Puis une étrange majorité de passagers africains … die Mehrzahl von ihnen merkwürdigerweise Afrikaner
An dem Tag, als ich geboren wurde,
kamen viele Geschichten meines Lebens zur Welt.
— May Ayim (1)
1
In der 8. Ausgabe der Quartalszeitschrift Revue Noire (2) erschien im Sommer 1993 ein Text von Abderrahmane Sissako zu seinem Film Oktjabr (Oktober), der im selben Jahr auf dem Filmfestival in Cannes gezeigt wurde.
„Oktober, Oktober, Himmel, schwarzer Himmel, ein Himmel, in dem Vögel fliegen, immer mehr Vögel kommen ins Bild und sie kommen immer näher und dann wird ihre Schwärze zu einem dicken Rauch, durch den sich die Kamera langsam auf eine Stadt niederlässt, die in Wirklichkeit nur eine Vorstadt ist, der Stadtrand mit seinen größtenteils aufgelassenen Gleistrassen und riesigen Masten, die am rechten Bildrand ein Birkenwäldchen begrenzen, das sich von hier ins Unendliche erstreckt im Schatten einer Stadt im November, Moskau.“
Bald kommt eine Bushaltestelle ins Bild „und im Schutz dieser Bushaltestelle, die sich von denen in der Innenstadt sichtbar unterscheidet, einige Wartende, nicht sehr viele, die aber bereits ungeduldig sind, vielleicht weil die erste Winterkälte sie plötzlich erwischt hat. Sie warten zweifellos schon sehr lange und man sieht nun, dass die Mehrzahl von ihnen merkwürdigerweise Afrikaner sind.“
An einem Tag im Jahr 1980 begegneten sich in einem Zug von Moskau nach Rostov am Don Abderrahmane Sissako und Afonso Baribanga. Der eine hat mauretanische und malische Eltern, der andere ist Angolaner. Sie gehören zu den vielen Afrikanern, die nach der Befreiung ihrer Länder von den westlichen Kolonialregimen in der Sowjetunion studieren sollen. Vor dem eigentlichen Studium mussten alle ausländischen Studenten zwei Jahre Russisch lernen und wurden dafür zumeist nach Rostov am Don geschickt. Sissako hat anschließend Filmregie an der staatlichen Filmhochschule VGIK in Moskau studiert, Baribanga wahrscheinlich Ökonomie oder ein Ingenieurfach. Über Sissako wissen wir mehr, denn er gehört heute zu den international bekanntesten Filmemachern des Kontinents. Von Baribanga hingegen wissen wir eigentlich nur aus einem Film von Sissako.
„Diese Leute fallen sofort auf unter den wenigen russischen Vorstädtern, die es sich nicht nehmen lassen – sicherlich unbewusst -, die notwendige Distanz zu halten zu jedwedem ‚Ausländer’, wie das Russische alle Nicht-Russen nennt: auf einer Seite ein Russe, zwei Vietnamesen neben zwei Schwarzen, eine Frau sitzt auf einer zerbrochenen Bank in dem Unterstand und ein alter Mann liegt auf dem Gehweg. Langsam fährt die Kamera die stummen, erstarrten Gesichter ab und schnappt dann wie zufällig einen Bereitschaftswagen der Miliz auf, der offenbar darauf gewartet hat, dass sich ein Betrunkener zeigt, oder dass sonst jemand gegen irgend ein Verbot verstößt: als die Miliz aus dem Bild fährt und sich die Gesichter wieder entspannen, fährt die Kamera zurück und der rückwärts laufende travelling shot enthüllt, dass der Mann, der eben noch auf dem Gehweg lag, verschwunden ist, als hätte man ihn weggezaubert.“
Sissako beschreibt hier einen Teil der Eingangssequenz von Oktjabr, der sein Abschlussfilm an der VGIK war und mit dem er auch Abschied nahm von dem Land, das gerade aufhörte, die Sowjetunion zu sein. Er beschreibt die Szene, wie er sie sich vorstellte, wie er sie offenbar drehen wollte. Die Bildfolge, die dieser Text evoziert, weicht jedoch etwas ab von der im fertigen Film. Während Sissako sich einen Sprung oder sogar eine kontinuierliche Bewegung von der Totalen in die Nahaufnahme gewünscht hatte, kommt die Kamera in dem, was dann in Oktjabr zu sehen ist, den Figuren dieser Szene nie nahe genug, als dass die Starre ihrer Gesichter oder ihre Hautfarbe erkennbar würde. Nur wenn man darauf gefasst ist, erkennt man in der Halbtotalen von der Bushaltestelle drei Schwarze unter den Wartenden, aber die „merkwürdige Überzahl an Afrikanern“ bleibt ein Gerücht, oder vielleicht eine Wunschvorstellung Sissakos. An einer anderen Stelle dieser wohl autobiografischen Notiz beschreibt er die Einsamkeit, die einen Afrikaner in der UdSSR umfing, eine Einsamkeit, die er mit seinen russischen Nachbarn teilte, ohne dass daraus jedoch Nähe oder gar Solidarität erwachsen wäre.
