Eine Rübe, die es nicht gibt
Die Unschuld der Nachgeborenen und das Überleben mit den Erinnerungen der Anderen
Augenblicklich, so scheint mir, geht es in der Beschäftigung mit der Nazizeit und der „Einzigartigkeit“ deutscher Geschichte darum, wie die zweite Nachkriegsgeneration mit ihrer Unschuld umgeht. Uns, den in den 60er und 70er Jahren Geborenen, kann man eine Schuld für die Verbrechen der Nazizeit nur noch unter Berufung auf eine religiös konnotierte Erbschuld oder die Ontologie einer Kollektivschuld zuschreiben. Beides scheint mir wenig hilfreich für ein streitbares Verständnis von geschichtlicher Kontinuität. Aber folgt daraus im Rückschluss tatsächlich, dass wir unschuldig sind, und wenn ja, wäre diese Unschuld dann etwa unproblematisch? Nach Jahrzehnten der schulmeisterlichen Aufarbeitung der „Nazigräuel“ scheint meine Generation nun vor die bequeme Wahl gestellt, entweder „die Toten ruhen zu lassen“, oder die eigenen Kinder zum Picknick in die „Gedenkstättenlandschaft“ zu führen, die uns unsere Eltern als ein begehbares Gewissen hinterlassen haben.
Aber wie bequem ist der Abstand wirklich, den die Zeit uns gewährt? Ich empfinde keine persönliche Schuld für die Verbrechen, die das nationalsozialistische Deutschland an der Menschheit und dem Menschsein begangen hat. Andererseits bewirkt die Auseinandersetzung damit jedes Mal eine solche Abscheu und Verstörung, dass mir die Vorstellung eines „unschuldigen Deutschen“ für immer desavouiert und sogar obszön erscheint. Die Ungerechtigkeit, die sich darin manifestiert, die Rückkehr eines der „Fairness“ widersprechenden Schuldbegriffs, erscheint mir wiederum ihrerseits als eine Spätfolge dessen, „was niemals hätte passieren dürfen“ (Hannah Arendt). Indem es aber doch passiert ist, sind Welt, Sprache und Moral gewissermaßen aus den Fugen geraten, und es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass „mehr als 60 Jahre nach Kriegsende“ wieder alles in bester Ordnung sei. Viel wahrscheinlicher scheint mir, was Giorgio Agamben vor einigen Jahren in seiner Schrift Was von Auschwitz bleibt als „die Lehre von Auschwitz“ entwickelt hat: „Der Mensch ist derjenige, der den Menschen überleben kann.“ Wem steht dieses Überleben an und wie verhält es sich dabei mit der Unschuld der Nachgeborenen?
Primo Levi hat die Annahme einer „deutschen Kollektivschuld“, die ihm als einem Auschwitz-Überlebenden eilfertig angetragen wurde, stets abgelehnt, weil er in ihr den schlecht kaschierten Versuch der deutschen Mehrheit erkannte, sich Fragen nach persönlicher Schuld zu entziehen und sich das Schweigen zu bewahren, das sie während der Nazidiktatur erlernt hatten. Das aktuelle, längst in der „Mitte der Gesellschaft“ angekommene Begehren nach einem attraktiveren, deutschen Lebensgefühl und einem „gesunden Patriotismus“ profitiert nun davon, dass Leuten wie Levi damals der Respekt verwehrt wurde und sich das Projekt Kollektivschuld in beiden deutschen Staaten durchsetzte. Indem das Gedenken damit unter gefälschten Vorzeichen stattfand, fällt es den Heutigen umso leichter, einen „unverkrampften“ Umgang mit der deutschen Geschichte zu fordern und deren „dunkle Jahre“ der Denkmalpflege zu überlassen.
Es widerstrebt mir, mich diesem viel zu nahe liegenden Aufbruch anzuschließen, und dieser Text entsteht auch aus der Verunsicherung, die diese Weigerung in mir bisweilen auslöst. Auf welche Stimmen horche ich? „Nachts mahlen die Kiefer unter der schweren Verzugslast der Träume / Und kauen eine Rübe, die es nicht gibt. / Zurück, ihr Untergegangenen, weg von hier, / Geht wieder. Niemanden habe ich verdrängt, / Niemandes Brot habe ich an mich gerissen, / Niemand ist statt meiner gestorben. Niemand.“ Welches Recht hätte ich, in dem Konflikt, den Primo Levi in seinem Gedicht „Der Überlebende“ austrägt, den meinen gespiegelt zu sehen? Wie könnte mich etwas über die Zeiten hinweg mit jemandem verbinden, der Auschwitz überlebt hat? Aber ist nicht die Schuld, um die mein Gefühl der „problematischen Unschuld“ kreist, genau die Rübe, die Levi hier kaut, und von der er sagt, dass es sie nicht gibt? Wäre es gar meine Pflicht, es so zu sehen?
