Es hat sich schon lange eine Zeit angekündigt, in der man zwischen Freunden und Feinden wird unterscheiden müssen, und diese Zeit ist nun da. Und indem sie da ist, wird mir bewusst, dass sie schon immer da war, dass sie wiederkehrt, oder vielleicht dass sie meine Zeit wird, oder dass sie das wird, was sich unweigerlich an die Stelle dessen setzt, was man meinen kann, wenn man sagt: meine Zeit, unsere Zeit.
Wenn ich sage zwischen Freunden und Feinden unterscheiden, meine ich dann meine Freunde, meine Feinde? Bin ich es, um den es geht, bin ich der harte Boden, auf dem sich die Spreu vom Weizen trennen soll? Oder bin ich es, der trennt, indem er feststellt, wer sich zu wessen Feind erklärt, und der sich dort, in diesem vor und außer ihm sich ausbreitenden Feld, seine Position sucht und seine Allianzen erklärt. Hat mir schon jemand die Feindschaft erklärt, oder wird es Zeit, dass ich jemandem die Feindschaft erkläre? Noch gilt: solange ich still halte, gehe ich als potenzieller Freund durch, betrifft die Veränderung andere, Freunde, die zu Feinden erklärt und angegriffen werden. Ein Näherrücken zeichnet sich darin ab, dass diese Freunde nicht mehr nur abstrakte Freunde sind, denen ich mich solidarisch fühle oder erkläre, sondern dass es Freunde sind, die ich kenne und die mich kennen.
In der FAZ wurden neulich einmal wieder diejenigen zur Rechenschaft gerufen, die „das Asylrecht zu ihrem Fetisch“ gemacht haben. Ein Mann, der auf der Grundlage dieses Asylrechts nach Deutschland gekommen war, dem auf der gleichen Grundlage das Recht auf Asyl abgesprochen wurde, der aber weder abgeschoben noch in irgendeiner Form festgesetzt wurde (observiert wurde er aber offenbar, denn unter Verdacht stand er, wie es scheint), ist mit einem gekaperten LKW in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gefahren und hat 12 Menschen getötet. Zunächst flüchtig, ist er einige Tage darauf in Norditalien bei einer Polizeikontrolle erschossen worden. Ein Tunesier, der im Dienste des „islamischen Staates“ zu handeln und zum Märtyrer zu werden wünschte.
Wenn das Asylrecht zum Fetisch geworden ist (der Begriff Fetisch soll offenbar das politische Verhalten als irrational denunzieren und in der Vorstellungswelt der vermuteten Leserschaft einen Konnex herstellen zwischen der Haltung des politischen Gegners und den unzivilisierten, archaischen Formen des Handelns, die vermeintlich ins Land kommen, wenn man ihm nachgibt), so womöglich deshalb, weil jede gründlichere und weiterreichende Analyse verweigert wird und angesichts der hysterischen Emotionialisierung der Nähe, des Hier, des hier-unter-uns, derzeit immer unwahrscheinlicher wird. „Das Asylrecht“ ist eine Wunde, die beide Seiten offen halten möchten (es sind mehr als zwei Seiten und womöglich geht es darum, genau das stark zu machen). Es ist die Wunde, die Öffnung, auf die die Rechte zeigen können möchte, wenn im „Inneren“ etwas geschieht, das man einem „Fremden“ zuordnen und anlasten will. Und es ist die Wunde, die Öffnung, die die Linke offenhalten will, damit durch sie diejenigen Einlass finden, die die Botschaft eines Versagens mit sich bringen und die von einem Versagen Zeugnis ablegen können, das vermeintlich hier seinen Ausgang und seine (eine) Geschichte hat und anderswo seine lebenszerstörenden Konsequenzen entfaltet. Für beide Seiten ist das Asylrecht ein Statthalter für anderes, dabei wurde es ja bereits abgeschafft – eine Feststellung, die stimmt und nicht stimmt, weil man sich weiterhin auf es berufen kann und es auch weiterhin unendlich abgeschafft wird.
