Phantomschmerz Grenze

Der Name „Arbeiter- und Bauernstaat“ wurde im Westen mit einem deutlich verächtlichen Unterton, aber dennoch gerne gebraucht. Ich glaube, das lag weniger daran, dass man die DDR nicht mochte, sondern daran, dass die Begriffe „Arbeiter“ und „Bauer“ einen schlechten Leumund hatten. Die bürgerliche Aversion gegen die arbeitende Bevölkerung als Masse liegt auch in den TV-Bildern aus dem Herbst 1989, die uns seit 14 Jahren jeden November wieder auf allen Kanälen gezeigt werden. Die Bildstrecken von sich öffnenden Toren, von Trabbikolonnen, winkenden Spalieren, von Soldaten, die sich ein Lächeln nicht verkneifen können, von sächselnden Rededuellen im weißkalten Licht der Grenzscheinwerfer, von Stahlbetonsegmenten, die wie faule Zähne aus der Mauer gehoben werden, und schließlich von Menschenmengen, die sich wie verschüttete Milch auf das asphaltierte Niemandsland zwischen den Grenzposten verteilen. Wenn man sich diese Bilder immer wieder vorspielt, erkennt man alsbald ihren tieferen Sinn: eine meuternde Menge wird freigelassen.

Fabriktore öffnen sich

Eines der ersten Bilder der Filmgeschichte ist das Bild einer Fabrikbelegschaft in Lyon, die aus dem Werkstor strömt. In dem 45-Sekunden-Film Arbeiter verlassen die Fabrik, den die Gebrüder Lumière 1895 in ihrer eigenen Fabrik gedreht haben, geht es vor allem um die Darstellung der Bewegung einer Masse. 100 Jahre später hat Harun Farocki einen gleichnamigen Film montiert, der den Spuren dieses Anfangsbildes durch die Filmgeschichte folgt. In einer Notiz zu seinem Film schreibt Farocki: „Beim Lumière-Film kann man entdecken, dass die Arbeiter hinter den Toren aufgestellt waren und auf ein Kommando des Operateurs hin herausdrängten. Bevor die Filmregie verdichtend eingriff, war da zunächst die industrielle Ordnung, die das Leben der vielen einzelnen synchronisiert hatte.“ Etwas weiter schreibt Farocki: „Das Werkstor formiert die von der Arbeitsordnung vergleichzeitigten Arbeiterinnen und Arbeiter, und diese Kompression erzeugt das Bild einer Arbeiterschaft.“

Ich finde, die Bilder von den Menschen, die am 9. November 1989 die Grenze zwischen der BRD und der DDR überschritten haben, gehören in die Bildtradition, der Farocki hier nachspürt. Wie dort das Fabriktor, so sind es hier die Grenzöffnungen, die choreographierend auf die Masse einwirken. Und so wie das Lumière-Bild von außerhalb des Fabriktors gemacht wurde, also von einem Standpunkt außerhalb der Werksdisziplin, so sind auch die meisten Bilder von der Maueröffnung vom Westen aus gedreht. Das erste, was den Eingeschlossenen in der „Freiheit“ begegnet, ist hier wie dort die beobachtende Kamera. Als müsse das bedrohliche Potenzial der Massenbewegung sogleich durch den Medusenblick der Kamera gebannt werden. Revolutionär sollte das Bild der die Fabrik verlassenden Arbeiter ja lediglich für das Medium sein, mit dem es eingefangen wurde. Harun Farocki notiert: „Die gemeinschaftliche Erscheinung währt nicht lange. Gleich nachdem die Arbeiter durch das Tor sind, verlaufen sie sich zu Einzelmenschen – und es ist diese Seite ihrer Existenz, die von den meisten Erzählfilmen aufgegriffen wird.“

Gemäß eben dieser Erzähltradition haben sich auch in dieser 89er Nacht die Kamerateams bemüht, die Wege der Einzelmenschen ein Stück weit zu verfolgen: auf den Kudamm, zu den Banken, wo das Begrüßungsgeld ausgezahlt wurde, und in die Beate-Uhse-Läden. Unverkennbar ist der Versuch, den historischen Moment, den man filmt, umgehend zu profanisieren und seines revolutionären Potentials zu berauben. Wer nichts besseres zu tun hat, als auf den Kudamm zu rennen, der kann uns nicht gefährlich werden. „Nur bisschen gucken, dann geht´s wieder zurück“, verspricht jemand der Kamera und man ahnt, wie rasch der revolutionäre Dampf verfliegen würde.

