses Films.

Beide Filme als Dokumentarfilme sehen. Als reine und radikale Dokumentarfilme, auch in dem etwas banalen Sinn, in dem alle Filme einfach das dokumentieren, was vor der Kamera sich abspielte. Aber nicht eigentlich in diesem Sinne, denn es ist ja auch längst nicht nur das vor der Kamera liegende, was ein Film dokumentiert, sondern vielmehr noch, viel größer noch ist das Feld, das nicht vor der Kamera, außerhalb des Bildfelds liegt, im hors-champ. Und in der Arbeit von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub richtet sich das Zeigen des Filmes vor allem auf das, was nicht im Bild ist, und auf die Gründe und Umstände, die es daran hindern, ins Bild zu treten und sichtbar zu werden. Europa 2005 – 27 Octobre dokumentiert dann also das Hintreten vor diesen Ort, an dem zuvor zwei Jungen starben. Gleich ist man versucht zu sagen: ein Ort, dem man das Ereignis nicht mehr ansieht. Aber das stimmt nicht, denn man sieht in gewisser Weise alles. Auch ohne die Schrift an der Wand, aber mit dem Wissen, um das Ereignis, würde man hier viel sehen, aber so sieht man alles. Das Zuspätkommen wird hier unweigerlich auch dokumentiert.

In einer Filmographie könnte der Film so aufgeführt sein: „Europa 2005 – 27 Octobre (2006)“. Der fünfmal wiederkehrende Titel scheint zwar zu insistieren, dass die Zeit still steht, aber gleichzeitig sehen wir, dass sie es nicht getan hat. Die Natur, die Bäume verraten es, die gleichmütige Natur, die nicht anders kann als Blüten schlagen im Mai. Ein bisschen scheint es, als schämten sich die Bäumchen ihrer rosa Pracht, aber beim nächsten Schwenk: ist es nicht vielmehr so, als verzögen sie keine Miene, wie man es von denen kennt, die von Berufs wegen das Grauen auszuhalten haben, dem sie sich zum Handlanger machen? Himmler: „Die Tausend Leichen liegen sahen und anständig blieben.“ Aber der Ekel, der mit diesem Satz schon wieder aufsteigt, ist eher dem verwandt, den die hingesprayten Sätze erzeugen. Die Einreihung der Täter in die Ränge der Zuschauer. Man kommt nicht raus aus diesem kurzen Film, diesem lächerlich kurzen Filmchen, in dem sich nichts zuträgt außer einem fünfmal wiederholten Kameraschwenk und einem Hundebellen, das man dann schon kennt. Dokumentarfilm aber gerade deshalb, weil man aus ihm nicht rauskommt, weil er zu einer Möbiusschleife wird. Er hat kein Ende, weil er keinen Anfang hat und weil er nicht versöhnen will mit der Abwesenheit, der Ungleichzeitigkeit, oder gar dem Tod. Für einen kurzen Moment ahnt man, welches Risiko das Leben ist, von dem man leichthin und blasiert sagt, es sei nichts als ein langes Sterben: immer wieder dieser Schwenk über diese Sackgasse und die Spuren einer Gewalt, die lange vorher da war, die niemals ruht und die nicht satt wird an uns. Und mit der man sich deshalb nicht an einen Tisch setzen sollte. Ein Dokument, schließlich und vor allem, dieser Verweigerung, dieses Weitergehens in eine Sackgasse, durch die Wand mit der Lüge darauf. Sich auf keinen Dialog einlassen mit der Macht, die diese beiden Jungen getötet hat, immer wieder.

Corneille-Brecht (Jean-Marie Straub, 2009)

