Jeder Moment ein Kirschkern
Zeit, die man hat: Eine Wanderung mit Volker Gerling.
Auf der Fahrt im ICE nach Regensburg befällt mich ein dumpfes Unwohlsein, eine ganzkörperliche Verstimmung, schmerzlos, ortlos, aber real. Nur Schlaf würde vielleicht helfen, aber bei einer solchen Geschwindigkeit sollte man wachsam sein. Die Landschaft fliegt zu schnell vorbei, als dass sie noch Landschaft wäre. Das Display am Ende des Abteils zeigt 256 km/h. In dem Regionalzug, der mich von Regensburg nach Maxhütte bringt, kommt die Beklemmung nicht mehr auf. Die Landschaft ist auf normale Vorführgeschwindigkeit gedrosselt. Ein Maisfeld, ein Radfahrer, eine Frau mit einem Korb, ein Bahnübergang. In Maxhütte steige ich um auf meine Füße. Es riecht gut. In einer halben Stunde werde ich in Teublitz sein, wo ich „am Brunnen vor dem Rathaus“ Volker Gerling treffen soll. Die Strecke, die ich gerade in vier Stunden Tiefflug zurückgelegt habe, ist er zu Fuß gegangen und hat dafür etwa fünf Wochen gebraucht.
Ich wünschte, ich könnte behaupten, Volker Gerling an einer Wegkreuzung kennen gelernt zu haben. Habe ich aber nicht. Ich habe ihn vor zwei Jahren in Berlin in der Wohnung eines gemeinsamen Freundes getroffen. Volker war im letzten Jahr seiner Ausbildung zum Kameramann an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam und saß an seiner Abschlussarbeit. „Ich habe das Medium gefunden, das mir entspricht“, sagte er mir damals, aber er meinte nicht den Film oder die Filmkamera, er sprach von fotografischen Daumenkinos. Seine Erkenntnis lag schon damals gut zwei Jahre zurück, aber er klang immer noch wie frisch verliebt, wenn er von Daumenkinos sprach. Von dem Moment, in dem er die Kamera auslöst, der immer etwas von einem Sprung in die Zeit habe, und davon, dass er mittlerweile überzeugt sei, dass Daumenkinos keine drolligen Spielzeuge seien, sondern dass sie eine intime Beziehung zu unserem Zeitgefühl hatten, zu der Sehnsucht, die einen manchmal überkommt, nicht die Zeit anzuhalten, sondern sie in die Länge zu ziehen, sie im Raum zu verteilen, um einen Moment zu bewohnen wie ein Zimmer. Ich dachte mir: Er sucht ein Mittel gegen die Traurigkeit. Und während ich ihm zuhörte, wurde mir klar, dass er es gefunden hatte.
Als ich in Teublitz der Beschilderung „Zentrum“ folgend um die Ecke biege, stehe ich mit einem mal vor ihm, er ist für mich so plötzlich da, wie ich für ihn. „Da bist du ja!“. Sein Rucksack ist dreimal so groß wie meiner. Auf einem Handtuch liegt eine kleine Mahlzeit, eine Rittersport und ein Apfel. Auf dem Kopf trägt er einen kurzkrempigen Filzhut, und am Ende der Bank steht das Tablett mit den Daumenkinos. Ein hölzernes Serviertablett mit Schlitzen zwischen den Streben. Darunter hat Volker ein Honigglas geschraubt, das dem Tablett als Stütze und gleichzeitig als Spendenbecher dient. „Vielen Dank!“ steht an dem Schlitz, der ins Honigglas führt. Vorne ist in einer Klarsichtfolie ein Zettel angebracht: „Bitte besuchen Sie meine Wanderausstellung.“ Auf dem Tablett liegen sechs Daumenkinos.
Seit Ende Mai ist Volker zu Fuß durch Deutschland unterwegs, auf dem Rücken Zelt und Rucksack, vor dem Bauch seine Wanderausstellung. Mitte September will er zurück in Berlin sein und bis dahin über Leipzig, Marienbad und München bis in die Schweiz gelaufen sein. Ein unspektakulärer Anlass für die Wanderung war, dass er Lust auf eine längere Reise, aber nicht das nötige Geld übrig hatte. Er wird mit dem auskommen müssen, was die Menschen, denen er begegnet, für eine Daumenkinovorführung zu geben bereit sind. Verkaufen wird er die Daumenkinos nicht, zumindest nicht auf dieser Reise. Sie sind sein Pfund. Dass er allein vom Vorführen der Daumenkinos leben kann, hat Volker bereits einige Monate lang in Berliner Kneipen getestet. Vielleicht ist seine Wanderausstellung daher weniger ein Abenteuer in Genügsamkeit, als vielmehr der Versuch, das Medium, das ihm entspricht, mit dem Gehen zu verbinden.