Grenzkomparsen

Die interessanteste Parallele zwischen den Wendebildern und den die Fabrik verlassenden Arbeitern zeigt sich aber in Farockis Hinweis, dass die Menge sich offenbar erst auf ein Kommando hin in Bewegung gesetzt hat und kaum, dass die Tore sich öffneten, bereit war, diese Kumpanei vor der Kamera wieder zu leugnen, indem sie sich natürlich gab. Das Beunruhigende dieser Entdeckung liegt nicht so sehr in der Bereitschaft zu schauspielern, sondern in der von Farocki erwähnten voraufgehenden Ordnung, die diese Bereitschaft so exakt antizipierte, dass noch der Bruch als ein Bestandteil der Ordnung erscheint. Über die Arbeiterinnen und Arbeiter in dem Lumière -Film sagt Farocki: „Die Ordnung entließ sie zu einem bestimmten Zeitpunkt.“ Ähnlich trocken ist man heute geneigt, auch die Bilder vom Herbst 1989 zu kommentieren – zumindest dann, wenn man immer noch wütend ist, dass von der „friedlichen Revolution“ so gut wie nichts im Westen angekommen ist, der ja Ende der achtziger Jahre kaum weniger überholungsbedürftig war als die DDR.

Je länger man, etwas wütend also, die Bilder betrachtet, die eine Chronik der Wende sein wollen, desto weniger mag man sich des Eindrucks erwehren, dass die Menschen hier lediglich Grenzübertritts-Komparsen sind, die auf das missverständliche Signal von Herrn Schabowski hin ihre Rolle spielen. Auch die erregten Dispute mit den Grenzern bekommen dann einen zweiten Sinn: Die einen wollen „Action!“ gehört haben, für die anderen hat es sich angehört wie „Noch nüscht.“ So wie die Grenzübertreter waren schließlich auch die Grenzhüter an diesem Tag zu Komparsen geworden. Ihnen hatte man allerdings ihren Text nicht verraten. „Hier passiert heute nichts mehr“, ruft ein Grenzer mit gespielter Autorität der Menge zu, die sich geduldig den Atem in die Hände bläst. Falscher Text.

Gespenster außer Dienst

Ein Freund hat mir gegenüber neulich den etwas seltsamen Verdacht geäußert, dass viele ehemalige Grenzer noch immer ihren täglichen Dienst versähen. Der Gedanke hat sich festgesetzt: Längst abgedrehte Komparsen, die nicht mehr aus ihrer Rolle herausfinden, der Dackel an der Leine ist nur ein Requisit, und der scheinbare Spaziergang entlang des mittlerweile begrünten Mauerstreifens ist der tägliche Wachgang auf den ausgetretenen Pfaden der eigenen Biographie. Wo früher die Wachstube war, steht vielleicht heute eine Dönerbude und der Grenzer a. D. wird niedrige Blicke über den Becherrand werfen, während er sich am Kaffee die Hände wärmt. War das etwa alles nur Kulisse?

Ein angemieteter Konferenzsaal in Berlin-Lichtenberg an einem Samstag Vormittag. Am Eingang sitzt ein vierköpfiges Komitee, das die Namen der Eintretenden mit denen auf der Anmeldeliste abgleicht. Auf den Tischen stehen Schildchen mit Abkürzungen: „Org-Gruppe“, „AG Grenze“. Das Durchschnittsalter der Anwesenden liegt bei 70, es gibt Kaffee und Bockwurst. Es ist das Herbsttreffen der „Arbeitsgruppe ehemalige Angehörige der GT der DDR“. GT steht für Grenztruppen. Wenige wurden vom Ende der DDR so brutal auf dem falschen Fuß erwischt, wie diese ehemals hochdekorierten DDR-Militärs. Mehr noch als der Glaube an den Staatssozialismus wird ihnen der soldatische Gehorsam, der die eigene Biographie an die politische Existenz des Staates vereidigt, zur Erblast geworden sein, unter deren plötzlichem Gewicht nicht wenige zusammengebrochen sind. Das Volk hatte tatsächlich mit den Füßen abgestimmt, und die hier Versammelten fühlen sich wie die unschuldigen Opfer dieses stumpfsinnigen Getrampels. Nicht mehr gebraucht zu werden, ist hart. Man kann sich vorstellen, wie der Phantomschmerz so umfassend wird, dass man gar nicht umhin kann, in ihm einen neuen grimmigen Lebenssinn zu entdecken. Längst nicht allen wird das gelungen sein. Wer an diesem Nachmittag nach Lichtenberg gekommen ist, gehört zu den Überlebenden.