Eine der beunruhigendsten Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit der deutschen Vernichtungspolitik ist ja, dass ausgerechnet diejenigen, die der Vernichtung knapp entkommen sind – und nur sie -, von der „Schuld der Überlebenden“ gesprochen haben. „Man kann das Konzentrationslager nicht überleben, ohne sich schuldig zu fühlen“, schrieb etwa Bruno Bettelheim, der 1938/39 in Dachau und Buchenwald interniert war. Aber gerade dieses paradoxe Gefühl wendet sich in ihm, dem Überlebenden, zu dem, was uns zu „humanen Menschen“ macht: die Fähigkeit sich schuldig zu fühlen, zumal dann, wenn man objektiv gesehen nicht schuldig ist. Die scheinbar tautologische Formulierung „humane Menschen“ deutet den Riss an, der durch das Menschsein geht und der darin auch dem Nicht-Menschen und dem Un-Menschen einen Platz einräumt. Für Giorgio Agamben ist dieser Riss genau das, was durch Auschwitz sichtbar wurde. Der Nationalsozialismus hat Nicht-Menschen und Un-Menschen produziert. Die Nicht-Menschen sind die „lebenden Toten“ in den Vernichtungslagern, diejenigen, die „mehr aushalten mussten, als ein Mensch aushalten sollte“ (die Auschwitz-Überlebende Grete Salus). Die Un-Menschen sind diejenigen, die „1000 Leichen liegen sahen und dabei anständig geblieben sind“ (Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943). Alle diese Zeugnisse handeln von dem, was Levi „die Scham, die die Deutschen nicht kannten“, genannt hat, die Scham, „die der Gerechte empfindet vor einer Schuld, die ein anderer auf sich lädt und die ihn quält, weil sie existiert, weil sie unwiderruflich in die Welt der existenten Dinge eingebracht ist und weil sein guter Wille nichts oder nicht viel gilt und ohnmächtig ist, sie zu verhindern.“
Ist es die Scham, die die Nachgeborenen mit den Überlebenden verbindet, und was wäre damit gewonnen? Es scheint mir jedenfalls nahe liegender, auf der Suche nach der Unschuld mich mit den Überlebenden ins Benehmen zu setzen, als mit den Nachgeborenen, die mir das Schuldgefühl mit „Du bist Deutschland!“-Kampagnen auszutreiben versuchen und mir weismachen wollen, eine Fußballweltmeisterschaft könne den Sommer der Liebe nachholen, den es hierzulande ja auch nie gegeben hat.
Aber auch Nachgeborene können Überlebende sein. Ein Überlebender ist etwa der 2001 verstorbene Schriftsteller W.G. Sebald, der Deutschland in den 60er Jahren den Rücken kehrte und dann von England aus Bücher schrieb, die sich alle mit dem Erinnern und dem Vergessen auseinandersetzen, mit der Flucht und der Unmöglichkeit der Rückkehr und mit dem, was nach alle dem kommt und aus dem Leben ein Überleben macht. Als ein Unschuldiger, der auf seine Unschuld verzichtet, ohne sich den Pathos der Schuld anzulegen, hat Sebald Deutschland zu seinem Leben werden lassen und es sich im Exil hinweg geschrieben. „Sollte man wirklich in irgendeiner gar nicht denkbaren systematischen Form berichten, was an so einem Tag geschehen war, wer genau wo und wie zugrunde ging oder mit dem Leben davonkam, oder auch nur wie es auf dem Schlachtfeld aussah bei Einbruch der Nacht, wie die Verwundeten und Sterbenden schrieen und stöhnten, so brauchte es dazu eine endlose Zeit.“ Diese Bemerkung aus seinem letzten Roman „Austerlitz“ über den 2. Dezember 1805, die Schlacht von Austerlitz, beschreibt das Terrain, in das sich Sebalds Schreiben eingetragen hat, und es scheint mir klar, dass er in dieser endlosen Zeit gelebt hat. An ihn denke ich zuerst, wenn ich versuche, mir gegen meine Widerstände einen „unschuldigen Deutschen“ vorzustellen.
