Husserl

[Mit Edmund Husserl habe ich mich während der Lektüren für meine Magisterarbeit intensiv beschäftigt. In dem, was ich dann schließlich zu Papier gebracht habe, kommt er jedoch kaum vor. Wenig später hatte ich eine Zeit lang die Idee, ihn zur Vorlage einer Romanfigur zu machen, und bin dafür sogar einmal nach Freibug gefahren, und habe an der dortigen Universität die Sprechstunde eines Professors der Philosophie aufgesucht, an dessen Namen ich mich nicht erinnere und der womöglich – wie ich – noch immer auf das Erscheinen dieses Romans wartet. Ein Grund dafür, warum mich Husserl so beschäftigt hat, ist, dass ich in ihm Ähnlichkeiten mit meinem Großvater sehe, den ich nur noch als schweigsamen, fast 15  Jahre in seinem Bett verbringenden Mann gekannt habe, der erst kurz vor Ende seines Lebens nochmal für ein Jahr „herunter kam“ (aus seinem Schlafzimmer).

Die Assoziation von Edmund Husserl mit meinem Großvater verdankt sich wohl dem Eindruck bestimmter Fotografien: die Vorstellung, dass beide selbst bei drückender Hitze nicht von ihren dicken Tweedmänteln lassen wollten. Der Ton, in dem beide über sich selber schreiben, aber auch biografische Parallellen, vor allem in ihrem Verhältnis zu den beiden Weltkriegen, die sie, obwohl eine Generation auseinander, beide erlebt haben. Beide haben im zweiten Weltkrieg eine ihnen liebe Person verloren; Husserl seinen Sohn (Wolfgang?), der Großvater seinen Bruder Erich. Mein Großvater musste später zudem 5 Jahre auf die Rückkehr seines Sohnes aus dem Krieg warten. Beide haben langwierige, chronische Erkrankungen zu erdulden gehabt, von denen sie gelegentliche Kuraufenthalte nur kurzzeitig entlasten konnten. Beide schreiben sie über diese Kur- oder andere Erholungsaufenthalte auf eine melancholisch wehmütige Art, erleichtert zwar von der vorübergehenden Stärkung und Rekonvaleszenz, aber auch in dem Wissen, dass es nur einen Aufschub bedeutet im Verlauf eines unausweichlichen Schwächerwerdens und schließlich Sterbens, das auch dann nicht ausbleiben wird, wenn die chronischen Leiden einmal zur Ruhe kommen sollten.

Beide haben etwas Anachronistisches in ihren jeweiligen Positionen, Husserl schon deshalb, weil er mit seiner Philosophie gegen die seinerzeit herrschenden Strömungen opponiert, vor allem aber, weil er bemüht war, eine philosophische Schule zu begründen, sich aber gleichzeitig immer weiter von seinen Schülern und Nachfolgern isolierte, in dem Glauben, unverstanden oder missverstanden zu sein. Er spürte, wie es immer stiller und einsamer um ihn wurde, eine Einsamkeit, die sich auch der zunehmenden Repressalien durch den Nazi-Staat schuldete, die ihn zwar nicht zu einem ausdrücklich Verfolgten, jedoch zu einem Ausgeschlossenen machten. Wäre er nicht 1938 gestorben, so wäre ihm als Juden wohl früher oder später nichts anderes übriggeblieben, als vom inneren auch ins äußere Exil zu gehen, sofern er dazu die Kraft noch gehabt hätte.

In seinem Verhältnis zum Nazistaat unterschied sich der Großvater zwar von Husserl, jedoch lässt sich bei beiden beobachten, dass ihre Antipathie zunächst verhalten ist. Beide sind sie Patrioten, was jedoch bei Husserl durch die Brandmarkung als Nicht-Arier und die seiner Lehre als „undeutsch“ zu offenen Anachronismen, Zerwürfnissen und Verbitterung führen musste, während die emotionale Zerreißprobe gegenüber Nazideutschland für meinen Großvater, wenn überhaupt wohl erst nach dem Krieg kam, dann jedoch bereits überblendet durch die emotionale Intensität der Sorge um den Sohn und der Trauer um den Bruder. Der Großvater war  allerdings auch in seiner Position etwas anachronistisch, da er wohl nicht wirklich der geeignetste unter den drei Söhnen war, das Baugeschäft von seinem Vater zu übernehmen. Ein Bruder war schon im ersten Weltkrieg gefallen, der andere, der vielleicht der Kompagnon und der patentere in einem Duo hätte werden können, fiel kurz vor Ende des zweiten, und ließ den Großvater ohne Alternative und ohne Beistand mit einer Aufgabe, mit der er immer wieder haderte. Ähnlich unwillig, mit einer Mischung aus Groll und Eitelkeit, wie Husserl über seine „Nachfolger“, äußerte sich der Großvater einmal über die wenigen Mitarbeiter, die ihm der Krieg noch gelassen hatte.