In dem anderen Film gehen durch die Wand die Sklaven, die den Heldenfries des Popanz Lukullus schleppen und die „nur so weniges trennt von den Toten“: „Aus dem Leben in den Tod/ schleppen wir die Bürde ohne Weigerung…/ Und so gehn sie durch die Mauer./ Denn die nichts zurückhält,/ hält auch diese Mauer nicht zurück.“ (Das Verhör des Lukullus, 8. Szene) Auch dieser Film ein Dokumentarfilm. (Endlich raus aus dieser Sackgasse in Clichy-sous-Bois, in der ich mehr zu sehen anfing, als ich wissen wollte. Was für ein Name auch: Clichy-sous-Bois, unweigerlich noch einmal die Erinnerung an die blühenden Bäumchen und das Bellen des Hundes.) Corneille-Brecht habe ich gesehen als einen Film über/gegen das, was sich „USA“ nennt und als solches Fantasie und Realität okkupiert hält. Ein kurzer Text von Corneille: die Verfluchung Roms durch Camille aus „Horace“. Dann ein längerer von Brecht: der fast vollständige Text des Hörspiels „Das Verhör des Lukullus“, in dem das Totenreich dem römischen Reich den Prozess macht. Verfluchung und Verhör, beide vorgetragen von einer Frau (Cornelia Geiser). Polyphonie: einmal mehr der Körper, selbst sitzend, ein Resonanzboden der Geschichte und der vielen Stimmen, die sich scheinbar widersprechen. Zwei Einstellungen: die eine am französischen Balkon auf den Innenhof eines großbürgerlichen, städtischen Wohnensembles, die andere auf einen Sessel in einer Zimmerecke neben einer Gardine, durch die wechselndes Tageslicht fällt, da die Aufnahmen in mehreren Takes gemacht wurden. Die einzige sonstige Veränderung im Bild ist die Garderobe der Vortragenden. Den Brecht-Text liest sie vor, nachdem sie die Verwünschung Corneilles frei proklamiert hat.

Der Film ist mit 2009 datiert. Wenig bis nichts, was man sieht, hat etwas mit dem Text zu tun, der da vorgetragen wird. Das stimmt nicht, kann niemals stimmen, denn es hieße zu wissen, dass es das gibt: etwas hat mit etwas anderem zu tun, und mit etwas ganz anderem dafür nicht. Das gibt es nicht, hinter dem Film, außerhalb der Bilder. Diese Bilder, etwas über 20 Minuten lang, und diese Texte gehören also zusammen. Wie gesagt, ich habe Corneille-Brecht als einen Film über/gegen die USA gesehen, und es ist klar, dass die Brücke zu dieser Übertragung das Wort „Rom“ war. Damals (so mein Gedanke, dabei ist es kaum drei Jahre her) war es gängig, die USA mit Rom, dem Imperium zu vergleichen und dessen Niedergang zu evozieren. Auch eine Beschwörung, eine Verwünschung wie die von Camille, mit dem Unterschied, dass es nun scheinbar genügte, „Rom“ zu sagen, um dem US-amerikanischen Imperium den Ruin zu wünschen. Da kommt die Zeit ins Spiel der Sprache: was ein jeweiliges Publikum sich denkt dabei, was es weiß und was es vergessen hat. Aber auch bei Corneille schon und bei Brecht erst recht spielte die Übertragung eine Rolle, die unausgesprochene Analogie. Das, was sich ohne zusätzliche Worte vermittelt, weil es hinein gesagt wird in einen Raum, den alle teilen, weil sie müssen. Serge Daney sagte etwas Ähnliches einmal über die Bilder: sie seien das, was nicht eigens gesagt werden muss. Corneille-Brecht ist nicht etwa eine Widerlegung dieses Gedankens, sondern seine Bestätigung ex negativo, denn auch hier, gleichsam von der Kehrseite her, geht es darum, dass Bild und Sprache einander nicht bedürfen, um als das legitimiert zu sein, als was sie uns begegnen. Die eine Seite offen zu lassen (hier also: keine Bebilderung), ist vielmehr gerade das, was den Film legitimiert als etwas, das uns begegnet, denn erst in dieser Öffnung kann eine Begegnung stattfinden, das Eintreten in eine Erfahrung: was einen Film zu sehen erst zu einer Handlung macht, die sich unterscheidet vom Glotzen. Nicht wenige Filme wollen beglotzt werden, wenige Filme wollen so gesehen werden wie dieser hier von Straub. Ein Sagen ohne Pause und ohne Bilder, die das Auge wandern ließen oder, andersrum, ihm das unstete Wandern abnähmen. Die Bewegung der Bilder und die des Blicks sind ja umgekehrt relational. Meist, wenn die Bilder flitzen, ist das Auge arretiert, baff glotzt es dann oder lässt sich mitreißen, wie man sagt. Wenn aber das Bild verharrt, beginnt das Auge rumzuflitzen und sich zu zerstreuen. Als suche es einen Ausweg aus dem Bild und gibt doch keinen, solange nicht die Einstellung sich ändert. Und wenn sie sich dann ändert, hat die Leserin nur eine andere Bluse an.