Zeugnis des Überlebens eines Nachgeborenen ist auch das Buch Am Beispiel meines Bruders von Uwe Timm. Seine aus Tagebucheinträgen, Briefen und Erinnerungen zusammen getragene Familiengeschichte kreist um das verschlossene Zentrum des toten Bruders, der als Freiwilliger der SS-Totenkopfverbände in Russland war und von dort nie zurückkehrte. Der besondere Zusammenhang zwischen Überleben, Zeugnis und Schreiben wird in dem folgenden Geständnis deutlich: „Solange die Mutter lebte, war es mir nicht möglich, über den Bruder zu schreiben. Ich hätte im Voraus gewusst, was sie auf meine Fragen geantwortet hätte. Tote soll man ruhen lassen. Erst als auch die Schwester gestorben war, die letzte, die ihn kannte, war ich frei, über ihn zu schreiben, und frei meint, alle Fragen stellen zu können, auf nichts, auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen.“ Der Verlust des Zeitzeugen, dem er noch Fragen hätte stellen können, und auch die zweifelhafte „Freiheit“, auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen, müssten Timms Schreiben auf den ersten Blick kompromittieren. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass dieser spezifische Befreiungsschlag die Reaktion des „Nachkömmlings“ (so nannte der Vater den später geborenen Sohn Uwe) auf das Klima aus Schweigen, Verdrängung und vorgefertigten Sätzen war, in das er hinein geboren wurde und das ihn geprägt hat. Das Überleben ist kein „glückliches Davonkommen“, sondern ein die eigene Identität und Stimme durchziehender Schnitt.
Beide Autoren, Sebald und Timm, machen ihr Schreiben zu einem Feld, in das sich das bislang Ungesagte einschreiben kann. Sie scheinen zu wissen, dass andere in ihnen leben und überleben, und dass deshalb der bloß chronologische Vermerk, dass jene vor ihnen verstorben sind, nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass ihr Schreiben auch eine Form ist, sich selbst zu überleben. „Noch immer arbeite ich – ja, arbeite – an seinen Wünschen“, schreibt Uwe Timm auf der letzten Seite seines Buches über das Verhältnis zu dem längst verstorbenen Vater, der als ehemaliger Freikorpsler und späterer Wehrmachtsoffizier wie der Bruder unmissverständlich der „Tätergeneration“ zuzurechnen wäre, sofern man diese Rechnung aufmachen will. In der Nachkriegszeit machten wirtschaftlicher Misserfolg und Deklassierung den Vater zum Hochstapler, Kreditpreller und Lästermaul. Durch all das hindurch ist er ein beständig Schweigender, schließlich „Totschweigender“ geblieben, wie Uwe Timm schonungslos zu Papier bringt. Eine Biografie, in der sich das Motto der Freikorps, semper talis, „immer vorzüglich“, mit dem Nachkriegscredo „Das haben wir nicht gewusst“ zu der Barriere verklammerte, hinter der sich die „kollektive Identität“ gegen jegliche individuelle Verantwortlichkeit verschließt. Und dennoch: „Ich arbeite an seinen Wünschen.“
Zu einer Umarmung des toten Vaters, aber ganz anders, setzt auch Hanno Rauterberg in einem jüngst erschienenen Leitartikel in der „Zeit“ an. Unter dem Titel „Verliebt in die Zweifler“ fragt er nach den Ursachen der „bezifferbaren Liebe“ der Welt für deutsche Kunst. Er bittet dabei gleichsam zur Anprobe für die weiße Weste, in die sich die Leinwände der jungen deutschen Künstler für alle Deutschen verwandeln sollen. „Es fühlt sich noch recht ungewohnt an“, so beginnt der Artikel. „Nach Auschwitz, nach all den Kriegen, nach einem barbarischen Jahrhundert sollen nun ausgerechnet wir es sein? Nicht die Franzosen, die Italiener, Amerikaner, nein, uns soll die Welt lieben wollen?