Nichts verkommen lassen

Die Sammler und die Sammlerin von Agnes Varda

Ein Gemälde von Francois Millet zeigt eine Gruppe Frauen auf einem Stoppelfeld, die sich nach einzelnen Kornähren bücken. Die Ernte ist vorbei, die Frauen sammeln die spärlichen Reste auf. Sie sind „glaneurs“, Sammlerinnen. Diese Art der Nachlese war für die arme Landbevölkerung lange Zeit ein wichtiger Beitrag zum Lebensunterhalt. Auf einem anderen Bild aus der derselben Epoche von Jules Breton sieht man eine aufrecht stehende Frau mit einem Bündel Ähren auf der Schulter und einem Blick, der die Erschöpfung zeigt, aber auch den Stolz über das Tagwerk: „La glaneuse“ – die Sammlerin. Agnes Varda hat sich auf die Suche nach den Erben dieser Frauen begeben. In einer spielerischen Metamorphose tauscht die Grande Dame der Nouvelle Vague das Ährenbündel gegen die handliche Digitalkamera ein und wird selbst zur Sammlerin.

Sie trifft Menschen, die auf den Kartoffelfeldern einsammeln, was durch das Raster der Erntemaschinen gefallen ist. Sie folgt Sammlern in die Weinberge, wo sie die Reben ernten, die aufgrund der Quotenbegrenzungen hängen bleiben mussten. Sie spricht mit Winzern, die das lächelnd hinnehmen – und solchen, die den Überschuss gezielt vernichten, um ihre Geschäftsinteressen zu wahren. Sie trifft auf traurige und amüsierte Sammler, sieht die Scham in einigen Gesichtern, aber auch den Stolz in anderen. Sie trifft einen Künstler, der aus dem Sperrmüll seiner Nachbarn Installationen macht. „Was auf dem Müll landet, hat bereits eine Existenz. Man will es nicht mehr, aber es lebt. Es braucht nur eine zweite Chance.“

Die Semantik der Konsumgesellschaft steht allzeit bereit, sich von den Waren auf die Menschen zu übertragen. Zu groß, zu klein, zu viel, zu wenig, alt, hässlich, kaputt. Die Kriterien, nach denen Dinge zu Müll werden, sind ebenso mannigfaltig wie die Motive derer, die sie dennoch aufsammeln. Bisweilen hat ihr Leben zwangsläufig die Formen dieser Geste angenommen: das Spähen, das Bücken, das Greifen und Taxieren. Die Romantik, die das Sammeln in den Gemälden von Millet und Breton umgibt, ist heute nur noch schwer auszumachen. Wer sich nach dem bückt, was als Abfall oder Ausschuss zurückgelassen wurde, dem haftet sich mit der Beute rasch der Nimbus an, sich die Hände schmutzig zu machen. „Man schlägt sich durch“, fasst ein arbeitsloser LKW-Fahrer seine Situation zusammen. Schmutzige Hände sind dabei seine geringste Sorge: „Die kann man waschen.“

An der Atlantikküste hat es eine Springflut gegeben. Als sich das Meer zur Ebbe zurückzieht, kommen die Sammler und holen sich die Austern, die der Sturm den Zuchtbänken vor der Küste entrissen hat. Die Züchter lassen es geschehen. Ohnehin scheint keiner genau zu wissen, wie die Rechtslage in solchen Fällen ist. „Drei Kilo pro Person“, sagt einer. Ein anderer schaut auf seine Hände und meint: „Zwei Eimer“. Auch wo die Grenze verläuft zwischen öffentlichem Strand und Zuchtgebiet, ist Auslegungssache. Oft findet das Sammeln in einer juristischen Grauzone statt, zumindest glauben das die Sammler.

Agnes Varda findet einen Richter, der ihr bereitwillig die Gesetzeslage erklärt und sich dafür fotogen in einem abgeernteten Blumenkohlfeld platzieren lässt. Das Recht ist in den meisten Fällen auf der Seite der Sammler. Dass sie sich auf fremdem Terrain bewegen, bleibt zweitrangig, solange sie die offiziellen Erntezeiten respektieren. Das Kaleidoskop aus günstigen Gelegenheiten und Leuten, die sie ergreifen, gewinnt eine derartige Vielfalt, dass das Sammeln als eine grundlegende Geste des Lebens erscheint. Denn wo immer diese Geste auftaucht, verweist sie auf ein Grundbedürfnis. Wenn sich auch die Art der Befriedigung unterscheidet, so verbindet doch alle Sammler die Freude über den Coup, den sie gelandet haben.

Agnes Varda hat es sich für diesen Film zweimal überlegt, was als Abfall unter dem Schneidetisch landen soll. Aus dem Versehen, die Kamera einmal nicht ausgeschaltet zu haben, wird so ein minutenlanger „Tanz des Objektivdeckels“, in den Schimmelflecken an der Decke sieht sie die Schönheit abstrakter Gemälde und die Falten ihrer Hände erinnern wie von selbst an die runzeligen Kartoffeln, die sie auf einem Feld aufgelesen hat. „Wir lassen nichts verkommen“, benennt einer der Sammler sein Credo. Die Bereitschaft, auf das Zufällige, Abwegige und Mangelhafte nicht leichtfertig zu verzichten, verschafft Vardas Film eine äußerst sympathische Nähe zu den Protagonisten.

Man könnte geneigt sein, die selbstreferenzielle Verspieltheit als prätentiös auszulegen. Jedoch hält sich diese Intuition die Waage mit einer anderen: Eine ökonomischere Zusammenstellung des Materials hätte eine unangemessene Distanz geschaffen zwischen den auf ihre Gelegenheit lauernden Sammlern und einer souverän agierenden Kamera. Agnes Varda hat sich entschieden, die körperlichen und intellektuellen Gesten der Sammler mit ihrem Film zu zitieren. Sie präsentiert ihre Bilder als Beute, die sich ebenso dem Zufall verdankt, wie die Coups der Sammler und Sammlerinnen. Mit ihrer Unbefangenheit erinnert sie dabei an ein Kind, das seiner Umwelt nacheifert und sich so ins Handwerk des Lebens tastet. Was es heißt, sein Handwerk zu verstehen, zeigt sich bei Agnes Varda an der Freude, mit der sie es ausübt. Es ist die Freude über den Coup, zur richtigen Zeit mit dem richtigen Blick an den richtigen Orten gewesen zu sein.


erschienen in der Freitag, Dezember 2001