Es liegen – zufällig, der Zufall will es, der Zufall weiß nichts davon, es gibt keine Zufälle mehr – drei Bücher auf dem Tisch, die mir an einer bestimmten Stelle alle auf den gleichen Punkt (in mir) zu verweisen scheinen. „Ausgewählte Schriften“ Arnold Schönbergs, darin auch die beiden Briefe an Kandinsky. Jacques Derridas Stellungnahme zu/ Auseinandersetzung mit den kurz zuvor, posthum, kennbar gewordenen frühen journalistischen Veröffentlichungen seines späteren Freundes Paul de Man, in denen dieser zur Zeit der deutschen Besatzung Frankreichs und Belgiens eine verstörende Nähe „zum Schlimmsten“ erkennen ließ. Joseph Roths langer Essay „Juden auf Wanderschaft“ von 1927, mit einem Nachwort von 1936 (?) und einem Vorwort zur Neuauflage von 1938/9 (?). Alle drei Texte scheinen auf eine Notwendigkeit zu reagieren, eine Trennung zu benennen, eine Unterscheidung zu machen zwischen Freunden und Feinden, und in allen dreien verläuft die Linie, die dabei gezogen wird, letztlich durch das „Eigene“ hindurch, durch das, was man selber ist, oder dem man die Treue nicht aufgeben kann oder will. Vielleicht wird einem auch erst beim Ziehen der Grenze bewusst, dass sie schon immer durch einen hindurch verläuft.
Bei Schönberg ist es die Abspaltung des alten Kandinsky vom neuen, des Kandinsky, der sein Freund war, von dem, dessen Freund er nicht mehr sein will, nicht mehr sein kann, von dem er sich lossagen muss und will, der nicht mehr „sein Kandinsky“ sein kann, der nicht mehr zu ihm „gehört“. Der Brief vom 19.4.1923 endet mit einem Bild, in dem Schönberg die beiden Kandinsky einander gegenüber stellt: „In meine herzlichen und hochachtungsvollen Grüße mögen sich der Kandinsky der Vergangenheit und der jetzige mit Gerechtigkeitsgefühl teilen.“ In seiner Antwort vom 24.4.1923 greift Kandinsky dieses Bild auf, auch hier in der Abschiedsformel: „Wenn Sie mich auch spalten, sende ich Ihnen herzlichste Grüße und den Ausdruck meiner Hochachtung.“ Aber Schönberg führt die beiden Kandinskys nicht mehr zusammen. Gegen Schluss des langen zweiten Briefes vom 4.5.1923 schreibt er: „Ich habe Ihnen antworten wollen, weil ich Ihnen zeigen wollte, daß auch in dem neuen Kleid für mich Kandinsky vorhanden ist; und daß ich nicht diese Achtung verloren, die ich einmal gehabt habe. [Unendlicher Aufschub: Hat er sie nicht bereits verloren, wenn er sie einmal gehabt hat?] Und wenn Sie für meinen ehemaligen Freund Kandinsky Grüße zu bestellen übernehmen wollten, würde ich Ihnen sehr gerne einige meiner wärmsten anvertrauen wollen […]“. Die Spaltung, die Schönberg am Freund vornimmt, und die sicher auch ihn selbst geschmerzt hat, ist bereits eine Gegenwehr gegen eine Differenzierung, eine Spaltung, von der es vielleicht noch scheinen könnte, dass sie Schönberg eine Nische böte, die er aber zurückweist, weil er in ihr bereits die Sackgasse erkennt, vor allem aber weil er sie nicht akzeptiert und er sich nicht auf das Niveau derer herablassen will, die ihm diese Spaltung anbieten. „Weil ich noch nicht gesagt habe, daß ich zum Beispiel, wenn ich auf der Gasse gehe und von jedem Menschen angeschaut werden, ob ich Jud oder ein Christ bin, weil ich da nicht sagen kann, daß ich derjenige bin, den der Kandinsky und einige andere ausnehmen, während allerdings der Hitler dieser Meinung nicht ist. Wobei mir dann selbst diese Wohlmeinung nicht viel nützte, selbst wenn ich sie, wie die blinden Bettler, auf eine Tafel schreiben und auf die Brust heften wollte, daß sie jeder lesen kann.