„Die Welt eines Schwarzen in Russland ist eine ‚Zone’. So wird bekanntlich Tschernobyl genannt, und schon Tarkowskijs Stalker hat mit genau diesem Begriff zum Ausdruck gebracht, dass von Anfang an alles, absolut alles kontaminiert ist. Ein Schwarzer ist in Russland, weil er dort studiert, und das gilt natürlich auch für Idrissa, dem diese Geschichte gewidmet ist. Es gibt nicht eine afrikanische Frau, die außerhalb der ‚Zone’ auch nur eine Freundschaft geschlossen hätte, und ich kenne nur einige wenige Langzeitstudenten, die geheiratet haben in einem dieser militärisch-industriellen Komplexe, die man in Russland „Universitäten“ nennt.
In Oktober sehen wir, wie der Student Idrissa die ihm zugewiesene Zone, die Universität, für ein paar Stunden verlässt, um einen Augenblick der Zärtlichkeit zu haben, draußen in Russland, in einer Stadt die er kaum kennt. Für eine Nacht lebt er in der selben Angst, in der alle Russen leben. […] Und vielleicht ist seine Geschichte auch meine Geschichte.“
Als ich Stalker neulich (Sissakos Referenz folgend) seit langem mal wieder gesehen habe, setzten sich zwei Momente fest, die mir beim Schreiben dieses Textes im Kopf blieben. Kurz nachdem der Stalker, der Professor und der Schriftsteller in der „Zone“ angekommen sind und die Farbe in diesen Film eingekehrt ist, macht der Stalker seine beiden Gefährten darauf aufmerksam, dass in der Zone die Blumen überlebt haben, die es anderswo offenbar nicht mehr gibt, dass diese Blumen jedoch keinen Duft haben. Diese duftlosen Blumen erinnerten mich nun wiederum an eine der, wie ich finde, schönsten Passagen aus Edouard Glissants Essay „The Known, the Uncertain“ (3), in dem er die Landschaft in Martinique zum Ausgangspunkt für eine anti-koloniale Geschichtsschreibung der Karibik macht.
„Ich erinnere mich an die allgegenwärtigen Düfte, die durch die Welt meiner Kindheit wogten. Ich habe das Gefühl, dass damals das umgebende Land voll war mit diesen Düften, die einen niemals verlassen haben: der ätherische Geruch der Magnolien, die Essenz der Tuberose, die diskrete Anhänglichkeit der Dahlien, die verträumte Invasion der Gladiolen. All diese Blumen sind verschwunden, oder beinahe. Was die Gerüche betrifft, so ist an den Straßenrändern kaum noch etwas geblieben von den zuckerigen Teppichen der Mombinpflaumen, in deren Wirbeln man sich verlieren konnte, oder, an einigen Stellen entlang der Route de la Trace, von den delikaten, verführerischen Düften der wilden Lilien. Das Land hat seine Gerüche verloren. Wie fast überall auf der Welt.“
Diese Beschreibung eines Verlusts ist in etwa zur gleichen Zeit geschrieben, als Tarkowskij in der Nähe von Tallinn Stalker drehte und sich während dieser Dreharbeiten mehrere der Beteiligten – darunter, wie man vermutet, Tarkowskij selber – Vergiftungen zuzogen, an denen sie später starben.
„Die Blumen, die heute wachsen, werden für den Export angebaut. Geformt, makellos, von auffallender Präzision und Qualität. Aber sie haben auch Schwere, Fülle, Haltbarkeit. Sie halten sich zwei Wochen lang in der Vase. […] Diese Blumen erfreuen uns. Aber sie duften nicht. Sie sind nichts als Form und Farbe.“
Zum Schluss dieser Passage fragt sich Glissant, ob nicht die formvollendete, duftlose Blume „das Emblem unseres Wartens“ sei. „Wir träumen von dem, was wir in Zukunft anbauen werden, und wir fragen uns etwas unsicher, wie wohl der neue Hybrid aussehen mag, der schon vorbereitet wird für uns. Denn so oder so werden wir sie nicht mehr wieder entdecken, wie sie einmal waren, die Magnolien der Vergangenheit.“
Auf meinen bislang erst zwei Reisen in Länder der ehemaligen Sowjetunion ist mir neben vielem anderen für mich schwer Entschlüsselbarem auch aufgefallen, dass es in den Städten zahlreiche, meist sehr große Blumenläden gibt und dass diese oft 24 Stunden geöffnet sind. In Vilnius bin ich mitten in der Nacht einmal auf eine solche grell-erleuchtete, die Breite eines Häuserblocks einnehmende Blumentankstelle gestoßen, und in Odessa, Kiew und Tbilisi fiel mir auf, dass nicht nur Floristen, sondern auch Juristen, Apotheken, Werbemittelhersteller, Möbelgeschäfte und unzählige andere Etablissements mit einer „24“ im Logo werben, auch wo dies schwerlich die wörtliche Bedeutung haben konnte, dass sie tatsächlich zu jeder Tages- und Nachtzeit geöffnet haben.
Der andere Moment in Stalker, der sich beim nochmaligen Sehen festgesetzt hat, ist die Auskunft des Stalkers, dass in der Zone der gerade Weg niemals der kürzeste sei. Dass es unablässiger Umwege bedarf, um ans Ziel zu kommen, wozu im Verlauf des Films erschwerend die Einsicht hinzukommt, dass das Ziel das ist, was sich ein jeder darunter vorstellt.