Der Historiker Wilfried Hanisch stellt sein Eröffnungsreferat unter die tröstliche Prämisse, dass die Traditionen der Grenztruppen schon deshalb nicht zu den Akten zu legen seien, weil sie die Identität vieler Menschen entscheidend geprägt hätten. Die DDR, meint er, sei immerhin „die Verwirklichung eines historischen Sehnens“ gewesen. „Einen solchen Staat zu verteidigen, kann auch heute nicht ehrenrührig sein.“ Der wunde Punkt ist kaum zu verfehlen, denn wie der Redner selbst sind alle der hier Versammelten „a. D.“, außer Dienst, auf eine endgültige und letztlich vernichtende Art nicht nur von ihren Dienstpflichten, sondern von der Sinnhaftigkeit ihrer Biographien entbunden, ad acta gelegt. Dennoch bringt es einer fertig, den Genossen und Genossinen für einen Moment vorzugaukeln, die Zukunft läge noch vor ihnen. Mit erhobener Faust beendet er seine Rede: „Vorwärts zum 60. Jahrestag der Grenztruppen der DDR!“

Die Helden dieses Gespenstertreffens sind die Grenzer, oder vielleicht sogar die Grenze selbst. Eine Linie, die nur im „imperialistischen Westen“ „innerdeutsche Grenze“ hieß, und von der es manchmal heißt, dass sie noch heute das Land und die Köpfe teilt wie diesen Satz. Nicht einsperren sollte die Grenze, sondern aussperren und zwar die imperialistische Piraterie. Man könnte fast meinen, die DDR sei eine radikale und besonders großgewachsene Form der „gated community“ gewesen. Von dieser Warte aus liest sich Selbstschussanlage wie Selbstschutz. Und wenn von Schuld die Rede ist an diesem Nachmittag, dann sind es die Schulden, mit denen diejenigen Genossen belastet sind, die die Siegerjustiz seit 1993 vor den Kadi gezerrt hat.

„Geschlossene Gesellschaft“ stand an der Tür und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Geschlossenheit dieser Gesellschaft etwas Hermetisches hat. Wer sich die Grenze zum Maskottchen gemacht hat, der hat die Hoffnung längst aufgegeben, dass es dahinter irgendwie weiter gehen könnte. Was so unsäglich wehtut ist, dass die Grenze einem so furchtbar nah auf der Pelle hockt, wo alle anderen so tun, als gäbe es sie nicht mehr. „Die geht jetzt mitten durch mein Leben, die Scheiß-Grenze“, sagt eine von Jan Polleschs Wutmarionetten im Tiger von Singapur. Gemeint ist da zwar die Globalisierung und der sie flankierende permanente Krieg, aber ich musste dabei an diese Grenzer denken, und fast kommt es mir so vor, als ob diejenigen, die sich vor Gericht aburteilen lassen mussten noch besser dran waren, als diese hier, die sich in der gleichen Freiheit wissen wie all die Touristen, die im Haus am Checkpoint Charlie einem VW-Käfer unter die Haube starren, unter der einmal einer in den Westen entwischte.

„Gleich nachdem 1895 das Kommando zum Verlassen der Fabrik erteilt worden war, strömten die Arbeiterinnen und Arbeiter los“, schreibt Farocki, „und wenn sie einander auch manchmal in den Weg traten, so ist die Gesamtbewegung doch zügig, und niemand bleibt zurück. Dies vielleicht, weil es vor allem galt, Bewegung darzustellen.“ Nachträglich erkennen wir, schreibt Farocki, „dass die Entschiedenheit der Bewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter repräsentativ ist, dass die sichtbare Menschenbewegung stellvertretend steht für die abwesenden und unsichtbaren Bewegungen der Güter, Gelder und Ideen, die in der Industrie zirkulieren.“ Aber warum schließt Farocki seine Bemerkungen mit dem Satz: „Zeichen werden nicht in die Welt gesetzt, sondern im Wirklichen aufgegriffen. Als teile die Welt aus sich heraus etwas mit.“ Vielleicht wären wir lieber alle Komparsen des Welttheaters, als den Gedanken zu ertragen, ein paar von uns würden Regie führen.


erschienen in der Freitag, Januar 2004