Jede Kopie ist ein Original
re-selected ist ein Archivprojekt und eine Programmreihe basierend auf Recherchen im Archiv der Kurzfilmtage Oberhausen. Im Mittelpunkt steht dabei die Sammlung von analogen Filmkopien, die über die Jahre zusammen kam, indem das Festival von Preisträgerfilmen in aller Regel eine Archivkopie erwarb. Es findet aber auch das umfangreiche Papierarchiv Beachtung, indem nicht nur die festivaleigenen Publikationen und Drucksachen verwahrt sind, sondern auch Pressespiegel und Fotos aller Festivaljahrgänge, einige hundert Ordner Korrespondenzen – Briefe, Telegramme, Telexe, später Emails – sowie eine immense Zahl von Textlisten, die der Simultanübersetzung der Filme im Kinosaal dienten.
Das re-selected Projekt interessiert sich für die materiellen, oft zufälligen und manchmal idiosynkratischen Aspekte von Film-Geschichten, die aus der Tatsache resultieren, dass Filme lange Zeit in Form von analogen Kopien zirkulierten. Jede Kopie hat eine individuelle Biografie, die Spuren im Archiv wie auch auf der Kopie selbst hinterlassen hat. Zwei Kopien des gleichen Films sind niemals identisch. „Jede Kopie ist ein Original“, war das Auftaktmotto des Projekts. Seit es auf den letzten Kurzfilmtagen vorgestellt wurde, gab es im Rahmen von re-selected Filmprogramme und Projektpräsentationen im Kino Arsenal in Berlin, bei Dok Leipzig, im Kino Tuskanač in Zagreb, auf dem Alternative Film/Video Festival in Belgrad, in der Cinematek in Brüssel und bei Forum Expanded auf der Berlinale 2019. In den drei re-selected Programmen auf den 65. Oberhausener Kurzfilmtagen sind Archivfilme in seltenen, teils einzigartigen Kopien wieder zu entdecken, deren Biografien eng mit den internationalen Ambitionen der Kurzfilmtage verknüpft sind und die das charakteristische Profil dieser Filmkopiensammlung erkennen lassen.
Programm 1
Oh Dem Watermelons
Regie Robert Nelson, USA, 1965, 11 Minuten, 16mm, Farbe, OF
La formula secreta
Regie Ruben Gámez, Mexiko, 1965, 43 Minuten, 35mm, s/w, OmeU
zu Gast: Armando Lopez
Auf den 12. Oberhausener Kurzfilmtagen 1966 führten die Festivalleiter Hilmar Hoffmann und Will Wehling einen „Preis für den verkannten Film“ ein. Der Joker gegenüber den Entscheidungen der offiziellen Juries hatte einen willkommenen Nebeneffekt, denn von Preisträgerfilmen behielt das Festival in der Regel eine Archivkopie. So verdanken die Kurzfilmtage dieser etwas kuriosen Auszeichnung einige ihrer wertvollsten Archivschätze.
Der erste Gewinner war Robert Nelsons Oh Dem Watermelons, eine bitterböse Parabel auf die rassistischen Neurosen des weißen Amerika. Nelsons grausamer Melonen-Slapstick zu einer Titelmelodie von Steve Reich verfehlt bis heute seine Wirkung nicht.
Zwei Jahre später ging der Preis für den verkannten Film an La formula secreta von Ruben Gámez, einen Film, für den sich Hoffmann und Wehling bereits im Vorfeld weit aus dem Fenster gelehnt hatten: Ihm zuliebe suspendierten sie nicht nur die Längenbeschränkung von 35 Minuten für Wettbewerbsfilme, sie versuchten auch, La formula secreta einen vom Goethe-Institut Mexiko City ausgeschriebenen Experimentalfilm-Preis zuzuschustern, wogegen sich jedoch die bereits einberufene Jury indigniert verwahrte.
Das hemdsärmelige Gemauschel der Festivalleiter galt einem Film, der heute zu den aufregendsten Stücken im Archiv der Kurzfilmtage gehört. La formula secreta verbindet zornige Kapitalismus-Kritik mit einer symbolistisch-psychedelischen Filmsprache, die ihre Vorbilder erkennen lässt, aber auch heute noch unverbraucht und originär wirkt.