Da wird also was angehalten und festgehalten, das Schauen verlangsamt. Um diese Verlangsamung geht es, die das Zuhören ermöglicht, weil sich die Aufmerksamkeit um die Stimme schart wie um ein Feuer, weil es ja das Feuer, das die Bilder für gewöhnlich bieten, hier nicht gibt. Es geht also um Zuhören, einer Geschichte zuhören und sich vorstellen, was erzählt wird, ein Bild machen und noch eines. Zwei Bilder, Montage, Film. Film ist also, was hier geschieht allemal, und dokumentarisch ist es nun nicht nur in dem Sinne, dass es die private, deprivierte Situation zeigt, in der sich die Sprache und damit auch der Widerspruch befindet gegenüber den Bildern. Die Situation, in der wir uns befinden: in Räumen in Städten, im Kino – angesichts der Kriege die das Imperium (das kein amerikanisches mehr ist alleine) in Nordafrika, Südamerika und Afghanistan führt, in anderen Räumen anderer Städte, von deren Kinos man gemeinhin wenig weiß. Ein Dokument also dieser Aufteilung des Sichtbaren und dieser Politik der Orte und der Distanzen. Ein Dokument aber auch, weil es über die Analogie Rom-USA und über die Grammatik des Prozesses und der Evidenzen daran erinnert, welche Rolle Bilder, wenige mit unlauteren Absichten fabrizierte Bilder zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt spielten, als das Imperium sich genötigt fühlte, den Rest der Welt, den es trotz allem ja auch noch gibt, davon zu überzeugen, dass eine Achse des Bösen bestehe und wo auf dieser Achse Massenvernichtungswaffen gelagert würden. Das spielt hier eine Rolle, spielt hier hinein, und wie töricht wäre es, Straub oder diesem Film vorzuwerfen, er bleibe uns ein Bild schuldig. Vielmehr macht dieser Film angesichts und im Schatten dieser falschen Bilder und dieser betrügerischen Beweisführung von Colin Powell das einzig richtige und denkbare und verweigert einmal mehr der Macht den Dialog. Und sei er auch ein noch so unflätiger, der Dialog würde dieser Macht eine Ehre erweisen, die ihr nicht zusteht. Verweigerung also, insbesondere als Filmemacher und Bildproduzent, dem es von Rechts oder Berufs wegen zugestanden hätte, den schlecht gefälschten Bildern Powells ein paar satte, saftige „Wahrheiten“ aufzutischen; jetzt, wo sich die Bilder längst überschlagen haben und alles Amok gelaufen ist (vor ein paar Tagen ist ein US-Soldat in Kandahar Amok gelaufen und hat 16 Menschen in ihren Häusern erschossen.) Ein Dokumentarfilm also, in dem es sehr präzise um die Details einer gefälschten Beweisführung geht und um die Frage, wer die Bilder kontrolliert, wer das Recht hat, wer im Recht ist und mit wem sich die Zeit solidarisch erklärt. Ein Film über eine Zeit, die nicht stehen geblieben ist, sondern die aus den Fugen geraten ist, und über uns hinwegmarschiert, so dass man, wenn man sich seines Innehaltens bewusst wird, wie in diesem Film, spürt, wie einen dieser Satz dann trifft wie ein Pfeil aus der Vergangenheit, an dem die blutigen Lumpen der Geschichte hängen: „Von ihnen kann man sagen, dass sie nur beinahe leben.“ (Das Verhör des Lukullus, 7. Szene) Das wird von den Sklaven gesagt. Also von uns, die wir durch die Mauer gehen.


1 – Einige der aufgeführten Details zu den Filmen entnehme ich dem Programmtext von Markus Nechleba zu einer Straub/Huillet Filmreihe im Filmmuseum München im Januar 2011. Ich selber habe diese Filme erstmals im Regenbogenkino in Berlin im März 2012 gesehen.