[Offenbar nach der Lektüre des Nachlassbandes Campo Santo von W.G. Sebald.]
Ich begann nun mit der größten Lust den Text „Moments musicaux“ zu lesen, der zu den jüngeren, während oder nach einer Korsikareise im Jahre 1996 entstandenen Texten des Bandes gehört, und damit eines der Fenster ist, durch das hindurch wir zumindest ausschnitthaft noch erahnen, was der Klappentext als ein „großes unvollendetes Prosawerk“ ankündigt und gleichzeitig vorenthält.
Hätte der Verlag davon abgesehen, zur Verdickung des avisierten Nachlassbandes noch einige unveröffentlichte Texte den während oder nach der Korsikareise entstandenen hinzu zu fügen, so wären von dem angekündigten „großen Prosawerk“ allenfalls ein paar erste Versuche und tastende Schritte übrig geblieben und wäre somit der Umfang des Nichtgeschriebenen um ein Vielfaches größer, wüster und schrecklicher erschienen, als das Geschriebene, das überdies in dieser Form noch keinesfalls die Qualität früheren Sebaldschen Schreibens erreicht hatte. In den letzten Sätzen dieses Opus Interruptus wäre es dann um Wittgenstein als Knaben gegangen, wäre der Prospekt eines „tiefschwarzen, von Blitzen durchzeichneten Himmels“ wie ein Nachbild auf der Netzhaut des nun hilflos im Anhang blätternden Lesers hängen geblieben. Im letzten Absatz der „Moments musicaux“ hat die Assoziationskette Sebald in ein Bregenzer Hotelzimmer zurückgeführt, wo er nun nach der Lektüre einer Verdi-Biographie einschläft und davon träumt, „wie die Mailänder, als der Maestro im Januar 1901 im Sterben lag, vor seinem Haus Stroh auf die Straße streuten, damit die Hufschläge der Pferde sich dämpften und er hinübergehen konnte in Ruhe.“ Wissend um die weitere Entwicklung ist man hier, anstatt weiterzulesen, vielleicht eher geneigt, die Tatsache zu bedauern, dass Sebald bei seinem Tod eine ähnlich tröstliche und liebevolle Geste verwehrt geblieben ist. Man möchte nach Stroh schreien, dass sich quasi posthum ausstreuen ließe, den Weg in ein Jenseits zu finden, dessen Existenz man aus lauter Verzweiflung sogar anzunehmen bereit wäre. Liest man aber noch die folgenden, dann endgültig letzten Sätze, wird einem das besagte Bild des dramatisch aufgeworfenen Himmels begegnen, das ein von Sebald in dieser Bregenzer Nacht erträumter Prospekt ist, von dem er jedoch behauptet, er sei zuerst von Wittgenstein als sechsjähriger Knabe „vom Altan des Sommerhauses auf der Hochreith“ beobachtet und fotografiert und somit der späteren Traumverwendung durch Sebald zur Verfügung gestellt worden.
Das letzte Wort dieses letzten Textes ist „Hochreith“, ein Ort, wie ich annehme, irgendwo in den österreichischen Alpen oder im Vorarlberg, jedenfalls weit, weit weg von der kleinen korsischen Stadt Evisa, in der die Gedankenkette in den „Moments musicaux“ ihren Ausgang nahm, zu der sie aber nie mehr zurückkehrte, obwohl dort doch noch ein halb getrunkener Pastis auf dem Tisch des café des cports steht, obwohl die dort kurz durch denText huschende „seltsam theatralisch wirkende weibliche Person“ und das sich in ihrem Gefolge befindliche „halbwüchsige Schwein“ der neuerlichen Erwähnung harren und obwohl dort doch noch die bereits aufgeworfene Frage geklärt werden müsste, ob der alte Mann, der neben Sebald der einzige Gast des Cafés ist, tatsächlich blind ist, wie sein Blick vermuten lässt, oder ob er nicht doch auch die Frau und das Schwein beobachtet hat, wie der Erzähler bereits anzudeuten scheint. Hätte nun also dieser Text, dessen mäandernde Gedankengänge mir wie ein Schnelldurchlauf durch den ungeheuren Fundus der Sebaldschen Imagination erscheinen, am Ende eines diesen Namen verdienenden Nachlassbandes gestanden, so wäre Sebalds Stimme gleichsam in der Schwebe geblieben zwischen dem café des sports in Evisa, wo sein Regenmantel noch über der Stuhllehne hängt, und dem Hotelzimmer in Bregenz, an dessen Türknauf noch immer das Schild „Bitte nicht stören“ hängt und das hoffentlich für immer ungemacht bleibt.
