Die flatterenden Metamorphosen des Volker Gerling

Die flatternden Metamorphosen des Volker Gerling

In seinem Buch The Songlines führt Bruce Chatwin einen schönen Indizienbeweis für die These, daß die dem Menschen gemäße Lebensform nicht die Seßhaftigkeit sei, sondern die Wanderschaft. Die Frage aller Fragen war für ihn die nach den Ursachen unserer „Rastlosigkeit“, und seine Reiseerfahrungen formten seine Überzeugung, daß der feste Wohnsitz ein Zwangszustand sei. Allerdings ist nicht jeder Ortswechsel und insbesondere nicht jede Reisegeschwindigkeit geeignet, das Unbehagen an der Seßhaftigkeit auszugleichen. Die zahlreichen eklektischen Beobachtungen, die Chatwin über die Jahre gesammelt hat, sprechen zusammengenommen dafür, daß die rhythmische, etwas schaukelnde, schrittweise Fortbewegung die dem Menschen gemäße sei. „Bei sich“ wäre man demzufolge nicht sitzend, hockend, kniend oder stehend, auch nicht fahrend oder fliegend, sondern gehend, und auch, wer darüber seine Zweifel hat, wird sich nicht gegen den Charme der Anekdote verwehren können, die Chatwin zur Unterstützung dieser These heranzieht. Eine Gruppe von Trägern, die von einem Kolonialherren zu einem Gewaltmarsch gezwungen wurden, streckten eines Abends die Beine lang und waren durch nichts mehr zum Weitergehen zu bewegen. Die Männer begründeten ihr plötzliches Ruhebedürfnis aber nicht etwa mit ihrer körperlichen Erschöpfung, sondern vielmehr mit der Auskunft, das Tagespensum habe jedes vernünftige Maß überschritten, weshalb ihre Seelen ins Hintertreffen geraten seien und sie nun auf diese warten müßten.

Ich sitze im Regionalzug von Regensburg nach Maxhütte und stelle mir vor, wie meine Seele in Regensburg den Anschluß verpaßt hat und nun auf dem Weg nach München im ICE ins Schwitzen gerät. In Maxhütte steige ich um auf meine Füße. In einer halben Stunde werde ich in Teublitz sein, wo ich „am Brunnen vor dem Rathaus“ Volker Gerling treffen soll. Die Strecke, die ich gerade in vier Stunden Tiefflug zurückgelegt habe, ist er zu Fuß gegangen und hat dafür etwa fünf Wochen gebraucht.

Ich wünschte, ich könnte behaupten, Volker Gerling an einer Wegkreuzung kennengelernt zu haben. Habe ich aber nicht. Ich habe ihn vor vier Jahren in Berlin in der Wohnung eines gemeinsamen Freundes getroffen. Volker war im letzten Jahr seiner Ausbildung zum Kameramann an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam und saß an seiner Abschlußarbeit. „Ich habe das Medium gefunden, das mir entspricht“, sagte er mir damals, aber er meinte nicht den Film, sondern fotografische Daumenkinos. Seine Erkenntnis lag schon damals gut zwei Jahre zurück, aber er klang immer noch wie frisch verliebt, wenn er von Daumenkinos sprach. Von dem Moment, in dem er die Kamera auslöst, und davon, daß er mittlerweile überzeugt sei, daß Daumenkinos keine drolligen Spielzeuge seien, sondern daß sie eine intime Beziehung zu unserem Zeitgefühl haben, zu der Sehnsucht, die einen manchmal überkommt, nicht die Zeit anzuhalten, sondern sie in die Länge zu ziehen, sie im Raum zu verteilen und einen Moment zu bewohnen wie ein Zimmer.