Vielleicht hatte der Großvater nie der sein können, der er hätte werden können, und der er mit größerer Lust gewesen wäre. Dann wohl hätte ihn auch nicht die Depression erfasst, die ihn zu seinem Rückzug bewegt haben musste, dann wäre nie vom Großvater als Seniorchef einer Baufirma die Rede gewesen, sondern vielleicht von einem Mann, den nach dem Krieg ein Sinneswandel angefallen hätte, und der anstatt unter nunmehr wieder günstigeren Bedinungen den beruflichen Weg weiterzuverfolgen, auf dem er durch den Krieg ins Straucheln gekommen war, sich für sich entschieden hätte und für ein Bild von sich, das bislang unterdrückt geblieben war. Er wäre Dichter und Musiker geworden, vielleicht ein Spinntisierer, wie Robert Walser hätte sagen können, hätte vielleicht nicht eine Familie in Wohlstand gehalten, sondern wäre zu einem Rabenvater geworden, hätte den später gleichsam in völliger Passivität durchlittenen Ausstieg hier schon vorweggenommen, hätte aber noch die Kraft gehabt. in diesen jungen Jahren etwas Bleibendes zu schaffen, was zumindest später im Rückblick seinen Schritt gerechtfertigt hätte, anstatt seine Familie und Nachkommen mit der Frage zurückzulassen, was in all den Jahren seines selbstgewählten inneren Exils wohl in seinem Kopf vorgegangen sein mag. Wäre der Bruder nicht gestorben, wäre es vielleicht so gekommen.

Vielleicht aber auch hat der Großvater in den 15 schweigsamen Jahren, die er auf der Seite liegend, den Kopf auf den Unterarm gestützt verbracht hat, irgendwann einmal einen einzigen philosophischen Satz gedacht, der einem Satz Husserls geglichen hat. Und was würde das bedeuten? Sind nicht viele Sätze wie Popsongs, Ohrwürmer, die in der Luft liegen, und die wenn man sie denkt, schon schal sich anfühlen vom vielen schon vorher Durchgedachtsein? Es geht um den imaginären Nachlass des Großvaters, der noch viel fragmentarischer ausgefallen wäre als der Husserls, wenn ihn irgendjemand, vielleicht ein Enzephalograph, aufgezeichnet hätte.]

„Weshalb sah er überhaupt die Probleme, mit denen sich seine Philosophie befasst, die aber zuvor keiner bedachte?“ Gleich am Anfang von Franz Josef Metz‘ Buch diese Frage, die den Philosophen scheinbar ins Zwielicht stellt, wo er Chimären nachhing, und die ihn gleichzeitig zum Sonderling macht. Ein einsamer Frager im möglicherweise selbstgeschaffenen Dunkel. Tatsächlich gibt es in Husserls Philosophie die merkwürdige Bewegung einer immer weiter um sich greifenden „Reduktion“, eines „Ausblendens“ buchstäblich (die Rolläden werden heruntergezogen und blickdicht gestellt), die jedoch einzig das Ziel verfolgt, das Ausgeblendete zu beweisen, das Wissen um die Existenz diese Ausgeblendeten auf das unerschütterliche intellektuelle Fundament einer „philosophischen Wissenschaft“ zu stellen. Im Gegensatz zum radikalem Zweifel Descartes‘, der an entscheidender Stelle die Existenz Gottes glaubt bewiesen zu haben, mit dem Argument, ohne diese Annahme verzweifeln zu müssen, sieht sich Husserl unter der permanenten Bedrohung ebendieser Verzweiflung und stellt sich unter dem Zwang unbedingter intellektueller Aufrichtigkeit immer neue Hürden in den Weg. „Warum meinte er, all das schreiben zu müssen“, fragt Metz, „warum begnügte er sich nicht einfach damit, den Garten zu bestellen, die Blumen zu gießen, das Unkraut zu jäten?“