Armando López, Filmemacher und Enkel von Salvador Lopez, dem Produzenten von La formula secreta, beschäfigt sich seit Jahren mit der Geschichte dieses Films und wird darüber im Publikumsgespräch Auskunft geben.
Programm 2
Ustanak u Jasku Aufstand in Jazak
Regie Želimir Žilnik, Jugoslawien, 1973, 17 Minuten, 35mm, s/w und Farbe, OF (Englisch eingesprochen)
Crni Film Der Schwarze Film
Regie Želimir Žilnik, Jugoslawien, 1971, 15 Minuten, 35mm, s/w, OmU (Englisch eingesprochen)
„Socijalni Eksperiment“ Soziales Experiment
Szenische Lesung der deutschen Dialogliste des Films Socijalni Eksperiment (1971) von Dejan Đurkovic, mit englischer Simultanübersetzung
Konzept: Romy Rüegger und Tobias Hering
Sprecher*innen: Gaby Babić, Petra Belc, Greg de Cuir Jr., Mario Kozina
zu Gast: Gaby Babić, Petra Belc, Greg de Cuir Jr., Mario Kozina, Romy Rüegger, Želimir Žilnik.
Mit dem Filmland Jugoslawien verband die Oberhausener Kurzfilmtage ein beinahe symbiotisches Verhältnis. Das Interesse galt dabei Filmen, die aus den Konventionen des Sozrealismus ausbrachen, was dazu führte, dass Filme, die von der offiziellen Kritik in Jugoslawien als narzistisch und asozial diskreditiert wurden, auf den Kurzfilmtagen als Belege für die Vitalität des jungen jugoslawischen Kinosgefeiert wurden, das unter dem Namen „schwarze Welle“ zur Marke geworden war.
Einer der Exponenten dieser Generation war Želimir Žilnik, der auf der Berlinale 1969 mit seinem Langfilmdebüt Rani Radovi (Frühe Werke) den Hauptpreis gewonnen hatte und auch schon in Oberhausen gewesen war. 1971 kam er nicht selbst nach Oberhausen, machte dem Festival jedoch ein denkwürdiges Geschenk. Sein Film Crni Film (Schwarzer Film), in dem Žilnik eine Gruppe Obdachloser ein paar Tage bei sich beherbergt, hatte als sarkastischer Kommentar auf das „soziale Engagement“ der schwarzen Welle schon auf dem Festival in Belgrad provoziert. Als der Film wenig später in Oberhausen über die Leinwand lief, tauchte über die Bilder geschrieben ein wütendes Manifest auf, in dem Žilnik sich selbst der Heuchelei bezichtigt und die bündige Frage in den Raum wirft: „Film – Waffe oder Scheiße?“ Diese klandestin produzierte Oberhausener Kopie von Crni Film ist ein Unikat.
Im selben Programm wie Crni Film lief 1971 auch Socijalni Eksperiment des 2003 verstorbenen Dejan Đurković, ein Dokumentarfilm über Belgrader Studenten, die aus Solidarität mit Bergarbeitern in einen Hungerstreik treten. Von diesem Film ist in Oberhausen keine Kopie verblieben. Im Archiv der Kurzfilmtage fand sich jedoch die deutsche Übersetzung der Filmdialoge, die seinerzeit wohl live während der Projektion eingesprochen wurde. Handschriftliche Bildverweise (vermutlich des Vorlesers) machen aus diesem Dokument das Erinnerungsprotokoll eines Films, der nicht mehr da ist, das hier als szenische Lesung zur Aufführung kommt, bearbeitet von der Künstlerin Romy Rüegger.
Bevor Želimir Žilnik 1974 für einige Jahre nach Westdeutschland emigrierte, entstand 1973 Ustanak u Jasku, in dem ältere Bewohner eines serbischen Bergdorfes erzählen und nachstellen, wie sie im Herbst 1944 die deutschen Besatzer losgeworden sind. Ein burlesker Partisanenfilm ohne jede Heldenromantik, der 1973 in Oberhausen lief. Weil die Oberhausener Archivkopie durch einen materialbedingten Rotstich unansehnlich geworden ist, wird hier eine gut erhaltene 35mm-Kopie gezeigt, die erst kürzlich im Keller eines ehemaligen Kinoclubs in Pančevo zum Vorschein kam.