“ Von deutscher Kunst sei die Rede, „nicht von der deutschen Nation“, heißt es sogleich beschwichtigend, allerdings erfüllt dieser Einschub genau die entgegensetzte Funktion, nämlich gerade von „der deutschen Nation“ zu reden. Wie anders ließe sich auch das „wir“ einfangen, das den Text wie ein Lockvögelchen durchflattert, wenn wirklich nur von deutschen Künstlern die Rede wäre? Nein, er meint es schon so, wie es da steht: Die Welt liebt Uns – nicht trotz, sondern gerade wegen „Auschwitz“ und „all den Kriegen“. „In einer Welt, die immer uniformer, immer austauschbarer wird“, so weiß Rauterberg, sei der Künstler zum „neuen Rollenmodell“ geworden: „Er muss nicht diszipliniert sein, braucht keinen Regeln zu gehorchen, er schert sich nicht um die Normalwelt und findet gerade deshalb deren Bewunderung. Er treibt nicht an der Oberfläche, sondern geht in die Tiefe. Er hört auf sein Inneres, er hat die Geschichte auf seiner Seite.“ Lediglich erwähnt sei hier die Tatsache, dass diese Beschreibung für die meisten real existierenden Künstler eine unerträgliche Romantisierung ihrer faktisch prekären und höchst konfliktreichen Existenz darstellt. Folgen wir aber einstweilen dem Trüffelschwein Hanno Rauterberg, denn er weiß, wo er hin will: „Mit dem Verlangen nach Tiefe, Innerlichkeit, Geschichte sind wir zurück bei den Deutschen. Bei denen, die oft als Tiefengründler und Geschichtsgrübler gelten. Immer schon haben diese Deutschen versucht, was heute viele Menschen versuchen: das Ureigene zu ergründen.“ Natürlich könnte ich mich dieser geschichts- und identitätsklitternden Zuschreibung entziehen, indem ich für mich in Anspruch nehme, nicht mitgezählt zu werden. Aber was mache ich dann mit der eigenen „Geschichtsgrüblerei“? Hände weg in Zukunft oder nur noch heimlich? Wer in diesem „wir“ nicht mitmachen will, verpasst jedenfalls den pan-germanischen Maskenball, bei dem sich die Deutschen zu neuen Höhen aufschwingen und sich „Auschwitz ist sexy“ auf die Brust drucken lassen: „Viele stören sich nicht länger daran, dass Deutschland seine Eigenheiten hat“, schreibt Rauterberg, „seine Geschichte, eine Geschichte der Denker und Henker. Im Gegenteil: Man weiß es zu schätzen.“ Viel ist geschrieben und gesagt worden über das Verhältnis zwischen deutschem Idealismus und deutschem Faschismus, aber noch nie hat es meines Wissens jemand derart perfide auf die Formel „Denker und Henker“ gebracht. Was die Deutschen der Welt geben können, ist nun klar: „Geschichte wünschen sich viele, als ein Gegengift gegen die Digitalisierung und Globalisierung. Die Deutschen bieten dieses Gegengift: Sie heben sich ab vom Uniformen und Austauschbaren durch ihre spezifische Geschichte. Und wer ihre Kunst kauft, scheint auch etwas von ihrer Unverwechselbarkeit, ihrer Tiefe zu erwerben.“ Alles ist wieder da und fast möchte man sagen: in den Grenzen von 1938. Die Tiefe, das auserwählte Volk, das Sendungsbewusstsein, der Mythos eines deutschen Wesens, an dem einmal mehr, endlich und nun aber richtig, die Welt zu genesen habe: „So gesehen, ist die deutsche Identität zur Identität der Welt geworden.“ So endet der Artikel. Ja, so gesehen. Die Scham, die die Deutschen nicht kannten…
Dem Topos des „Ausnahmefalls Auschwitz“, in dem die Sprache als Medium der Zeugenschaft versagt habe und der deshalb für immer unverstehbar bleiben müsse, hält Giorgio Agamben entgegen, dass „der Übergang von der Sprache zur Rede“ stets ein „paradoxer, Subjektivierung und Entsubjektivierung zugleich einschließender Akt ist“. Bereits die elementarste Geste des Sprechens, nämlich sich selbst in der ersten Person Singular als „ich“ zu identifizieren, bedeutet ebenso sehr eine Inanspruchnahme der Sprecherautorität, wie einen Verzicht auf das Subjektsein in der Identifizierung mit einer bloßen sprachlichen Geste: „ich“ referiert lediglich auf die jeweilige Rede und hat darüber hinaus keinerlei Inhalt, in dem sich etwa meine Individualität abbilden könnte. Für Agamben markiert sich an diesem Paradox nun aber nicht die Unmöglichkeit des authentischen Zeugnisses, sondern gerade seine Möglichkeit. Gerade die Gleichzeitigkeit