Es scheint, als sei Husserls Garten sein philosophisches Fragen gewesen, in dem er unablässig wirtschaftete, unablässig damit beschäftigt war, Samen und Keime zu starken Pflanzen heranzuzüchten, die ihm endlich reiche und niemals versiegende Früchte bringen möchten. „Ich sehe goldene Früchte, die keiner sieht, und greifbar nahe habe ich sie vor Augen. Aber ich bin Sisyphus, dem sie immer wieder entschwinden, wenn er nach ihnen greift“, schreibt Husserl in einem Brief. Immer wieder gibt er zuvor sorgsam gehegte Beete und Schösslinge auf, um an anderer Stelle neu zu säen und zu setzen. Und in dem, was er zuvor als Unkraut erbarmungslos rausgerissen und weggeworfen hatte, glaubt er später rückblickend die eigentlichen Pflanzen zu erkennen. Es kommt nie wirklich zur Ernte, jedenfalls nicht in seinem Selbstverständnis.

Es ist tatsächlich kaum zu übersehen, dass sich für Husserl sein philosophisches Fragen und dessen Agonien mit seiner persönlichen Befindlichkeit immer mehr verschränkten. Die philosophischen Positionen, die er als seinen zeitgenössischen Mainstream empfindet, bekämpft er nicht nur, weil er sie philosophisch für unhaltbar hält, sondern weil er sie auch „als existenziell unerträglich empfand“, wie Merz meint. Seine philosophischen Bemühungen um Klarheit und Erkenntnis richten sich vor allem gegen den „Relativismus“ und alle philosophischen und weltanschaulichen Kompromisse, die diesem in die Hände spielen, bzw. denjenigen, der ihnen nachgibt, in die Hände des Relativismus spielen. Den Naturalimus bekämpfte er genauso unversöhnlich wie den Psychologismus. Weder wollte er sich damit zufrieden geben, alles Tun und Werden, also auch das philosophische Erkennen, folge letztlich Naturgesetzen und biologischen Prozessen, noch konnte er sich mit psychologischen Erklärungen abfinden, die letztlich darauf hinausliefen, die Erscheinung der Welt und das, was wir als Wirklichkeit erführen, sei unentwirrbar verquickt mit unserem psychologischen Apparat und letztlich ein Produkt desselben. Geradezu störrisch hält Husserl in einem Klima mal fröhlichen, mal zynischen sich Abfindens mit Mannigfaltigkeit, Zufall und Chaos an der Vorstellung einer objektiven Wahrheit, einer objektiven Welt, einer letztendlichen Eindeutigkeit dessen was wahr und falsch ist, fest.

Zwar bringt ihn sein selbstkritisches Fragen notwendig dahin anzuerkennen, dass eine solche Wahrheit nicht einfach auf der Hand läge und leicht zu erkennen sei, vielmehr etwas Transzendentes sei, zu dessen Erkennen es einer besonderen Disziplin und Methode bedürfte, jedoch macht er sich dann umgehend und folgerichtig daran, eine solche Methode zu entwickeln, zu prüfen und zu formulieren. In verschiedenen Stadien seines Werkes finden sich Spuren dieser Arbeit, immer wieder führt Husserl neue Begriffe für eine weitere Technik des Erkennens der Wahrheit ein, die Wesensschau, die Ideation, schließlich die Reduktion , die phänomenologische, später die eidetische und schließlich die „transzendental-phänomenologische Reduktion“, die von allem absieht, was der gegenständlichen Welt zugehörig ist, die alles „ausschaltet“, was keine absolute Gewissheit bringen kann, selbst noch von den Begriffen und den wissenschaftlichen Erklärungen und die schließlich vor der Frage steht: „Was ist das Residuum der Weltvernichtung?“ Könnte er diese Frage nicht beantworten, wäre der Philosoph gescheitert. Es lässt sich kaum denken, wie von dort ein Weg zurückführte ins Leben und die Welt – sofern man philosophische Probleme und Zweifel so ernst nimmt, wie Husserl es tat. Husserl aber „stößt“ schließlich auf das „transzendentale Subjekt“, das jeder Mensch als Doppelwesen in sich trage. „Es gibt soviele reine Ich, wie es reale Ich gibt.“ Das transzendentale Subjekt ist der Teil in uns, der jenseits unserer Verstrickung in die Kontingenzen der Alltäglichkeit in der Lage ist, bleibende und ewige Wahrheiten zu erkennen.

