Das Projekt re-selected nimmt sich drei Jahre Zeit, um einer womöglich unzeitgemäßen Intuition zu folgen: Am designierten „Ende des analogen Zeitalters“ widmet es sich ausgewählten Filmen aus dem analogen Bestand des Archivs der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen und untersucht Filmgeschichte als Geschichte individueller Filmkopien. Anstatt die digitale „Rettung“ eines filmischen Werkes als Ideal zu propagieren, interessiert sich das Projekt gerade für die Eigenheiten einer Kopie, die bei der Digitalisierung in der Regel getilgt werden. Man gelangt dabei zu Fragestellungen und Erkenntnissen, die mit einem konkreten Werdegang, mit lokalen Öffentlichkeiten und zeitgeschichtlichen Konstellationen zu tun haben. Wo und wann wurde ein Film überhaupt gezeigt, wer hat ihn gesehen, in welcher Fassung, in welcher Verfasstheit? Kopien unterscheiden sich voneinander, ihre konkreten Wirkungsgeschichten verlaufen unterschiedlich und lassen sich nicht ohne weiteres zu der Geschichte eines Films vereinheitlichen. Jede Kopie ist ein Original – und das nicht erst, wenn sich erweist, dass sie die einzige verbliebene Kopie eines Films ist, was angesichts des Verlusts von Negativen und der Ausmusterung analoger Medien ein immer häufigerer Befund ist.
Zum Auftakt des Projekts werden am 4. Mai drei Filme in einen solchen kopiengeschichtlichen Blick genommen, die in der Geschichte der Kurzfilmtage und ihrer Selbstbeschreibungen eine wichtige Rolle spielen: Nuit et Brouillard (Nacht und Nebel, Frankreich 1955) von Alain Resnais, Elégia (Elegie, Ungarn, 1965) von Zoltán Huszárik und Rangierer (DDR, 1984) von Jürgen Böttcher. Vor unterschiedlichen Öffentlichkeiten haben diese Filme unterschiedliche Assoziationen in Gang gesetzt und sind dabei zu „tragbaren Erinnerungsorten“ (Sylvie Lindeperg) geworden, zu Akteuren einer sozialen Geschichte, die ohne die Bewegungen materieller Medien nicht stattgefunden hätte und die sich bei jeder Neuaufführung der Kopien fortschreibt.
Programm 1
Nuit et Brouillard
Frankreich 1956, 32′, s/w & Farbe, französisch mit engl. UT
Regie Alain Resnais
Text Jean Cayrol
Nacht und Nebel
Frankreich 1956, 32′, s/w, deutsch
Regie Alain Resnais
Text Paul Celan
Die Vorführung von Alain Resnais‘ Nuit et Brouillard (F, 1956) auf den 3. Westdeutschen Kulturfilmtagen Oberhausen in einem Spätprogramm am 24. Oktober 1956 war eine der ersten Vorführungen des Films in Deutschland und vermutlich die erste, die nicht den verschämten Status einer „Sondervorführung“ hatte. Kein anderer Film wurde so einflussreich für die nachträgliche Bewusstwerdung der Ausmaße des deutschen KZ-Systems wie Nuit et Brouillard. Mit ihm begann die Wiederbegegnung mit dem, was schon im Zuge war, vergessen zu werden. Dabei wurde Nuit et Brouillard in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich verbreitet und rezipiert und es begleitete ihn eine lange Zensurgeschichte. Um die peinliche Intervention der westdeutschen Diplomatie wett zu machen, durch die schon die Premiere des Films in Cannes zum Politikum geworden war, sorgte das Bundespresseamt selbst für seine rasche und intensive Verbreitung in der BRD. Ab Dezember 1956 lag eine deutsche Sprachfassung vor, mit der Nacht und Nebel bis heute intensiv in der politischen Bildungsarbeit eingesetzt wird.