“ Dieses Täfelchen, dieser Unterschied wird nicht mehr lesbar sein in der „Finsternis“ der „Bartholomäusnächte“, die die nationalsozialistische Weltanschauung zum Ziel hat und gegen die ein Kandinsky nicht genug wird gekämpft haben. „Sie werden es einen bedauerlichen Einzelfall nennen, wenn auch ich durch die Folgen der antisemitischen Bewegung getroffen bin. Aber warum sieht man in dem schlechten Juden nicht einen bedauerlichen Einzelfall, sondern das typische? […] Aber es ist kein Einzelfall, nämlich nichts Zufälliges. Sondern es ist ganz planmäßig, daß ich, nachdem ich erst auf dem landesüblichen Weg nicht geachtet wurde, nun noch einen Umweg durch die Politik zu machen habe.“ Den ganzen Brief hindurch wird es darum gehen zu bestimmen, zu wem er gehört, zu wem nicht, zu wem er gezählt wird und zu wem er sich selber zählt, und um die Erkenntnis, dass es nicht seine Wahl gewesen sein wird, mit wem er sich „gemein machen“ möchte. Die fürchterliche Größe der beiden Briefe Schönbergs rührt daher, dass er Kandinsky die Gemeinschaft ausschlägt, die dieser ihm unter dem Dach der „Übermenschen“, der „Wenigen“ anbietet, und stattdessen es vorzieht, sich zu den Vielen zu zählen, zu denen, von denen er weiß, dass ihnen Gewalt angetan wird, wenn er auch das Ausmaß dieser Gewalt noch nicht ermessen kann. „Ich habe gar nichts dagegen, dass man mich mit allen anderen in einen Topf wirft. Denn ich habe gesehen, dass auf der Gegenseite […] auch alles in einem Topf ist, […] daß einer, mit dem ich gleiches Niveau zu haben glaubte, die Gemeinschaft des Topfes aufgesucht hat.“ (267/268, im ersten Brief)
Die Vivisektion, die Schönberg am ehemaligen Freund vornimmt, die Spaltung, die auch eine Verdoppelung ist, hat Ähnlichkeiten mit dem Manöver, das Derrida in seiner Schrift über den verstorbenen Freund Paul de Man vollzieht, in der es jedoch im wesentlichen darum geht, nicht so sehr den Freund posthum zu verteidigen, sondern das eigene Versprechen der Freundschaft einzulösen, gerade weil zu dem Zeitpunkt, als er es gab, nicht abzusehen war, was es ihm abverlangen würde. Er wusste allerdings bereits, dass er mit diesem Versprechen eines Tages allein sein würde. Schon einmal, offenbar kurz zuvor, hatte Derrida über Paul de Man posthum geschrieben. „Mémoires: For Paul de Man“ lagen drei Vorlesungen zugrunde, die Derrida 1984, nicht lange nach Paul de Mans Tod diesem gewidmet hatte. Gedruckt erschienen sie 1988, also fünf Jahre nach de Mans Tod, annähernd zeitgleich mit einem zweiten Buch, „Paul de Mans Krieg: Mémoires II“, das unter völlig anderen Vorzeichen geschrieben wurde. Wichtig ist zunächst einmal, dass Derrida es darin unterlässt, irgendetwas aus dem früheren Buch unter Berufung auf „neue Erkenntnisse“ zu widerrufen. Vielmehr geht er an den Punkt des eigenen Versprechens zurück, das wie jedes Versprechen eines auf eine ungewisse Zukunft gewesen sein wird, die „nicht gleichgültig gewesen sein“ wird. „Wenn der Freund nicht mehr da ist, ist das Versprechen immer noch nicht haltbar, es wird nicht gemacht worden können sein, doch wie eine Zukunftsspur kann es noch immer erneuert werden.