2
Nach dem erfolgreichen Debüt mit Oktjabr bekam Sissako als nächstes das Angebot, eine Auftragsarbeit für die documenta X zu produzieren. Im Online-Archiv der documenta findet sich ein Dokument, in dem Sissako sein Filmvorhaben skizziert hat, eine Art Treatment, offenbar im Vorfeld der Dreharbeiten verfasst.
„Die folgenden Seiten enthalten einige Stichpunkte zu einer Reise, die ich machen und über die ich einen Film drehen möchte, den Dokumentarfilm Rostov-Luanda. Diese Notizen sind das Ergebnis einer mehrwöchigen Reise nach Angola zur Motivsuche und einer Reihe längerer Aufenthalte in Mauretanien und Mali. Der eigentliche Auslöser für dieses Projekt ist die Erinnerung an meine Begegnung mit Baribanga, einem jungen Studenten und Revolutionär aus Angola. Ich traf ihn vor jetzt sechzehn Jahren im Zug von Moskau nach Rostov am Don. Diese Erinnerung war sicher der Anstoß für die Suche, die im Mittelpunkt meines Projekts steht. Und sie bietet auch die Möglichkeit, das Geschehen des Films auf zwei Ebenen ablaufen zu lassen, die ineinandergreifen: der der Erzählung einer Begegnung mit Angola und der einer persönlichen Retrospektive, die der jüngsten Geschichte des afrikanischen Kontinents in einigen großen Linien folgt. Die Wahl dieser Darstellungsform wird mich im Laufe meiner Erkundung als Filmemacher sicher mit Situationen konfrontieren, die den Entwurf der Phantasie, den ein solches Projekt immer darstellt, in Frage stellen oder durcheinanderbringen.“
Trotz der Offenheit, mit der Sissako dieses Film-Projekt angeht, beschreibt das Treatment viele Elemente des späteren Films bereits recht genau. Auf der erwähnten Motivsuche entdeckt Sissako zum Beispiel das „Biker“, eine Bar mit Restaurant im Zentrum von Luanda, der dann in dem Film eine zentrale Rolle zukommt.
„Es ist nicht nur die älteste Bar der Hauptstadt, es ist ein Schauplatz, an dem man die Geräusche des täglichen Lebens der Stadt einfangen kann. Dieses Bauwerk vom Anfang des Jahrhunderts mit den beiden Verwaltungsgebäuden rechts und links ist ein Überbleibsel aus der Kolonialzeit, ganz so wie Roberto Passas es zu sein scheint, der siebzigjährige Besitzer, der dieses Lokal von seinem Vater übernommen hat. Man geht durch eine Tür hinein, durch eine andere wieder hinaus. Der Hauptsaal des Biker, dreihundert Quadratmeter, hat drei Öffnungen, die wie ein Kompass, der die Himmelsrichtungen der Hauptstadt anzeigt, auf die verschiedenen Aspekte ihres Tag- und Nachtlebens hinausführen. Drei Öffnungen, unterscheidbar jeweils durch das besondere Licht, das durch sie in den Raum fällt. Auf der einen Seite dringt das Markttreiben herein. Häufig kommen durch diese Tür irgendwelche Verkäufer mit seltenen Dingen, mit Waren aus der Provinz oder irgendwelchem Tand, den sie wer weiß wo aufgetrieben haben. Auf der anderen Seite kann man den Blick auf eine breite Straße hinausschweifen lassen oder die Gäste beobachten, die einzeln oder zu mehreren zu Roberto Passas kommen, wo sie immer willkommen sind.
An der Schwelle dieses Eingangs sah ich regelmäßig eine Gruppe würdevoller Frauen lagern, scheinbar gleichgültig gegenüber dem Getümmel um sie herum. Worauf warteten sie, so im Schatten von Wächtern? Sie kamen wahrscheinlich aus einer Provinz im Süden, wie ihre Kleidung vermuten ließ. Wie diese Frauen mit den entschlossenen und abwesenden Gesichtern hier lagerten, war ein rätselhaftes Zeugnis der vom Gesetz der Not und des Überlebens diktierten Irrfahrten der Menschen. Ein dritter Eingang, der Theke gegenüber, führt auf eine engere kleine Straße, die Straße der Bettler und Diebe, die mitunter einen verstohlenen Blick in die Bar werfen oder einen Fuß hineinsetzen. Je nach Tageszeiten ist das Biker Kantine oder Treffpunkt, wo man auf Soldaten, Polizisten, Händler, Bettler, Ärzte und Journalisten trifft. […] Das Biker wird unsere Anlaufstelle sein. Von da brechen wir auf, dahin kommen wir zurück, um wieder aufzubrechen in andere Stadtviertel oder in die Provinz. Hier warten wir, verabreden uns, treffen uns.“
Die allseitige Offenheit des Biker hat sich offenbar auf den ganzen Film ausgewirkt. Die Menschen, die in Rostov-Luanda vor der Kamera ihre eigene oder eine andere Geschichte erzählen, erscheinen eher hereingeschneit als eingeladen. Keiner der Gesprächspartner Sissakos wird eigens eingeführt oder gar mit einer Bauchbinde versehen. Bis auf wenige Ausnahmen bleiben sie namenlos, was sie jedoch keineswegs anonym werden lässt. Was sie sagen, gibt ihnen Kontur, macht sie unverwechselbar, auch wenn es skizzenhaft bleibt. Hinter unserem Blick verbindet sie Sissakos Suche nach seinem Freund Baribanga. Wenn auch keiner Baribanga kennt und er in den Gesprächen immer seltener zur Sprache kommt, so bleibt seine Abwesenheit gegenwärtig wie ein Gerücht. Allerdings hat die Skizzenhaftigkeit, in der auch er verbleibt, hier den gegenteiligen Effekt, denn sie macht ihn zu einer Schablone, die „wir alle sein könnten“, wie einer von Sissakos Gesprächspartnern ihm im Biker erklärt: „Ich habe auch in der Sowjetunion studiert, ich könnte er sein. Aber Afonso Baribanga?“ Nur der konkrete Name schließt die anderen aus, so scheint es.