von Subjektivierung und Entsubjektivierung in der Sprache macht das Zeugnis möglich als etwas, in dem ein radikal singuläres Ereignis mittels der verallgemeinernden Sprache von einem Zeugen an einen Zuhörer weitergegeben wird. Die damit verbundene Erfahrung, dass die eigene Rede zur Stätte des Anderen wird, dass durch mein Reden der Zuhörer in gewisser Weise ein Stück weit in mich übergeht und dort auf den Zeitzeugen trifft, den wir beide überlebt haben, dieses komplexe Verständnis eines Redens über „die Geschichte“ drückt sich in den Zeugnissen derer aus, die die deutschen Konzentrationslager überlebt haben, und sie ist auch das treibende Motiv für das Schreiben von W.G. Sebald und für die Bewusstwerdung, die Uwe Timm am Beispiel seines Bruders gelingt. Sie ist auch aufgehoben in der Praxis der Oralité, der mündlichen Überlieferung, für die der aus Burkina Faso stammende Historiker Joseph Ki-Zerbo die folgende Faustformel formuliert hat: „1960 kann eine 80jährige Person Zeugnis ablegen über Ereignisse, die sich um 1830 zugetragen haben, wenn sie im Alter von 15 Jahren, also 1895, den Erzählungen ihres Großvaters zugehört hat, der 1815 geboren wurde.“ Die Oralité ist demnach nicht nur eine Technik der Tradierung von Augenzeugenberichten, sondern auch ein Verifikationssystem für die Beziehung zwischen Zeugnis und Ereignis, zwischen Erzähler und Zuhörer. Das hier beschriebene Verhältnis zwischen Augenzeugenschaft, Zuhörerschaft und Weitergabe ist in seinem Kern um eine undelegierbare Gegenwärtigkeit organisiert, die sich in jedem Zeugnis re-aktualisiert, ohne damit traumatisch zu werden. Die Quintessenz, dass jemand heute von einem Ereignis Zeugnis ablegen kann und soll, das sich Jahrzehnte vor seiner Geburt ereignete, erscheint mir als der radikale Gegensatz zu dem von der deutschen Tätergeneration gehüteten Schweigen und der stattdessen erbauten „Gedenkstättenlandschaft“. Auch die Vorstellung einer „ontologischen Glossolalie“ (Agamben), also eines entsubjektivierten „In-Zungen-Redens“, wann immer wir uns einer Sprache bedienen – nicht als pathologischer Lapsus, sondern als Normalfall und Ermöglichungsbedingung von Sprache und Verständigung – ist in der Oralité mitgedacht.
Markierte die Einsicht „Ich ist ein anderer“ für Rimbaud noch die Schwelle zum Wahnsinn, so drückt sich in der Vorstellung der mündlichen Weitergabe von Zeugenschaft ein vergleichsweise unaufgeregtes Verständnis von der Entgrenzung im Reden aus. Wie nun aber mit der Anwesenheit des Anderen in mir umgehen? Wie mit der Scham und der Schuld, die mir „objektiv gesehen“ gar nicht zukommen? Ja, wie? Keine leichte Aufgabe, aber jedenfalls auch kein ultimativer Schrecken, sondern Ausdruck davon, dass der Mensch „ein potentielles Wesen“ ist (Agamben). Ohne ihre ganze Radikalität hier ausloten zu können, möchte ich diese Einsicht einstweilen so verstehen: Die Bedeutung unserer Rede und Praxis ist nicht reduziert auf die Gegenwart verstanden als die dünne Berührungsfläche, an der eine unveränderliche Vergangenheit mit einer unintelligiblen Zukunft verwoben wird. Vielmehr sind unsere Rede und Praxis überlagert von Gleichzeitigkeiten, Archive und Bühnen für Vorangegangenes und Labore und Geburtsstätten des Kommenden. Ansprüche nach Verantwortung und Aufrichtigkeit erwachsen uns damit nicht nur aus unserer eigenen individuellen Biografie, sondern auch aus dem Leben und Tun anderer, das in uns seine Spuren hinterlassen hat, oder in dem wir, als diejenigen, die einst überlebt sein werden, in gewisser Weise weiterleben. Es ist viel, vielleicht das meiste schon gewonnen, wenn dieses Weiterleben nicht als ein Trauma erlebt wird, sondern wenn unsere Rede und Praxis in „guter Erinnerung“ bleiben.
Tobias Hering
erschienen in der Freitag 35/2008 (29.08.2008) unter dem Titel „Mit geborgter Stimme sprechen“