“ (S. 20, zitiert aus Mémoires) Von diesem Punkt aus, also unter Berufung auf das eigene Versprechen der Freundschaft und in Verantwortung vor diesem Versprechen, schreibt er. Das Versprechen kann nicht widerrufen werden, da es nicht gemacht sein konnte, es kann jedoch erneuert werden. Derrida ist weder bereit, sich selbst zu spalten in denjenigen, der noch nicht wusste (was Paul de Man in den 1940er Jahren geschrieben hat), und denjenigen, der nun weiß, noch erlaubt er es sich, den Freund posthum zu spalten in den frühen und den späteren Autor, den kompromittierten und den autonomen, den wirklichen und den, der nicht frei gewesen wäre, zu schreiben, was er wirklich denkt, oder entschiedener, judikativer: den willkommenen und den ungebetenen, den guten und den bösen Paul de Man. Weil er sich diese Spaltungen nicht erlaubt, sich aber dennoch entlang der Frage nach der Vereinbarkeit zweier zuallererst widersprüchlicher Hälften bewegt, schreibt sich der Gegensatz in die Texte ein (in den Freund?). Das Muster von Derridas Überlegungen ist „einerseits… andererseits…“ und er hantiert dabei mit dem „seltsamen Artefakt einer Klinge und eines Knotens“, das heißt einer Klinge, die nicht schneidet, oder die „zweischneidig“ ist, die also nicht nur einen Schnitt macht, sondern zwei, oder die, wenn dabei ein Schnitt den anderen neutralisiert, verheilt, verknotet, was sie schneidet. Es wird zu keiner Trennung kommen, es werden Knoten entstehen, Narben. Und die zweischneidige Klinge, die Derrida in den Texten Paul de Mans, die er hier liest, und die ihn so geschmerzt haben („schmerzhafte Überraschung“), am Werke sieht, schneidet auch und vor allem den Leser, also ihn selbst, und verlangt von ihm ständig diese doppelte und widersprüchliche Arbeit: schon wieder zu vernähen, was gerade aufgetrennt wird. Das Wagnis dieser Apologie besteht darin, das Ereignis nicht zu verleugnen, den Schnitt statt gehabt haben zu lassen und nicht immer schon von vorneherein, jedoch unter Berufung auf einen Kredit, den man aus der Zukunft mitbringt, vernäht sein zu lassen. Sich nicht in das Paradox zu flüchten, dass immer schon vernäht war und vernäht bliebe, was dennoch einmal schmerzlich aufgetrennt wurde (der Schnitt ist auf 1940/41 datiert, aber der Schmerz auf die Lektüre, wohl 1987.) Derrida wird sich dafür entscheiden, einen „Bruch“ anzunehmen, um den „Schnitt“ nicht leugnen zu müssen. Er wird dem Anderen, dem Freund Paul de Man posthum unterstellen, dass er selber im Verlauf seines Lebens, und zwar sehr bald nach der Veröffentlichung der inkriminierten Texte aus Le Soir, für sich und weitgehend stillschweigend, gebrochen hatte mit dem Autor, als der er selber die Texte von 1940/41 unterzeichnete. Und dieser Bruch, bzw. diese Vorstellung des Anderen als eines Gebrochenen, eines in einen früheren und einen späteren Gespaltenen, dessen spätere, für Derrida sichtbare Identität (sie haben sich 1966 kennengelernt) aus dem bewussten Bruch mit der früheren hervorgegangen und sogar von ihr profitiert hat, diese Vorstellung eines Bruches, „der auch eine zweite Geburt“ (112) war, wie Derrida zu schreiben wagt, macht es möglich, letztlich auch nach der „schmerzhaften Überraschung“ an allem festzuhalten, was fortan und vor dem Schmerz geschehen ist und gesagt wurde.