Puh, möchte man erleichtert ausrufen, und sich die Stirn wischen. Das war knapp. Tatsächlich schrieb und arbeitete Husserl in einem Zustand „radikalster Lebensnot“, wie Merz es formuliert und die Briefe und Tagebücher sprechen da eine deutliche Sprache. In einer Zeit, in der keine Wahrheiten und Werte dem relativistischen Nagen standhielten – so nahme es Husserl wahr –, steigerte sich seine ganz existenzielle Angst, niemals an einen Punkt der Klarheit, des Wissens und der Ordnung zu gelangen, ohne auf seine intellektuelle Redlichkeit verzichten zu müssen. „Was es tatsächlich zu verarbeiten galt“, schreibt Merz, „war der Mangel an systematischer Ordnung, lichtvoller Klarheit und letztgültigen Begründungen in seinen Schriften“. „Viele Menschen empfinden Unklarheit, Ungereimtheit und Unordnung als Ärgernis. Wie sehr muss aber darunter leiden, wer wie Husserl in Einheit, Ordnung und Klarheit höchte Vernunftwerte sah, ohne die alles in Halt- und Sinnlosigkeit versinkt“, versucht sich Merz in mitfühlender Teilnahme, die im übrigen eine der Techniken ist, wie man nach Husserl, den anderen als einen Leib mit Gefühlen und seelischem Innenleben wahrnehmen und anerkennen kann. „Ich kann ohne Klarheit eben nicht leben“, schreibt Husserl in einem Brief. Man darf annehmen, dass er hier nicht übertreibt, dass er es durchaus ernst meint, wenn er sein philosophisches Bemühen mit der Bemerkung kommentiert: „Ich kämpfe um mein Leben.“

Merz hat recht, wenn er vermutet, Husserls Verweiflung müsse beim Leser Überraschung hervorrufen: „Normalerweise würde man doch nicht sagen, dass von logischen Untersuchungen ‚Sein oder Nichtsein abhängt‘. Es klingt merkwürdig, dass hochabstrakte, durchaus trocken anmutende Darlegungen ‚aus unsäglicher seelischer Not‘ hervorgegangen sein sollen.“ Man kann nur spekulieren, was es für Husserl bedeutet haben mag, wenn er gelegentlich mit diesem Befremden seiner Leser oder Zuhörer konfrontiert war. Allerdings führte er, je mehr er sich in das philosophische Forschen vertiefte, ein immer zurückgezogeneres Leben, beschrieb gleichsam mit seinem Leben die reduktive Bahn, die der Erkenntnisprozess zunehmend zu verlangen schien. So sehr Husserl damit zum Klischee wird, so sehr erschüttern mich die Geständnisse seiner Verzweiflung, die wie hausgemacht auch immer sie sein mochten, doch aus der Einsamkeit seines Ichs kommen und damit stets authentisch sind und nicht den Ausweg ins Klischee haben: „Nur eines erfüllt mich: Ich muss Klarheit gewinnen, ich kann sonst nicht leben… nicht das Leben ertragen.“ „Ich war und bin in großer Lebensgefahr. Ich aber will siegen oder sterben. Im Geiste zu sterben, im Kampf um innere Klarheit, um philosophische Einheit zu unterliegen, und noch physich zu leben, das hoffe ich, wird mir nicht beschieden und mir nicht möglich sein.“ Die Angst, die er vor diesem Ausblick hatte, schuldete sich zu einem Teil sicher auch der Ahnung von der eigenen Schwäche. Er ahnte, er werde am Leben hängen, auch wenn er philosophisch längst resigniert habe, und sich von diesem seine Stunde zuteilen lassen. „Mein Leben darf und soll nimmer in Bruchstücke zerfallen“, treibt sich Husserl selber noch an, ahnt aber wenig später: „Ein Volles und Ganzes kann meine Persönlichkeit leider nicht mehr werden. Einheit der Weltanschauung, Einheit frei gewachsener, schöner und natürlicher organischer Bildung kann sie nicht mehr gewinnen“. Der sisyphusartige Schrebergärtner gibt dem Wildwuchs nach. Husserl war jedoch kein spießbürgerlicher Ordnungsfanatiker. Anstatt sich mit einer kleinen Welt zufrieden zu geben, hat er im Gegenteil nach dem Höchsten gestrebt. Sein Scheitern ist zu tragisch, als dass es Häme verdiente.