Noch in Teublitz haben wir uns in einer Metzgerei im Tausch gegen eine Kinovorführung ein Abendessen erhandelt. Ich bin in der Tür stehen geblieben und habe zugesehen, wie Volker einer Verkäuferin die Daumenkinos zeigte, während mich ihre Kollegin etwas argwöhnisch beäugte, als versuche sie sich zu erinnern, aus welchem Film sie die Szene kennt, und ob es ein Happy End gibt. Ich muss mich erst auf eine bestimmte Distanz einigen, in der ich mich halte, wenn Volker auf Leute trifft. Weit genug, um das Gespräch nicht auf mich zu lenken, aber nah genug, um die Begegnung mitzubekommen, mich gegebenenfalls dazuladen zu lassen. „Und er?“ – „Er ist zu Besuch“, sagt Volker, als sei er zu Hause.
Kurz vor seiner ersten Daumenkino-Ausstellung besuchte ich Volker in seiner Dunkelkammer in der Ateliergemeinschaft „Meinblau“ im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Wir tranken Tee und schauten uns seine Daumenkinos an. Die Stapel bestehen aus meist 36 Handabzügen, werden an der Falz durch eine Leinenbindung und zwei Messingschrauben zusammengehalten und stecken in einem stabilen Pappschuber. Sie sind robust und handlich, und wenn man sie auf die Handfläche klatscht, gibt es einen satten Ton, als schlage man ein Buch zu. Die Daumenkinos sind Gebrauchsgegenstände. Man legt den Daumen auf das oberste Blatt und biegt den Stapel ein wenig, dann verringert man den Druck auf der Fingerkuppe und während der Daumen Bild für Bild freigibt, wird die Handfläche zu einer kleinen Projektionskammer. Eine Frau sitzt in einem Zug am Fenster, sie lacht etwas geniert, wendet sich der Kamera zu, lässt plötzlich eine Hand nach vorne schießen, für einen Moment wird es schwarz, dann wieder das Gesicht der Frau, die nun aus dem Fenster sieht, lächelnd. Wenn man zurückblättert, stellt man fest, dass die Schwärze nur ein Bild lang dauert. Aber sie hat etwas Geheimnisvolles, weil unter ihrem Schutz vieles hätte passieren können. Es hätten Minuten vergangen sein können, Stunden. Auf einem anderen Daumenkino sieht man eine Romafamilie, eine Mutter mit ihren vier Kindern. Es tut sich nicht viel. Ein Mädchen wendet einmal den Kopf ab, als habe jemand sie gerufen. Der Junge im Vordergrund fällt durch seine stoische Entschlossenheit auf, das Portrait bis zum Ende auszusitzen. Die Mutter wirft ihm einen kurzen Blick zu, und kurz bevor der Stapel in der Hand zerronnen ist, hebt sie ihre Hand und streicht dem Jungen, der hier den Mann spielt, zärtlich durchs Haar. Beim Zurückblättern wird man vergeblich das Bild suchen, das die Hand der Mutter in der Schwebe zeigt. Auf einem Bild liegt die Hand lose an der Schürze an, im nächsten berührt sie den Kopf des Jungen, dann ruht sie wieder auf der Schürze. Aus diesen drei Bildern hat das Auge ein Streicheln gemacht, einen Moment erzählt, in dem eine Mutter ihrem Sohn durch eine Zärtlichkeit zu verstehen gibt, dass er ruhig Macho sein darf, dass sie ihn im Grunde gar nicht anders haben will, als so: Mein kleiner großer Mann.