Zur gelegentlichen Bekräftigung des Gerüchts, dass es Baribanga gibt und dass es eine Verbindung gebe zwischen ihm und allen anderen, bedient sich Sissako eines Fotos. Es ist ein Gruppenbild, auf dem die von der Russischlehrerin Natalia Lvovna damals in Rostov unterrichtete Klasse zu sehen ist. Alle die es ansehen, betrachten es lange und die meisten drehen es um und entdecken auf der Rückseite die kyrillischen Buchstaben, in denen Natalia Lvovna die abgebildeten Personen identifiziert hat. Es dauert eine Weile, bis auch wir das Foto in diesem Film oft genug gesehen haben, um es uns merken zu können. Natalia Lvovna steht in der Mitte, sie hält einen Blumenstrauß im Arm und lächelt. Der einzige, der außer ihr etwas in der Hand hält, ist Sissako. Er hockt vorne rechts und hat etwas Dunkles im Arm, das wie ein großes Plüschtier aussieht. Baribanga steht hinter ihm und blickt aus dem Halbprofil in die Kamera.
Einer der Menschen, denen Sissako auf seiner Reise begegnet, kommentiert das Foto ausführlich. Auch er kennt Baribanga nicht, aber er meint zu erkennen, dass die einzige Studentin auf dem Bild Kubanerin sei und er glaubt, noch einen weiteren Mann als Angolaner, einen anderen als Philippino identifizieren zu können. Es sei ein schönes Bild, sagt er, denn es zeige eine Gruppe junger Menschen aus allen Teilen der Welt, die gemeinsam studieren. Schade sei nur, dass sie in Moskau studiert hätten, wo ihnen wahrscheinlich nicht viel beigebracht wurde, was sie dann später hätten gebrauchen können. Es ist nicht ganz klar, ob er meint, dass man in Moskau nichts Anständiges lerne, oder ob er auf die Tatsache anspielt, dass die Leute auf dem Foto ihr Studium zu einer Zeit beendet haben, als das System, in dem sie studiert hatten, schon keine Konjunktur mehr hatte. Es ist auch nicht klar, ob ihm bewusst ist, dass einer der Abgebildeten der Mann ist, mit dem er spricht.
3
Rostov-Luanda ist ein Film über Angola, über ein afrikanisches Land, in dem erst kurz zuvor eine 30jährige Kriegszeit zu Ende gegangen ist. Auf den zehnjährigen Befreiungskrieg gegen das portugiesische Kolonialregime folgte ein verheerender Bürgerkrieg, in dem sich die kommunistische MPLA und die anti-kommunistische UNITA gegenüberstanden. Er war einer der vielen Kriege, in denen die Menschen auf der südlichen Erdhalbkugel den Preis dafür zahlten, dass die Blöcke des Nordens ihr fein tariertes Equilibrium halten konnten, das sie „Kalter Krieg“ nannten. Nach der kurzen Euphorie der Freiheit und der Selbstbestimmung haben diese Kriege die meisten afrikanischen Länder soweit verwüstet, dass sie reif waren für die Knebelpakete der Weltbank, die sie auf weitere Jahrzehnte, die meisten bis heute, unter das Joch der alten und neuen Kolonialmächte zwangen. Aber Sissako geht ohne Bitterkeit vor.
„Die Wirklichkeit Angolas ist einerseits so instabil, so unvorhersehbar und so anders als die Kultur Westafrikas, daß es eines geschärften Blicks bedarf, um jenseits des Pittoresken die Anzeichen der Brüche zu entdecken, die die gegenwärtige Situation des Landes prägen. Andererseits kommt die jüngste Geschichte Afrikas in eben diesem Land mit so chaotischer Gewalt zum Ausdruck wie sonst selten. Noch mehr vielleicht heute, wo nach dem Ende des Krieges deutlich wird, wie tiefgreifend die Spuren sind, die drei Jahrzehnte Kampf und Kriegskultur in dem Land und seiner Bevölkerung hinterlassen haben. Angesichts dieses Bildes von Chaos und Gewalt möchte ich versuchen herauszufinden, wieweit hierin nicht die besondere Situation der Menschen in Angola, sondern ein vielen afrikanischen Ländern gemeinsames Schicksal zum Ausdruck kommt.