Was sich Derrida versagt, ist, sich loszusagen. Weder von dem „jungen Paul de Man“, dessen Texte er liest, und mit dem er nicht einverstanden ist, noch von dem, der er selber unter dieser Lektüre wird, dem Freund, der unwissend gewesen sein wird. Der Einsatz ist höher als nur eine unerwartete Meinungsverschiedenheit über etwas, worüber man glaubte, sich einig zu sein. Wie in dem von Schönberg gegenüber Kandinsky benannten Konflikt geht es darum, dass sich Derrida nicht ausnehmen kann aus dem Angriff des Freundes, wenn dieser auch namentlich anderen galt. Er ist selber getroffen von dem, was Paul de Man seinerzeit über „die Juden“ und das „jüdische Element“ etc. geschrieben hat. Derrida hat immer, und auch explizit, als in Algerien geborener Jude geschrieben, und die Rechnung, die Paul de Man aufmachte zwischen der „jüdischen Einmischung“ und „unserer Zivilisation“, oder genauer, „dem literarischen Leben des Abendlandes“, betrifft – verspätet, posthum, aber zeitlos – auch ihn, Derrida, und rechnet ihn raus. Auch Derrida würde (müsste) sich einer von Paul de Man womöglich apologetisch ausgestreckten Hand, auf der „die Wenigen“ stünde, verweigern, genau wie es Schönberg gegenüber Kandinsky getan hat. Er müsste (muss) auf der ihm zugewiesenen Seite bleiben, damit die ganze Rechnung nicht aufgeht. Die Ambivalenz des „einerseits… andererseits…“ rührt zum Teil zweifellos daher, dass eine solche Apologie nicht mehr kommen wird, dass Paul de Man tot ist und es keinen Dialog mit ihm mehr geben kann, auch wenn Derrida sich natürlich auch in dieses Faktum nicht einfach so fügt: „Er, er selbst, er ist tot, und dennoch lebt er durch die Gespenster des Gedächtnisses und des Textes unter uns, und wie man im Französischen sagt, il nous regarde plus que jamais: er geht und schaut uns mehr als jemals an, ohne hier zu sein.“ (S. 16) Nichts in dieser Sache ist einfach, alles ist mehrfach, zweischneidig, und eine Frage des Widerstands gegen Vereinfachungen, den Derrida bei Paul de Man ein ums Andere Mal am Werk sieht, und der mit einem Widerstand gegen die Übernahme von „Gemeinplätzen“ synonym ist, worin sich jedoch auch bereits die Bereitschaft und das ideologische Kalkül ankündigt, „Unterschiede“ zu machen und zuzulassen, oder zuzulassen, dass sie gemacht werden (selektieren: die Selektionsrampe). Und Derrida scheint zumindest auf der Hut zu sein, gegen diese wohlfeile Ablehnung der „Gemeinplätze“. „Die Sprache schafft Gemeinplätze“, schrieb Emmanuel Lévinas, und er meinte es positiv, im Sinne von etwas, das er fruchtbar zu machen gedachte, denn er wusste, dass darin etwas Entwaffnendes lag. Sein Bemühen war, „in der Rede eine nicht-allergische Beziehung mit der Andersheit zu sehen, sie zu sehen als ein Begehren, in dem das Können, das seinem Wesen nach für den anderen tödlich ist, sich im Angesicht des Anderen und ‚gegen alle Vernunft‘ in Unmöglichkeit des Mordes verwandelt, in Rücksicht auf den Anderen oder in Gerechtigkeit.“ (Totalität und Unendlichkeit, S. 57) Die Frage wird sein, wen oder was Paul de Man retten wollte, retten konnte, wem er womöglich Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, indem er sich gegen Gemeinplätze verwehrte und Unterschiede machte. Eines ist aber bereits klar: dass er selber ein Geretteter gewesen sein wird, ob zu Recht oder Unrecht.