Drei Monate lang ist Volker Gerling im Sommer 2003 zu Fuß durch Deutschland unterwegs gewesen, auf dem Rücken Zelt und Rucksack, vor dem Bauch seine Wanderausstellung. Aus einem hölzernen Serviertablett mit Schlitzen zwischen den Streben hatte er sich einen Bauchladen gebastelt, auf dem stets sechs Daumenkinos auslagen. Solange Volker unterwegs war, war die Ausstellung geöffnet. Er zeigte sie Leuten am Straßenrand und über den Gartenzaun, stellte sich in Fußgängerzonen auf, besuchte Dorffeste und Hochzeiten und ging abends in die Kneipen und Restaurants. Ein unspektakulärer Anlaß für die Wanderung war, daß Volker Lust auf eine längere Reise, aber nicht das nötige Geld übrig hatte. Er wollte mit dem auskommen, was die Menschen, denen er begegnete, für eine Daumenkinovorführung zu geben bereit waren. Daß er davon leben könnte, hatte er zuvor schon einige Monate lang in Berliner Kneipen getestet. Daher ist seine Wanderausstellung weniger ein Abenteuer in Genügsamkeit gewesen, als vielmehr der Versuch, das Medium, das ihm entspricht, mit dem Gehen zu verbinden.

Volkers Daumenkinos, bestehend aus meist 36 Handabzügen, werden an der Falz durch eine Leinenbindung und zwei Messingschrauben zusammengehalten und stecken in einem stabilen Pappschuber. Sie sind robust und handlich, und wenn man sie auf die Handfläche klatscht, gibt es einen satten Ton, als schlage man ein Buch zu. Die Daumenkinos sind Gebrauchsgegenstände. Man legt den Daumen auf das oberste Blatt und biegt den Stapel ein wenig, dann verringert man den Druck auf der Fingerkuppe, und während der Daumen Bild für Bild freigibt, wird die Handfläche zu einer kleinen Projektionskammer. Eine Frau in einem Zug geniert sich vor dem hartnäckigen Blick der Kamera, ihre Hand schnellt ins Bild und verdeckt das Objektiv. Eine Mutter streichelt ihrem Sohn durchs Haar. Eine junge Frau, von einer Kerze beleuchtet, läßt einen Augenaufschlag fallen. Es sind die Gesten, die beim Betrachter hängen bleiben, weil sie so nah kommen, als hätten sie einem selbst gegolten. Volker ist überzeugt, daß die flatternden Metamorphosen der Daumenkinos dem Tempo unserer Zeitwahrnehmung sehr nahe kommen, und daß sich deshalb im Daumenkino die Eigenzeit des Fotografierten in der Eigenzeit des Betrachters wiederfindet. „Eigenzeit“ ist ein Ausdruck der Relativitätstheorie, und man könnte ihn so paraphrasieren, daß Zeit nicht etwas ist, dem man hinterher rennen muß, sondern etwas, das man hat.

Volker sagt den Porträtierten meist nicht, daß die Kamera nicht nur einmal auslösen, sondern innerhalb von zwölf Sekunden einen ganzen Film verschießen wird. Der Motor an seiner Nikon ist auf drei Bilder pro Sekunde eingestellt, jedes mit einer Belichtungszeit von einer Fünfzehntelsekunde. Und die Nikon ist laut. Die Zeit, die sich kurz vor dem Drücken des Auslösers vielleicht angestaut hatte, wird plötzlich losgelassen. Aber sie fließt nicht, die Kamera spuckt sie heraus, klack klack klack klack, jeder Moment ein Kirschkern vor die Füße der Portraitierten. Im ersten Moment werden sie das Geräusch vielleicht als eine mechanische Panne auffassen, dann aber werden sie stutzig, und spätestens nach dem ersten Drittel des Daumenkinos wird etwas passiert sein. Die starre Pose zerfließt, ein Lächeln, ein fragender Blick, das Standbein wird gewechselt. Und wenn sie es doch schaffen, sich nicht zu rühren, wird man ihnen die Anspannung ansehen oder ihre Gelassenheit. Das Daumenkino wird aus diesen Stimmungen und Gesten bestehen, von denen Volker glaubt, daß sie eine ganz besondere Offenheit und Ungeschminktheit haben.

In der Abteilung Film- und Fototechnik im Deutschen Technik Museum in Berlin sind Daumenkinos nicht viel mehr als eine schrullige Stilblüte auf dem Weg zum bewegten Bild. Hier hängt auch eine kleine Lithographie, die einen wandernden Schausteller zeigt, der mit einem „Guckkasten“ über Land zieht. In Schankräumen, auf Jahrmärkten und Marktplätzen waren optische Geräte, die einem für einen Moment das Sehen verzauberten, generationenlang eine landläufige Attraktion. Die meisten optischen Erfindungen hatten eine Karriere der Nichtseßhaftigkeit hinter sich, bevor sie zu festinstallierten Münzgeräten wurden, die sich in Bahnhöfen und Kaufhäusern vermarkten ließen. Man könnte meinen, die Bilder hätten laufen gelernt, indem sie herumgetragen wurden.