Was ich hier mit wenigen Worten beschreibe, ist der Versuch, meine eigene Situation des Entdeckens und die Konfrontation zwischen der fiktiven und der sichtbaren Realität zu ‚inszenieren’. Diese Vermittlung durch einen klar identifizierten Blick, den Blick dessen, der seine eigene Entdeckung erzählt, scheint mir notwendig. Die Vermittlung erlaubt von Anfang an, in den Film die Differenzen einzuschreiben, die ihn erst möglich machen, die Differenz zwischen dem frankophonen und dem lusophonen Afrika, die Differenz desjenigen, der im Exil lebt, desjenigen, der sich zum Ziel setzt, zunächst einmal für sich selbst, Realitäten sichtbar zu machen, die ihm bisher verborgen waren.“
Was Sissako nicht wissen konnte, ist, dass die Suche nach Baribanga ihn schließlich nach Berlin führen würde. Die letzten Szenen von Rostov-Luanda sind in Berlin gedreht, wahrscheinlich im Oktober 1996. Wie ich erst vor kurzem festgestellt habe, gibt es von dem Film mindestens zwei verschiedene Schnittfassungen, deren Länge sich um mehr als zehn Minuten unterscheidet. Ich kannte bis dahin nur die kürzere, knapp achtzig Minuten lange, von der es in der Berliner Stadtbibliothek eine Videokassette gibt. Immer wieder einmal habe ich mir diese in den letzten Jahren ausgeliehen, um mir ein Detail ins Gedächtnis zu rufen oder eine vage gewordene Erinnerung zu verifizieren. Der Zustand der Kassette verschlechtert sich von Mal zu Mal, mittlerweile flackert das Bild, wabert stellenweise, als sähe man es durch ein transparentes, in den Wind gespanntes Tuch. Seit einiger Zeit schon verläuft über lange Strecken des Films vertikal durchs Bild ein blassgelber Balken und die übrigen Farben scheinen sich langsam zu verflüchtigen, oder im Gegenteil abnormal grell zu werden. Die Vermutung liegt nahe, dass während ich meine Erinnerung an den Film am Leben erhalte, sich die Lebenserwartung dieser Videokassette kontinuierlich verringert.
Am Tag vor seiner geplanten Abreise aus Angola trifft Sissako einen Mann, der ebenfalls in der Sowjetunion studiert hatte und der auf dem Foto aus Rostov einen Freund erkennt, mit dem er noch immer Kontakt hat. Sie unterhalten sich auf Russisch. „Erst gestern ist er nach Luanda gekommen“ – „Hierher? Totschno? Stimmt das?“ In gewisser Weise ist dies der erste Moment der Reise, in dem das Foto tatsächlich eine reale Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Rostov und Luanda herstellt. Sissako erscheint wie überrumpelt von seinem eigenen Vorhaben: plötzlich sind sich Hier und Jetzt wieder so nahe gekommen, dass realistisch erscheint, was einmal den Vorwand für diese Reise ausgemacht hatte und unterdessen fast in Vergessenheit geraten war.
Wohl noch am selben Tag trifft Sissako im Biker Cassange, den Mann, den sein vorheriger Gesprächspartner auf dem Foto erkannte und der womöglich Auskunft über Baribanga geben kann. Die Begegnung der beiden ist aus der Distanz mit Teleobjektiv gedreht, wie die meisten Szenen im Biker. Ein freudiges, lachendes Wiedersehen, auch sie sprechen Russisch. Ein Dritter steht daneben, dem Cassange die unerwartete Szene ins Portugiesische übersetzt. Und dann die Frage nach Baribanga. Baribanga arbeite oder lebe schon seit einiger Zeit in Deutschland, sagt Cassange. Sissako will wissen, ob er vor oder nach der Wiedervereinigung dorthin gezogen sei. Vor der Wiedervereinigung, sagt Cassange, in die DDR, aber nun sei es ja alles eins: Deutschland. Sissako fragt nach einer Adresse und Cassange sagt, er müsse sie heraussuchen. In welcher Stadt Baribanga lebe, will Sissako noch wissen. Die Frage bleibt im Raum.
Es folgt ein Schnitt auf einen Bar-Angestellten, der Bierfässer ins Biker rollt. Dann ein Panorama von Luanda unter einem dunstigen Himmel, in dem gerade die Sonne untergeht. Im nächsten Bild sitzen wir auf dem Rücksitz eines fahrenden Autos, durch dessen Windschutzscheibe wir sogleich die vorbeigleitende East Side Gallery erkennen, farbloser als heute (was auch am Zustand der Videokassette liegen mag), aber noch ohne Baulücken. Auf dem Beifahrersitz sitzt Sissako und hantiert etwas unbeholfen mit einem Falk-Stadtplan. Auch den Fahrer sieht man kurz im Profil, wenn er sich herüber lehnt, um Sissako etwas aus dem Fenster zu zeigen. In der Distanz ist der Speicher an der Oberbaumbrücke zu erkennen. Sie fahren ungefähr auf der Höhe, wo heute die „O2-World“ ihr giftblaues Maul aufreißt, und sie fahren nach Osten. Die Einstellung dauert nur etwa zehn Sekunden und sie beantwortet die Frage, die im Biker unbeantwortet blieb: In welcher Stadt?