In seiner schrittweisen Lektüre einiger inkriminierter Texte Paul de Mans kommt Derrida schließlich an den „schrecklichsten“ Absatz, der mit der Vorstellung der gänzlich aus dem „literarischen Leben des Abendlandes“ getilgten, deportierten Juden endet, und seine Leser mit dieser „Lösung des jüdischen Problems“, für die hier rhetorisch noch die Vorstellung einer „von Europa isolierten jüdischen Kolonie“ einsteht, versöhnt. „Dieses [das literarische Leben des Abendlandes] verlöre alles in allem ein paar Persönlichkeiten von mittelmäßigem Wert und führe wie in der Vergangenheit fort, sich nach seinen großen Evolutionsgesetzen zu entfalten.“ Derrida: „Werde ich es wagen, vor der unverzeihlichen Gewalt und Verworrenheit dieser Sätze noch ‚andererseits‘ zu sagen?“ (S. 64, D’s Hervorhebung) Wenn ich das Gefühl habe, dass die Begründung, warum er es tut, die Seite, die nun folgt und die dem „Ja, andererseits“ vorausgeht, unendlich und immer wieder gelesen werden müsste, so womöglich einfach deshalb, weil ich mit dieser Begründung nie ans Ende kommen will und keinen Frieden mit ihr und dem, was ihr folgt, schließen möchte.
Joseph Roth schrieb 1927 unter dem Titel „Juden auf Wanderschaft“ einen langen Essay über die Ostjuden, also die Juden Osteuropas, die durch Krieg und Antisemitismus in großer Zahl heimatlos geworden waren oder wegen der in den Schtetln grassierenden Armut nach Westen ausgewandert waren, wo sich in den Metropolen längst schon die Gettos gebildet hatten, die wenig später zu den Sammel- und „Umschlag“plätzen des nazistischen Vernichtungsprogramms wurden. Roth beschreibt sowohl das Leben in Galizien, als auch das der Juden in Berlin, Wien, Paris, in Sowjetrussland und in Amerika, wo er sie allerdings „hinter den Gittern ihrer Quarantäne“ (87) auf Staten Island verlässt. Das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ist aber „nicht etwa Amerika, sondern Deutschland“ (96), was zum Zeitpunkt als dieser Satz geschrieben wurde (im Vorwort zur Neuauflage, 1938/39?) unweigerlich abgründig klingen musste und wohl auch sollte. Roth kennt beides, das Leben im Schtetl und in den Metropolen, und er schreibt aus Erfahrung oder bezieht sich auf Recherchen, die er für diesen Artikel gemacht hat. Er wirbt für Verständnis und Sympathie mit den ostjüdischen Zuwanderern, seine Adressaten sind Leser in den westeuropäischen Metropolen, aber auch die „Westjuden“, deren Assimilierung allzuoft den Preis hatte, sich von den ostjüdischen „Vettern“ (und der eigenen osteuropäischen Vorgeschichte) soweit wie möglich zu distanzieren und dabei selber einen selektiven Antisemitismus zu kultivieren. Roth schreibt zu einer Zeit, als es ihm noch möglich scheint, die zunehmend verzweifelte Situation der Juden in Europa zu verbessern und der unguten Entwicklung eine Wendung zu geben. Sein Text möchte davon überzeugen, dass es eine jüdische, europäische Kultur gibt, auf die sich Ost- wie Westjuden positiv beziehen können. Er ist ein Ruf zur Einheit der Juden und zur Toleranz der Nicht-Juden, eine Toleranz, die hier nicht zuletzt aus der „Achtung vor Schmerz, menschlicher Größe und vor dem Schmutz, der überall das Leid begleitet“, erwächst, wie es gleich zu Beginn des Vorworts von 1927 heißt. Schon hier fragte Roth jedoch mit suchendem und