Post aus dem Diesseits

Post aus dem Diesseits

Man muss sich etwas bücken und genau hinsehen, um die auf der Postkarte abgebildete Szene zu erschliessen: merkwürdig erregte Gesichter, leicht überbelichtet, suchen die Zeugenschaft der Kamera und bilden dabei eine Schneise. In der Bildmitte wird der Anlass der Erregung preisgegeben: von einem Ast hängt an einem Seil der gefesselte, halbnackte Leichnam eines Mannes. Auf einem anderen Foto hält sich die Menge gedrängt im Hintergrund, nur einer lehnt lässig an einem Mast: in den Bildvordergrund hängt eine grotesk erstarrte Form, die erst auf den zweiten fassungslosen Blick als ein verkohlter menschlicher Torso erkennbar ist.

In den Ausstellungsräumen der New Yorker Historical Society ist derzeit unter dem Titel „Without Sanctuary“ – etwa: „ohne Ruhestätte“ – eine in ihrer Wirkung einzigartige Sammlung zu sehen. Der Antiquitätenhändler James Allen hat über mehrere Jahre hinweg Postkarten gesammelt, die meist an Afroamerikanern verübte Lynchmorde dokumentieren. Meist von professionellen Fotografen gemachte, häufig als Grusskarten stilisierte Erinnerungen an eine Zeit, als Selbstjustiz vor allem in den amerikanischen Südstaaten zum stolzen Selbstverständnis vieler weisser Amerikaner gehörte. Die jüngsten Dokumente sind aus den 50er Jahren.

Den Blick des Betrachters hält der besinnungslose Hass gebannt, von dem die entstellten Leichname gezeichnet sind. Die sparsamen, aber erhellenden Erläuterungen zu den einzelnen Fotos, die Tatsache dass es sich tatsächlich um Postkarten handelt – viele tragen noch die süffisanten Kommentare der Absender -, der gesellschaftliche Humus, der sowohl die Morde, als auch das ekelerregende understatement der Fotos hervorbrachte – all das verdichtet sich beim Gang durch die Ausstellung zu einer starken Beklemmung. Schon allein die Verfügbarkeit der Zeugnisse als Ausstellungsstücke und ihre fast lückenlose Datierbarkeit verdanken sich ja der einst breiten Akzeptanz dessen, was hier dokumentiert wird. Einige der Postkarten überlebten still neben Hochzeits- und Urlaubsfotos in Familienalben.

Das Schweigen im Ausstellungssaal wird nur gelegentlich von einem der Bildschirme unterbrochen, an denen die Stimme des Sammlers James Allen die traurige Odysee erzählt, die ihn im Lauf der Jahre in den Besitz der Postkarten und auch in Kontakt mit denen brachte, die sie als Souvenirs wertschätzten. „In Amerika ist alles käuflich, sogar eine nationale Schande“, resümmiert die Stimme, wann immer jemand an die Maustaste kommt.

Die Sprachlosigkeit angesichts dieser Bilder gilt vor allem den teils vergnügten, teils beinahe lasziven Blicken derer, die sich ohne jede Scham nach vollbrachter Tat verewigen liessen – und einem heute mit dieser Schamlosigkeit ins Gesicht sehen können. Die offene Kumpanei in den Blicken der Täter und Schaulustigen entlarvt den Augenzeugen hinter der Kamera. Und an diesen blinden, keinesfalls unschuldigen Fleck tritt gemäss der Dynamik eines jeden Fotos der heutige Betrachter.

Tobias Hering


Erschienen in der taz vom 25.04.2000.