Volkers Auftreten während der Wanderung spielte mit solchen und anderen Assoziationen. Aus der Ferne gesehen, mit dem klobigen Aufsatz seines Rucksacks, hätte man ihn für einen Bauern halten können, der eine Ernte nach Hause trägt. Oder für einen Soldaten, der von einer unwahrscheinlichen Front heimkehrt. In Regensburg in der Fußgängerzone erinnerte er an einen Wanderprediger oder an einen, der Mahnwache steht für eine ferne Fürchterlichkeit. Einige werden im Vorbeigehen gehofft haben, er möge sie nicht ansprechen mit seiner Botschaft, seinem Anliegen, seiner Mission. Gaben sie aber ihrer Neugier nach, galt die erste Frage oft dem Woher und Wohin. Die Daumenkinos lagen derweil stumm auf dem Bauchladen. Die Tatsache, daß Volker ohne Geld unterwegs war, fand überall Anerkennung – „in Zeiten wie dieser“, werden sich einige gedacht haben, oder auch an ihre eigene Sehnsucht, es möge mal ohne Geld gehen, zumindest ab und an. „Und wovon leben Sie da?“ – „Von meinen Daumenkinos“. Nun erst betreten sie seine Wanderausstellung, verschränken die Arme hinter dem Rücken, gebieten dem Hund still zu sitzen oder wischen sich die Hände an der Hose ab.

Aus einigen der vielen Begegnungen sind Daumenkinos entstanden, Menschen haben sich porträtieren lassen, von einem, der zufällig vorbeikam. Für einige wird er wie gerufen gekommen sein, etwa für Antonia aus Jena, die gerade auf dem Weg zu einer Freundin war, um sich ihre langen blonden Haare abschneiden zu lassen. Volker ist mitgegangen, und das Daumenkino hält nun das Vorher und Nachher dieser Umwandlung fest und läßt uns an Antonias erstem Blick in den Spiegel teilhaben. Für andere war der Daumenkinematograph plötzlich und aus dem Nichts da, wie vielleicht für die „Frau im Regen“, die Volker in Leipzig gesehen hat und die den Regen genauso gelassen annimmt, wie die Kamera, die sie dabei fotografiert.

Am Ufer der Naab trafen wir bei Bad Lengenfeld auf Benno und Sebastian. Ihre Fahrräder lagen im Gras, ihre Angeln ruhten auf kleinen Stativen, die sie sich aus Weidenstöcken gebastelt hatten. Sie sahen sich die Daumenkinos an. Und dann alle noch einmal. Hätten sie schon einen Fisch gefangen, hätten sie ihn uns geschenkt. Ihre Begeisterung war großartig. Sie hat mich damals überrascht, aber später habe ich verstanden, daß man einen wie Volker nicht alle Tage daherkommen sieht und daß er für manche eben genau im richtigen Moment auftaucht. Er fragte die Jungen, ob sie sich fotografieren lassen würden, und sie waren sofort bereit. Es ist das minimalistischste Daumenkino der Ausstellung geworden. Ein lang gezogener Moment, als sähe man dasselbe Bild immer wieder. Benno und Sebastian hatten Zeit, und selbst beim wiederholten Durchblättern kann einem das winzige Zucken entgehen, das einmal durch Sebastians Zeigefinger huscht. Aber auch hier ist es, als wäre das Daumenkino ganz solidarisch mit den Porträtierten, denn es ist ein Daumenkino über die Geduld geworden. Ein Daumenkino über die Kunst, einen Fisch zu fangen, die wiederum der Kunst verwandt ist, ein Daumenkino zu fotografieren.

Tobias Hering


Veröffentlicht in: Daumenkino – The Flip Book Show (Ausstellungskatalog), Kunsthalle Düsseldorf, 2005. Der Text ist eine überarbeitete Fassung eines Artikels, der im April 2004 im Berliner Stadtmagazin scheinschlag erschienen war.