Volkers Daumenkinos setzen auf diese Großzügigkeit des Auges, genauso wie sie auf die Großzügigkeit der Menschen setzen, die er portraitiert. „Jede Geste ist wie ein Geschenk“, sagt er. Er bittet nicht darum, aber er versucht, den Moment abzupassen, in dem es möglich ist, dass die Geste abfällt wie eine reife Frucht. Volker sagt den Portraitierten nicht, dass die Kamera nicht nur einmal auslösen, sondern innerhalb von zwölf Sekunden einen ganzen Film verschießen wird. Der Motor an seiner Nikon ist auf drei Bilder pro Sekunde eingestellt. Die Zeit, die sich kurz vor dem Drücken des Auslösers vielleicht angestaut hatte, wird plötzlich losgelassen. Aber sie fließt nicht, sie wird portioniert und zugeteilt, die Kamera spuckt sie heraus, klack klack klack klack klack klack, jeder Moment ein Kirschkern vor die Füße der Portraitierten. Der hörbare Auslöser unterlegt der Situation einen penetranten Takt, zu dem sich die Fotografierten in irgendeiner Form verhalten werden. Im ersten Moment werden sie das Klack Klack vielleicht als eine mechanische Panne auffassen, dann werden sie aber womöglich stutzig und lassen sich aus der starren Haltung herausrütteln, die man für ein Portrait einzunehmen sich angewöhnt hat. Wenn sie sich entscheiden, sich nicht zu rühren, wird man die Anspannung sehen, die sie das kostet. Spätestens nach dem ersten Drittel des Daumenkinos wird etwas passiert sein, die Pose zerfließt, ein Lächeln, ein fragender Blick, das Standbein wird gewechselt, oder eben eine Hand, die versucht die Linse abzudecken. Das Daumenkino wird aus diesen Stimmungen und Gesten bestehen. Volker glaubt herausgefunden zu haben, dass die flatternden Metamorphosen seiner Daumenkinos unserer Zeitwahrnehmung entsprechen, und dass sich deshalb im Daumenkino die Eigenzeit des Fotografierten in der Eigenzeit des Betrachters wiederfindet. „Eigenzeit“ ist ein Ausdruck der Relativitätstheorie, und man könnte ihn so paraphrasieren, dass Zeit nicht etwas ist, dem man hinterherrennen muss, sondern etwas, das man hat.
Wir folgen der Naab, einem erstaunlich breiten Fluss von gesunder grünbrauner Farbe, dessen Lauf uns unweigerlich nach Regensburg führen wird. Am Flussufer sitzen zwei Jungen und angeln. Ihre Fahrräder liegen im Gras, ihre Angeln ruhen auf kleinen Stativen, die sie sich aus Weidenstöcken gebastelt haben. Sie sehen uns und kommen herangelaufen. „Was ist das?“ Volker zeigt ihnen ein Daumenkino. Sie lassen sich alle Daumenkinos zeigen, und dann alle noch einmal. Sie gratulieren ihm – zu den Daumenkinos und zu seiner Wanderung und zu den guten Schuhen. Hätten sie schon einen Fisch gefangen, würden sie ihn uns geben. Ihre Begeisterung ist großartig, sie überrascht mich und ich frage mich, was ich erwartet hatte. Volker fragt die Jungen, ob sie sich fotografieren lassen würden. Sie sind sofort bereit und lassen sich geduldig postieren am Flussufer, das Wasser in ihrem Rücken, die Angeln zwei träge Fühler über ihren Köpfen.
Sie haben Zeit. Gelassen beobachten sie, wie Volker seine Nikon vorbereitet. Und ihre Gelassenheit löst sich auch nicht auf, als das Klack, Klack, Klack der Kamera einsetzt. Sie sind vollkommen entspannt, reglos, nur das Wasser schwappt und die Kamera klackt. „Mann, seid ihr cool“, sagt Volker, als der Film durch ist, und ich höre seine Enttäuschung. Erst jetzt wird den Jungen klar, dass gerade ein Daumenkino entstanden ist, eines wie die anderen, die sie eben gesehen haben. Benno, der Jüngere, wird wütend, und für einen Moment flattert seine Enttäuschung gegen die Volkers an. „Mach noch eins“, fleht er. Es wäre die Gelegenheit gewesen, sich für die Vorführung zu revanchieren. Aber Volker ist sehr genau mit seinen Regeln. Ein zweites Mal gibt es nicht.
Es gibt aber einen zweiten Blick, nach der Entwicklung des Films. „Eine Spiegelreflexkamera sieht beim Auslösen immer genau das, was ich nicht sehe“, erklärt mir Volker, „weil der Spiegel für einen Augenblick den Sucher verdeckt.“ Vielleicht haben die Jungen doch eine Geste fallen gelassen in die Lücke zwischen zwei Bildern. Vielleicht wird es ein Daumenkino über die geduldige Kunst, einen Fisch zu fangen.
Am Abend erreichen wir Kallmünz und finden dort den „Bürstenbinder“, eine Kneipe, der ein guter Ruf vorauseilte. Im jahrhundertealten, niedrigen Gebälk tritt der Neuankömmling gleich in die Mitte der Versammlung ein, leicht gebeugt, wie es sich gehört, das „Guten Abend allerseits“ kommt wie von selbst. Als habe man uns erwartet, wird gleich Schwarzbier serviert. Volker macht die Runde im kleinen Schankraum. Aus der benachbarten Küche zieht deftiges Aroma herüber und die Wirtin steht im Küchennebel wie eine stolze Penelope, die ihren Odysseus, sollte er sich zeigen, gleich wieder davon schicken würde. Die Faust in die Hüfte gestemmt, sieht sie schmunzelnd dem Schausteller zu, der sich zielsicher in ihre Schänke verirrt hat, wohl wissend, denke ich mir, dass er hier und nirgendwo anders hingehört mit seinem Bauchladen und dem Filzhut.