Bei der Erwähnung des Ortsnamens „Evisa“ gleich zu Beginn der moments musicaux hat sich mir ein Erinnerungsbild aufgetan an meine erste Korsikareise im Sommer 1994 oder 1995. Nach einer launischen und streunenden Fahrt mit unserem altgedienten Talbot Kastenwagen durch die schroffe Gebirgslandschaft im Inneren der Insel, sind auch meine Freundin und ich damals um die Mittagszeit in einem Ort angelangt, und sind auch wir dort in die am Dorfplatz gelegene wohl einzige Bar des Ortes eingekehrt, in der um diese Zeit ebenfalls sowenig Betrieb war, dass sich das an der Tür baumelnde Schild „ouvert“ lediglich auf diese Tür zu beziehen schien und keinesfalls implizierte, dass man in dem Etablissement auch bedient würde. Der Barraum war groß und mit reichlich Tischen und Stühlen ausgestattet, so dass man sich vorzustellen versuchte, wie hier zu Stoßzeiten an die 200 Gäste Platz gefunden hätten. Die Fensterfront ging auf den Platz, wo im Schatten einiger Bäume ein paar ältere Männer Boule spielten, wie ich mich deutlich erinnere. Woran ich mich weniger deutlich erinnere, ist wer oder was sich im Inneren des Cafés befand, als wir eintraten, aber es kauert sozusagen am Rande meines Erinnerungsbildes eine vage Gestalt, wie ich glaube ein junger Mensch, der sich dort aufhielt und einer Beschäftigung nachging, die im rustikalen Ambiente eines korsischen Bergdorfes irgendwie modern und weltgewandt sich ausmachte, wahrscheinlich weil dabei irgendeine vergleichsweise neue technische Spielerei zum Einsatz kam. Vielleicht focht ein Junge an einem der Geldspielautomaten einen Krieg der Sterne, oder vielleicht saß an einem Ecktisch eine junge Studentin mit einem Laptop in eine französische Ausgabe von Freuds „Traumdeutung“ vertieft. Ich weiß es nicht mehr.
Alleine waren wir jedenfalls schon beim Hereinkommen nicht, und deutlich erinnere ich mich dann wieder, dass wir, nachdem wir wohl beide einen Milchkaffee bestellt und auch kredenzt bekommen hatten, uns eine Weile mit dem Schreiben von Postkarten und Tagebuchnotizen die Zeit vertrieben, bis dann schließlich mit einem mal die Tür aufgetan wurde und eine größere Gruppe älterer Männer, zum Teil die selben, die eben noch draußen Boule gespielt hatten, den Raum betraten, schlurfenden aber zielstrebigen Schritts einige der zahlreichen Tische besetzten und dass sodann auf jedem dieser Tische ein Schachbrett aufgebaut wurde und noch bevor der Kellner alle Tische mit den bestellten Getränken hatte versorgen können schon überall jeweils zwei der Männer, das Kinn in die Handfläche, die andere Hand aufs Knie gestützt oder über dem Spielbrett schwebend, ein Spiel begonnen hatten. Ich erinnere mich, dass ich bei dieser Gelegenheit heimlich und ein bisschen verschämt, wie mir jetzt scheinen will, ein paar Fotos gemacht habe, vielleicht hat auch meine Freundin sie gemacht, zumindest erinnere ich mich, Fotos gesehen zu haben von diesem Café und den über die Schachbretter gebeugten und allem anderen entrückten Männern. Ob nun dieser Ort Evisa hieß, kann ich nicht mehr sagen, es scheint mir aber, als müsste es sich rausfinden lassen, etwa indem ich die Tagebuchaufzeichnungen fände, die ich an dem besagten Nachmittag getan hatte oder aber wenn ich die Fotos fände, von denen eines, wie ich mich zu erinnern glaube, bei der Einfahrt in den Ort entstanden ist und einen Esel an einer Bushaltestelle zeigt. Vielleicht ist auf diesem Foto auch das Ortsschild zu erkennen. Zum Teil lässt sich meine Ernüchterung am Ende der moments musicaux wohl damit erklären, dass der Erzähler bis zum Schluss nicht mehr in das café des sports zurückkehrt und dort wie gesagt alles stehen und liegen lässt, wie er es nach den wenigen einleitenden Sätzen eingerichtet hatte. Ich hätte gerne noch etwas mehr über den Ort und das Café, insbesondere über die theatralische Erscheinung der Frau mit dem Schwein erfahren und hätte gerne noch eine Weile auf die Freude gehofft, von Sebald mit irgendeinem Bild versorgt zu werden, etwa mit dem Bild eines an einer Bushaltestelle stehend die Mittagshitze verdösenden Esels.
Etwas in der Schwebe belassen am Ende der „Moments musicaux“ habe ich sogleich weiter gelesen in Campo Santo, obwohl ich mir vorgenommen hatte, mir die wenigen noch verbleibenden Seiten Sebald Lektüre in mehrere kleine Häppchen zu unterteilen. Schon auf der dritten Seite des folgenden „Versuchs der Restitution“ bin ich auf die Erwähnung des „kopfkranken Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber“ gestoßen, eine der wenigen unter den vielen Personen, die mich in letzter Zeit beschäftigt haben, auf die ich nicht durch eine Erwähnung ihres Namens in einem Sebald Text aufmerksam wurde. Hier erfolgt nun also nachträglich auch noch die Einordnung Schrebers in das Figurenensemble der Sebaldschen Prosa, und wie könnte es anders sein, als dass der entsprechende Textabschnitt mit der Bemerkung endet, vieles von dem, was er, Sebald, geschrieben habe, gehe auf einen Schreber darstellenden Stich des Malers Jan Peter Tripp zurück, den dieser ihm einmal persönlich geschenkt habe. Die Ähnlichkeiten zwischen der Darstellungstechnik Tripps und seiner eigenen Schreibe, schreibt Sebald, lägen „in der Art des Verfahrens, im Einhalten einer genauen historischen Perspektive, im geduldigen Gravieren und in der Vernetzung, in der Manier der nature morte, anscheinend weit auseinander liegender Dinge.“