verunsichertem Blick nach seiner Leserschaft: „Für wen also ist dieses Buch bestimmt? Der Verfasser hegt die törichte Hoffnung, dass es noch Leser gibt, vor denen man die Ostjuden nicht zu verteidigen braucht“, schreibt er und dennoch wird sein Text unter dem bereits immensen Druck der Verachtung, des Hasses und der Verfolgung, die er gleich im ersten Satz benennt, zu einer Verteidigung. Ihm gelingt die unendlich schwierige Aufgabe, aus der Defensive zu schreiben, ohne jemals apologetisch zu werden. In der gleichen Mischung aus unverwüstlicher Selbstachtung und Pragmatismus wie Schönberg: „Glauben Sie, dass jemand wie ich sich ablehnen lässt?“
Vier Jahre nach Schönbergs Brief an Kandinsky dürfte die Situation schlimmer geworden sein, zumindest stellt man es sich heute so vor, dass es immer schlimmer wurde in diesen Jahren und auf das „Schlimmste“ zuging, dessen Eintreten Paul de Man zumindest mit der allergrößten Fahrlässigkeit in Kauf zu nehmen schien. Während de Man 1941, als das deutsche Konzentrationslagersystem bereits Bestand hatte, dieses mit keinem Wort erwähnt und stattdessen eine jüdische Kolonie außerhalb Europas als „Lösung“ in Betracht zieht, gehört der Begriff „Konzentrationslager“ bereits 1927 zum Vokabular Joseph Roths. Das offenbar 1938/39 verfasste „Vorwort zur Neuauflage“ des Essays schließt mit der pessimistischen Prognose, dass „von den Juden, die heute noch in Deutschland leben, höchstwahrscheinlich nur noch ein unwesentlicher Bruchteil [wird] auswandern können oder wollen“. „Mit der Generation, die jetzt in der Hitler-Jugend heranwächst, werden weder die Juden noch die Christen noch die kulturbewussten Europäer erfreuliche Erfahrungen machen können.“ Einzig das Ausmaß des Unerfreulichen konnte oder wollte sich Roth noch nicht ausmalen. Zur Entscheidung steht für ihn, ob sich Europa damit abfindet, „dass die Juden noch lange Parias unter den Deutschen bleiben werden“, oder ob „Europa zu seinem Gewissen zurückfindet“ und sich einmischt, was zu dieser Zeit – der spanische Bürgerkrieg ging dank der deutschen Unterstützung gerade zugunsten der Francisten aus – bedeutet hätte, Deutschland im Namen der Juden oder der „Kultur“ den Krieg zu erklären. „Eine jahrhundertealte Zivilisation eines europäischen Volkes beweist noch lange nicht, dass es durch einen unheimlichen Fluch der Vorsehung wieder barbarisch wird“ (gemeint ist wohl: „… dass es nicht wieder barbarisch würde“). Roths Essay ist kein Aufruf zu Erbarmen oder Barmherzigkeit, sondern zur Gerechtigkeit. Wie Paul de Man misst auch er die europäische Kultur an ihren eigenen Maßstäben, allerdings rechnet er den Beitrag der jüdischen Kultur zur europäischen hinzu, betrachtet ihn als Teil dieser und stellt auch die Kulturleistungen der verfemten Ostjuden heraus, während de Mans Sorge der „jüdischen Beimischung“, der „Verjudung“ der abendländischen Kultur gilt und sein Antikonformismus lediglich darin besteht, Entwarnung zu geben und das Feindbild des fremden Juden harmlos erscheinen zu lassen. Sein Engagement gleicht allenfalls denen, die sich nach dem Krieg darauf berufen konnten, Juden zur Flucht verholfen zu haben, sie haben entkommen zu lassen, womit meist auch impliziert war, dass sie anderswo besser aufgehoben wären, also nicht zu Europa gehört hätten.