Volkers Auftreten lässt viele Assoziationen zu. Aus der Ferne gesehen, mit dem klobigen Aufsatz seines Rucksacks, könnte man ihn für einen Bauern halten, der eine Ernte nach Hause trägt, oder für einen Soldaten der von einer fremden Front heimkehrt. Sehr unwahrscheinlich, dass jemand schon aus der Ferne denkt: Ah, da kommt einer mit Daumenkinos. Und selbst wenn man auf gleicher Höhe ist, wird man sich noch fragen, was der Mann da auf der Auslage hat. In Regensburg auf der steinernen Brücke könnte man ihn für einen Wanderprediger halten, oder für einen, der Mahnwache steht für eine ferne Fürchterlichkeit. Die Tatsache, dass Volker ohne Geld unterwegs ist, findet überall Anerkennung – „in Zeiten wie dieser“, werden sich einige beim Kopfnicken gedacht haben, oder auch an ihre eigene Sehnsucht, es möge mal ohne Geld gehen, zumindest ab und an. „Und wovon leben Sie da?“ – „Von meinen Daumenkinos“. Nun erst betreten sie seine Wanderausstellung, verschränken die Arme hinter dem Rücken, gebieten dem Hund still zu sitzen oder wischen sich die Hände an der Hose ab. Meist spricht Volker noch eine förmliche Einladung aus und zeigt dem Gegenüber dann ein erstes Daumenkino. Ich frage mich, wann er mal ein Daumenkino macht von einem, der sich ein Daumenkino ansieht.
Es passiert etwas, eine Gabe, aber unbestimmt. Man sieht, wie es in den Köpfen zu arbeiten beginnt, wie nach Worten gesucht wird, verstaubten vielleicht, wenig gesprochenen, die hier aber angebracht scheinen. Geld wird meistens gegeben, aber schweigend, ohne Tamtam hinein in den Schlitz. Ein Mann, der nicht mal das dabei hatte, weil er nur mal eben mit dem Hund raus wollte, zupfte ratlos an der Hundeleine. Aber der Hund hatte auch kein Geld einstecken. Der Mann war derart neben sich gestellt, dass er den Hund eilig zu Hause abgestellt und sich aufs Rad geschwungen haben musste, um uns hinterher zu fahren. Zwei Stunden später kam er uns auf einem Waldweg schwer atmend entgegen. Er stieg vom Rad, holte aus einem Eimer, den er sich auf den Gepäckträger geschnallt hatte, zwei Müsliriegel hervor und versenkte einen Zehn-Euro-Schein im Spendenschlitz. „So“, sagte er und wischte sich den Schweiß aus der Stirn, „ich dachte schon, ich finde euch nicht mehr.“ Nicht auszudenken, was dann passiert wäre.
Am zweiten Tag seiner Wanderung hat Volker am Stadtrand von Berlin ein Daumenkino aufgenommen und dann in Leipzig in der Hochschule für Fotografie und Buchdruck entwickelt und gebunden. Es zeigt einen Mann um die 70, der in die Kamera sieht, als suche er etwas in der Ferne und sei gerade dabei, es zu erkennen. Er trägt eine Baseballmütze mit der Aufschrift „Berlin“ und Volker hat ihn über seinen Gartenzaun hinweg fotografiert. Sein Gesichtsausdruck verändert sich während der zwölf Sekunden kaum, aber in der Mitte des verrinnenden Stapels greift er sich an den Schirm der Mütze und nimmt diese vom Kopf. „Berlin“ verschwindet aus dem Bild, und Volker gefällt dieses Daumenkino gerade deshalb so gut, weil es für ihn auch den Moment markiert, als er nach eineinhalb Tagen Fußmarsch endlich den Stadtrand erreicht hatte und Berlin durch den Grunewald verließ. Lässt man das Daumenkino rückwärts ablaufen, wie es ein Linkshänder wohl intuitiv tun wird, dann sieht man, wie ein Mann um die 70 nach einigen Momenten des Lächelns sein schütteres graues Haar mit einer Baseballmütze bedeckt, auf der „Berlin“ steht. So gesehen ist es eine Begrüßung, ein Wiedersehen, und Volker wird sich wohl die Freiheit nehmen, es sich am Ende seiner Wanderung ein paar mal rückwärts vorzuführen.
Tobias Hering
erschienen in: der Freitag am 5.9.2003