Eine Fahrt entlang einer in der Mitte der Straße verlaufenden Gleistrasse, durch die Windschutzscheibe gefilmt. In einiger Entfernung verläuft über die Straße ein Verbindungsgang zwischen zwei Gebäuden. Die Backsteinarchitektur lässt vermuten, dass sie sich irgendwo in den alten Industrievierteln zwischen Ostkreuz und Schöneweide befinden, die damals zum großen Teil leer standen und in die mittlerweile allerlei Gewerbe eingezogen ist – Getränkemärkte, Kampfschulen, Surfershops, Möbelrestauratoren -, deren größter Teil allerdings zum erweiterten Campus der Hochschule für Technik und Wirtschaft geworden ist. Das nächste Bild verortet das Geschehen konkret auf dem Berliner Stadtplan, denn man sieht in Nahaufnahme ein V-förmig gekreuztes Straßenschild. „Walkürenstraße“ ist zu lesen und halb verdeckt ein weiterer Straßenname, der mit „O“ beginnt. Der schmale Winkel, in dem die beiden Schilder zueinander stehen, legt nahe, dass es sich um eine V-förmige Gabelung handelt, und ein Blick auf den Stadtplan ergibt, dass es sich um die Kreuzung Walkürenstraße/Odinstraße handeln muss. Baribanga wohnt in einem Viertel, in dem die Straßen nach Wagner-Opern benannt sind. Sie halten vor einem Haus mit der Nummer 3, Sissako steigt aus, geht zur Tür und klingelt. In einem kurzen Gegenschnitt erscheint Baribanga, so müssen wir annehmen, auf dem ebenerdigen Balkon und gibt durch ein Winken zu verstehen, dass er die Tür öffnen wird.
4
Dieser plötzliche Besuch bei jemandem, der schon lang hier war, der die ganze Zeit über hier war. Dieser unvermittelte Sprung nach Berlin löst unweigerlich eine Versuchung aus, der es vielleicht zu widerstehen gilt: die ganze Geschichte von ihrem Ende aus neu aufzurollen, um sie als meine oder unsere Geschichte zu erzählen. Sie zum Beispiel in eine „Chronik der Wende“ einzuschreiben und dabei, was den Anderen betrifft, mit der Anerkennung seiner Nähe auch schon seine Einverleibung beginnen zu lassen. Der unbekannte Nachbar, mit dem man jahrelang schon Tür-an-Tür gelebt hat, ohne ihn zu kennen, ist ein dienstbares Motiv. Es führt jedoch nur noch tiefer in die Ignoranz, wenn es zum Auslöser einer Erzählung wird, die sich nur um die eigene Ahnungslosigkeit und Unachtsamkeit dreht, die es schleunigst wettzumachen gälte. Denn womöglich war dieses Sich-nicht-kennen ein einseitiges Scheitern, nur meines, unseres, nicht das Baribangas, der womöglich sehr wachsam war auf mich und die Gäste, die bei mir ein und aus gingen; auf die Feste, die wir gefeiert haben, und die Stille hinter der Wand. Er wusste, wo er ist, wir wussten es nicht. Es ist sogar wahrscheinlich, dass er, als Angolaner, der in Moskau studiert hat und dann kurz vor dem Fall der Mauer nach Berlin kam, sehr schnell gelernt hat, sehr genau hinzusehen und hinzuhören, was um ihn herum geschieht und wie es sich auf ihn auswirkt. Die Trunkenheit der Anderen wird ihn umso nüchterner gemacht haben.
Wenn Baribanga Ende der 1980er Jahre nach Ost-Berlin gezogen ist, wie es das Wenige nahelegt, was wir nach diesem Film mutmaßen können, dann hat er Vieles erfahren über seine Nachbarn und das Land, in dem er lebte. Was es in Deutschland heißt, eine Geschichte zu haben und sich dieser Geschichte zu bemächtigen. Er wird das Wenige gelesen oder gehört haben, was seinerzeit geschrieben oder verlautbart wurde über den Mord an Amadeu Antonio Kiowa in Eberswalde, Angolaner wie er. Er hat von den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen erfahren und vielleicht hat er am eigenen Leib die Feigheit und die Angst deutscher Rassisten erlebt, die ständige Bereitschaft des „Wir sind das Volk“-Volkes, sich zu einem Pogrom zusammen zu finden.
Nun ist seine Geschichte also doch in eine Chronik der Wende eingeschrieben. Allerdings wird diese damit zu einer anderen Chronik und die Wende eine andere, nämlich zur Wende, die diejenigen erlebt haben, die aus der deutschen Blutsbruderschaft ausgeschlossen wurden. In jedes Gesetz, so notierte Jacques Derrida in „Gesetzeskraft“, ist ein Schweigen „eingeschlossen oder vermauert. Vermauert, von Mauern umgeben“ (4). Und so ist auch in die diversen, das Einwanderungs- und Staatsbürgerrecht betreffenden Gesetze, die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in Deutschland erlassen oder geändert wurden, ein Schweigen eingemauert. Das Schweigen der Vertragsarbeiter von Hoyerswerda und Eberswalde, das Schweigen der Ermordeten und Totgeschlagenen, die seitdem mit der neuen nationalen Identität verrechnet wurden. Und dieses Schweigen braust in unser aller Ohren. Warum sonst werden wir immer zu laut, wenn wir versuchen, uns zu verteidigen?