Im Archiv der Kurzfilmtage sind Kopien zweier Fassungen verwahrt: der französischen mit dem Originaltext von Jean Cayrol (gesprochen von Michel Bouquet) sowie der (west)deutschen mit dem Text von Paul Celan (gesprochen von Kurt Glass). Wenn hier der Vorschlag gemacht wird, sich zum Auftakt des Projekts „re-selected“ beide Fassungen hintereinander anzusehen, so auch deshalb, weil dabei ein wesentlicher Einsatz der Recherche auf dem Prüfstein steht, nämlich das Vertrauen auf den zweiten, möglicherweise genaueren Blick, darauf dass ein Wieder-Sehen Neues sehen kann. Die Interferenzen zwischen den beiden Fassungen, die Abweichungen der Übersetzung, das Verhältnis zwischen Bild und Sprache, das Verschwinden der Farbe in den aus Spargründen schwarz-weiß gezogenen deutschen Kopien machen das Feld weit auf für die Fragen, um die es dem Projekt „re-selected“ geht. „An Nuit et Brouillard gewöhnt man sich nicht“, schrieb Jacques Rivette 1961 über diesen Film. Wenn er recht hatte, wird man auch heute noch über ihn sprechen können, ohne sich in Redundanzen zu verlaufen.
Vorgestellt von Tobias Hering, zu Gast: Marie-Hélène Gutberlet.
Programm 2
Elégia (Elegie)
Ungarn 1965, 20 min, ohne Dialog
Regie Huszárik Zoltán
Kamera Tóth János
Als Zoltán Huszárik 1981 fünfzigjährig verstarb, hat er ein schmales Werk hinterlassen, das bis heute regelmäßig wieder entdeckt wird. Über Elégia, der als sein Debütfilm gilt und 1966 in Oberhausen mit dem Hauptpreis für den Besten Experimentalfilm ausgezeichnet wurde, schreiben manche Rezensenten noch heute, dass er zu dem Schönsten gehört, was man auf der Kinoleinwand zu sehen bekommen kann. Ohne Dialoge evoziert der Film die lange Geschichte, die Menschen mit Pferden verbindet, von der Anrufung in den Höhlenmalereien über die Ausbeutung der Pferde als Nutztiere, Schauobjekte und Kriegsgerät bis zu ihrer Verwertung in den Schlachthöfen. Man kann sich der Versuchung schwer entziehen, den Film als Allegorie auf etwas Allzumenschliches zu sehen, aber auch das wäre womöglich eine Variante der Einverleibung, die hier vor Augen geführt wird. Was man sieht, sind Pferde. Was unter den Bildern geschieht, ist Geheimnis, das der Film wahrt.
Rangierer
DDR 1984, 22 min, ohne Dialog
Regie Jürgen Böttcher
Kamera Thomas Plenert
Ton Stefan Edler
Der Film zeigt Rangierer des Güterbahnhofs Dresden-Friedrichstadt, des größten der DDR, bei der Arbeit. Es ist Nachtarbeit, Knochenarbeit, im Februar 1984. Führerlos durch die Nacht rollende Waggons werden durch Handgriffe im Mitlaufen gebremst, gerichtet, gekoppelt, entkoppelt – in einer Schicht etwa 1600 Waggons. Die Rangierer wie Dompteure, Tänzer, ein Zirkus, eine Jagd, aber auch Fließbandarbeit. Assoziationen sind viele und sie gehen in verschiedene Richtungen. „Von einem Bekannten wusste ich, dass viele Ehemalige aus dem Knast dort arbeiten. Die hatten schlechtes Schuhwerk, haben gesoffen. Da sind so viele draufgegangen, junge Leute, einfach halbiert, tot, die Beine weg, weggerutscht. Das wurde natürlich nie publik. Das wusste ich alles unter den Bildern. Auf einmal dachte ich, dort brauchst du nicht mehr zu reden. Was soll man da reden?“ (Jürgen Böttcher im Gepräch mit Cornelia Klauß, Juli 2003). Da einem nichts erklärt wird, schaut und lauscht man, und beginnt, mehr zu sehen, als gezeigt wird. Etwas wird sich selbst überlassen, ein Zugeständnis – aber an was?
Zu Gast ist der Kameramann Thomas Plenert, der seit 1976 regelmäßig mit Jürgen Böttcher gearbeitet hat und auch bei Rangierer die Kamera führte.