Programm 3
Waseyat Ragol Hakiem Ratschläge eines alten, weisen Mannes zu Fragen des Dorfes und der Bildung
Regie Daoud Abdel Sayed
Ägypten, 1976, 19 Minuten, 16mm, Farbe, OF (Englisch eingesprochen)
An Thawra On a revolution
Regie Omar Amiralay
Schnitt Kaiss al-Zubaidi
Demokratische Volksrepublik Yemen, 1978, 30 Minuten, Digitalisat von 35mm-Kopie, Farbe, OF (Englisch eingesprochen)
Zu Gast: Alia Ayman (Filmemacherin und Kuratorin), Kaiss al-Zubaidi (Filmemacher, Cutter, Filmhistoriker)
Im Februar 1978 wurde den Kurzfilmtagen in einem Telegramm von Ronald Trisch, dem Leiter der Leipziger Dokumentarfilmwoche, der ägyptische Film „Rat eines weisen Mannes“ zur Ansicht angeboten, der dort im Vorjahr gelaufen war. Der kollegiale Wink war umso willkommener, als die Kurzfilmtage sich in dieser Zeit verstärkt um Filme aus afrikanischen Ländern bemühten, ohne jedoch auf dem Kontinent über gewachsene Kontakte zu verfügen. Waseyat Ragol Hakiem kritisiert den staatlichen Paternalismus gegenüber der Landbevölkerung, indem er eine dokumentarische Erzählung über eine erfolgreiche Bildungsinititative mit einer missgünstigen Kommentarstimme unterlegt, die sich als Persiflage auf den „weisen Mann“ des Titels entpuppt.
Der Film lief 1978 in Oberhausen und ist heute einer der wenigen ägyptischen Filme im Festivalarchiv. Die gezeigte Kopie war wahrscheinlich über das Kairoer Goethe-Institut nach Oberhausen gekommen. Das Korrespondenzen-Archiv der Kurzfilmtage legt nahe, dass man dann lange Zeit nicht wusste, wohin man sie zurückschicken sollte, und sie lieber behielt, als sie einer staatlichen Filminstitution auszuhändigen, die man der Zensur verdächtigte. Als Daoud Abdel Sayed selbst schließlich auf den Rückversand der „einzigen Kopie“ des Films drängte, zog das Festival zuvor vermutlich noch eine „Klatschkopie“, also eine Kopie von der Kopie. Ein weiser Streich, denn heute könnte die Oberhausener 16mm-Kopie die einzig verbliebene Analogkopie von Waseyat Ragol Hakiem sein. Die Kuratorin Alia Ayman, die den Film kürzlich im Kino Zawya in Kairo zeigte, wird über die aktuellen Bezüge des Films und sein archivarisches Schicksal sprechen.
Auch die Oberhausener Archivkopie von Omar Amiralays An Thawra hat Seltenheitswert. Der Film war eine Auftragsproduktion der Demokratischen Volksrepublik Jemen und sollte die Errungenschaften des revolutionären Prozesses herausstellen. Der Syrer Omar Amiralay und sein Cutter Kaiss al-Zubaidi sympathisierten zwar mit dem sozialistischen Programm des Regimes in Aden, ließen es sich aber auch nicht nehmen, Missstände und Unzulänglichkeiten zu thematisieren. Ihr Film ist eine aus Kontrasten und Montageeffekten gewonnene Meditation darüber, was eine Revolution ausmacht. Ein Essay, kein Manifest. Vielleicht weil er sich ideologisch zwischen alle Stühle setzte, verschwand der Film nach und nach von der Bildfläche. Er lief aber 1980 auf den Oberhausener Kurzfilmtagen und wurde mit einem Preis ausgezeichnet. Omar Amiralay war anwesend und überließ dem Festivalarchiv die Kopie. Kaiss al-Zubaidi, der als Filmemacher und Cutter selber oft in Oberhausen war, wird über die Hintergründe und den Produktionsprozess des Films Auskunft geben.