Antonio Amadeu Kiowa wurde 1962 in Quimbele im Nordosten Angolas geboren. „Amadeu Antonio Kiowa (n. 12 august 1962, Quimbele, Angola – d. 6 decembrie 1990, Eberswalde) a fost un muncitor angolez, care a fost victima neofasciştilor din Germania“, wie es auf der rumänischen Wikipedia-Seite heißt, die neben der deutschen der einzige Wikipedia-Eintrag zu Amadeu Antonio ist. Er war 1987 in die DDR gekommen und zuvor war auch er in der Sowjetunion gewesen. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er in der DDR Flugzeugtechnik studiert, stattdessen wurde ihm aber eine Arbeit im Schlacht- und Verarbeitungskombinat Eberswalde zugewiesen. Die 1977 auf der grünen Wiese gebaute Schlachtfabrik soll zwischenzeitlich der größte Fleischverarbeitungsbetrieb Europas gewesen sein. Nach einer Teilschließung 1991 und der Insolvenz im Jahr 2000 wurde der Betrieb 2002 unter neuer Leitung wieder eröffnet. „Heute konzentriert sich der Geschäftsbetrieb auf die Kernkompetenzen (Produktion von Brühwurst, Rohwurst, Pökelwaren und SB-Fleischsortimenten)“ und ist nur noch „der größte Fleischverarbeitungsbetrieb Brandenburgs“ (5).
Eine typische Nachwende-Treuhand-Geschichte, wie es scheint, mit symbolischem 1-D-Mark-Verkauf und Millionen-Subventionen, die alsbald versickert waren, und auch inklusive der Nachwende-Vergesslichkeit. Auf der vermutlich von der Firma selbst erstellten Wikipedia-Seite des Betriebs heißt es, dass die Beschäftigten damals „aus der gesamten DDR angeworben wurden“, womit die mehr oder weniger zwangsweise verdingten angolanischen und mosambikanischen Vertragsarbeiter aus der Firmengeschichte fast so schnell gestrichen wurden, wie sie 1990 und 1991 außer Landes geschafft wurden.
Die Eberswalder Wurst GmbH ist heute der Wurstlieferant der „O2-World“ an der East Side Gallery, und während ich diese Geschichte zusammensuche, fällt mir auch wieder ein, dass der Schlachthof Eberswalde bereits als ein damals noch nicht verortetes Fragment durch meine Kindheit geisterte, denn am Bau der Anlage war damals auch die (westdeutsche) Baufirma meiner Familie beteiligt. Es war der erste und einzige Auftrag in der DDR, auf den sich mein Vater eingelassen hat, und er erzählte mir erst neulich wieder davon, als ich ihm das Tempelhofer Feld auf dem ehemaligen Flughafengelände zeigte. Er erinnerte sich, dass er 1976 regelmäßig nach Berlin-Tempelhof geflogen sei, um von dort mit dem West-Berliner Planungsunternehmen auf die Baustelle nach Eberswalde zu fahren.
„Unsere Landschaft ist ihr eigenes Monument. Ihre Bedeutung lässt sich nur auf der Unterseite entschlüsseln. Alles an ihr ist Geschichte“ (6), so Edouard Glissant über die Karibik und eine Poetik, die sich ihrer Geschichte annähern könne. Aber den Impuls, dieses Zitat sogleich auf jeden Quadratmeter Deutschland anzuwenden, sollte als Korrektiv der Gedanke begleiten, dass die Problematik zunächst einmal darin liegt, dass selbst die kritischste literarische Archäologie hierzulande sich zum allergrößten Teil noch immer auf europäische Sedimente beschränkt und nur punktuell mal nach Kairo, Windhoek oder ins chilenische Hochland gelangt. Die „explosive Saat der Abwesenheit“, von der Glissant schreibt, wurde über Jahrhunderte und bis zu diesem Tag in den Gewässern versenkt, die Afrika vom Rest der Welt trennen und verbinden, und sie wird uns, wenn wir uns an ihrer Bergung beteiligen, zuallererst um die Ohren fliegen.
5
Ich möchte ein letztes Mal zurückspulen an die Stelle, wo Sissako an der East Side Gallery entlangfährt. Wäre die Mauer nicht so hoch oder die Kamera auf einen Kran montiert gewesen, hätte man am anderen Ufer der Spree, das unter Weiden und Pappeln verlaufende Kreuzberger Ufer gesehen, das auf Sissakos Stadtplan noch „Gröbenufer“ hieß. Otto Friedrich von der Gröben war ein brandenburgischer Kolonialist, der im heutigen Ghana 1683 die Festung Groß-Friedrichsburg gebaut hat, die kurz darauf zu einem wichtigen Stützpunkt auf den Routen des Sklavenhandels wurde. An der historischen Einordnung von Gröbens haben sich vor einigen Jahren eine ganze Reihe Historiker und Publizisten in deutscher Korrektheit geübt, als sie versuchten, die von einer Bürgerinitiative geforderte Umbenennung des Ufers zu verhindern. Das ehemalige Gröbenufer heißt seit 2008 May-Ayim-Ufer. Was es zu dieser Umbenennung an Relevantem zu sagen gibt, jenseits des Feilschens darüber, ob und wieviel der in Napratten im Ermland geborene Afrikareisende tatsächlich privat am Sklavenhandel verdient habe, hat May Ayim 1990 in einem ihrer Gedichte zu Papier gebracht (7):
ich werde trotzdem
afrikanisch
sein
auch wenn ihr
mich gerne
deutsch
haben wollt
und werde trotzdem
deutsch sein
auch wenn euch
meine schwärze
nicht paßt
ich werde
noch einen schritt weitergehen
bis an den äußersten rand
wo meine schwestern sind
wo meine brüder stehen
wo
unsere
FREIHEIT
beginnt
ich werde
noch einen schritt weitergehen und
noch einen schritt
weiter
und wiederkehren
wann
ich will
wenn
ich will
grenzenlos und unverschämt
bleiben
May Ayim war Logopädin, Pädagogin und Dichterin. Sie lebte in Berlin und war eine wichtige Persönlichkeit der Afrodeutschen-Bewegung, die sich Mitte der 1980er Jahre zu organisieren begann. Im August 1996 nahm sie sich das Leben, demnach keine zwei Monate bevor Sissako die Mühlenstraße entlang fuhr, um in Berlin-Karlshorst Afonso Baribanga wieder zu treffen. Am May-Ayim-Ufer steht seit 2011 auch eine Gedenktafel für die Namensgeberin. Bei deren Einweihung hielt Joshua Kwesi Aikins, einer der Initiatoren der Umbenennung, eine kurze Rede und begann diese mit einem Sprichwort, das er aus der im früheren Ghana gebräuchlichen Symbolsprache Adinkra übersetzte: „Geh zurück und hol es dir.“
Im Mai bin ich mit der S-Bahn hinaus gefahren nach Karlshorst und habe nach einem 15-minütigen Fußweg ohne Mühe das Haus gefunden, in dem Baribanga gewohnt hat. Es war der erste wirklich warme Tag dieses Jahres, ein Samstag. Die Straßen waren gesäumt von Linden, Buchen und Pappeln, deren weißes Gewöll überall zu Haufen verweht wie schmutziger Schnee herumlag und in der Nase kitzelte. Ich war verblüfft, wie eindeutig das Haus wiederzuerkennen war und erst recht, als ich feststellte, dass einer der Namen auf dem Klingelschild noch derselbe war wie in Sissakos Film, wo man in einem Zwischenschnitt für zwei Sekunden das Klingel-Panel sieht. Ich klingelte dort. Eine Frau meldete sich über die Gegensprechanlage. Ich bezeichnete mich als Journalist, der gerade an einem Artikel über einen ehemaligen Nachbarn von ihr schreibe. Die Frau wehrte sofort jegliches Anliegen ab, behauptete, sie hätten in den 1990er Jahren noch gar nicht dort gewohnt, um schon im nächsten Satz, als ich einen Angolaner erwähnte, zu versichern, dass sie mit dem Mann nie etwas zu tun gehabt hätten. „Wir kannten den nicht.“ – „Also erinnern Sie sich an ihn? Herr Baribanga?“ – „Ja, aber wir hatten nie etwas mit ihm zu tun.“ Ich solle doch mal an der Uni nachforschen, wo er studiert habe.
Während der Summer ertönt und die Tür wieder hinter Sissako ins Schloss fällt, endet Rostov-Luanda mit dem folgenden Voice-Over:
Baribanga lebt in Berlin, aber nicht mehr für lange. Es ist die letzte Station seines Exils vor der Rückkehr in sein Heimatland. An diesem Oktober-Morgen habe ich ihn in der Sprache, die wir gemeinsam gelernt haben – im Namen alter Illusionen -, das Wort ‚Rückkehr‘ aussprechen hören wie eine Errungenschaft: Waswraschtschenie.
Tobias Hering
Dank an Barbara Janisch, Jan Lemitz, Jörg Frieß, Marie-Hélène Gutberlet.
Veröffentlicht in Marie-Hélène Gutberlet (Hg.): The Space Between Us, Berlin/Bielefeld (Kerber Verlag ) 2013. Im selben Band findet sich auch ein Bildessay von Jan Lemitz, der ausgehend von der selben Schlussszene des Films Rostov-Luanda eine eigene Spurensuche in Berlin betreibt.
1 – May Ayim: Grenzenlos und unverschämt, Frankfurt/Main: Fischer 2002, 13.
2 – Revue Noire (Paris) 8, 1993, 4-5. Übersetzung vom Autor
3 – Edouard Glissant: The Known, the Uncertain, in: ders., Carribean Discourse: Selected Essays, Charlotteville: University Press of Virginia 1999 (1989), 13 – 96, Übersetzung vom Autor. Die im folgenden zitierten Passagen stehen dort auf den Seiten 51 und 52.
4 – Jacques Derrida: Gesetzeskraft – Der „mystische Grund“ der Autorität, Frankfurt: Suhrkamp 1991, 28.
5 – So stand es 2013, beim Verfassen dieses Textes, auf der Webseite des Unternehmens. Mittlerweile wurde der Eintrag jedoch verändert.
6 – Edouard Glissant: Introductions, a.a.O., 11.
7 – grenzenlos und unverschämt – ein gedicht gegen die deutsche sich-einheit, in May Ayim: blues in schwarz weiss, Berlin, Orlanda-Frauenverlag, 1995, 61.