re-selected ist ein fortdauerndes Archivprojekt und eine Programmreihe basierend auf Recherchen im Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Im Mittelpunkt steht dabei die Filmsammlung, die seit den Anfängen des Festivals zusammenkam, da von Preisträgerfilmen in aller Regel eine Archivkopie erworben wurde. Indem das Projekt diese Filmkopien als konkret situierte Zeitdokumente betrachtet, verschiebt es die Perspektive von einer „Filmgeschichte“ auf eine „Kopiengeschichte“.
Damit einher geht eine Neubetrachtung und Wertschätzung analoger Archiv- und Kinopraktiken, die in der jüngsten Vergangenheit noch prekärer geworden sind, als sie es ohnehin schon waren. Zur Debatte steht, in welcher Form sich die methodischen und medienpolitischen Intentionen von re-selected auch online umsetzen lassen.
„Ja, aber…“ – Amos Vogel in Oberhausen
Online-Programm
„The complete elimination of all taboos ‒ whether social, sexual, political, racial or religious ‒ will unquestionably be one of the indices to mark the end of mankind’s prehistory.“ — Amos Vogel, The censor always loses, Manuskript eines Artikels für die New York Times, leicht verändert erschienen am 15. September 1968
Der New Yorker Filmkurator Amos Vogel (1921-2012), der in diesem Jahr 100 geworden wäre, gilt als einer der Pioniere unabhängiger Film- und Kinoarbeit. Dass er über viele Jahre auch die Kurzfilmtage Oberhausen geprägt hat, ist womöglich weniger bekannt. Als Vogel 1959 erstmals nach Oberhausen kam, befanden sich die Kurzfilmtage noch im Übergang von einer vorwiegend auf Erwachsenenbildung ausgerichteten Filmtagung zu einem internationalen Kurzfilmfestival. Gerade die Widersprüche, die sich in dieser Transformation auftaten, und auch das selbstbewusste, bisweilen plakativ politische Auftreten der Kurzfilmtage haben Vogel fasziniert.
Die Sympathien waren gegenseitig: Schon im nächsten Jahr beriefen ihn die Kurzfilmtage in die Jury, eine Aufgabe, die Vogel bis 1966 jährlich wahrnahm. Von 1965 bis 1969 übernahm er zudem die Filmauswahl in den USA und wurde damit zum Verantwortlichen für einen prägenden Teil des Festivalprogramms. Gleichzeitig war Oberhausen eine kontinuierliche Inspirationsquelle für Vogels Arbeit in New York. Davon zeugen seine Festivalberichte für amerikanische Zeitungen, seine Programmarbeit für Cinema 16 und das New York Filmfestival, aber auch zahlreiche Korrespondenzen mit Filmemachern und mit den Leitern der Kurzfilmtage, Hilmar Hoffmann und Will Wehling.
Vogel war ein kritischer Korrespondent, der kein Blatt vor den Mund nahm, und dabei gleichzeitig ein loyaler Vertrauter, der uneigennützig seine Netzwerke und Ressourcen in die Auswahlarbeit einbrachte. Über Jahre nahm er den Kurzfilmtagen in der turbulenten und polarisierten Filmlandschaft der USA die Herkulesarbeit der Kopienlogistik und Filmsichtung ab, was ihm nur möglich war, weil er durch seine Position beim Lincoln Center die dafür nötige Infrastruktur zur Verfügung hatte. Hoffmann und Wehling wussten, was sie an Vogel hatten, gaben ihm mehr und mehr freie Hand, auch wenn es ihnen oft schwerfiel, die enorme Bandbreite seiner Programmauswahl wertzuschätzen. Wiederholt baten sie Vogel, sich auf politische Dokumentarfilme zu den aus ihrer Sicht typischen amerikanischen Themen zu konzentrieren: „Geschlechterkampf, Vietnam, Rassenkonflikte.“ Vogels Programme verhielten sich dazu stets in der Form eines „Ja, aber…“
Mit Vogels enttäuschtem Weggang vom Lincoln Center Ende 1968 und dem gleichzeitigen Ausstieg aus der Leitung des New York Film Festival ging ihm auch die Infrastruktur verloren, ohne die die Sichtungs- und Auswahlarbeit für Oberhausen nicht denkbar war. Für zwei Jahre sprang das Museum of Modern Art ein, aber für Vogel folgte eine Phase der beruflichen Ungewissheit, in der er sich das bescheiden honorierte Engagement für die Kurzfilmtage nicht mehr leisten konnte. Der Kontakt verkümmerte. Das Forum der Berlinale wurde in der Folge zu seinem Hauptanlaufpunkt in Deutschland.
Erst 1994 besuchte Vogel noch einmal Oberhausen. Zum 40. Festival hatte ihn Angela Haardt eingeladen, eines der Jubiläumsprogramme einzuführen. Vogel nahm die damit verbundene Anerkennung erfreut an, stellte in seiner Antwort jedoch fest, dass er in der Retrospektive viele Filme vermisse, denen er sich aus seiner Zeit als USA-Korrespondent verbunden fühle. Mit unverhohlener Enttäuschung fragte er nach dem Verbleib der vielen Filmkopien, die durch ihn nach Oberhausen gekommen waren. Im Rahmen von re-selected werden gleichwohl vier Filme gezeigt, deren Existenz im Archiv der Kurzfilmtage in direktem Zusammenhang mit Vogels Engagement stehen und die ihm nachweislich viel bedeutet haben.
Sunday
Regie Dan Drasin
USA, 1961, 17′, Originalformat: 35 mm, s/w, OV
Mit der Handkamera gedrehtes Dokument einer Konfrontation zwischen der New Yorker Beat-Szene am Washington Square und der Polizei. Von der Internationalen Jury, der auch Amos Vogel angehörte, 1962 in Oberhausen mit einem Hauptpreis ausgezeichnet.
Relativity
Regie Ed Emshwiller
USA 1966, 36′, Originalformat: 16 mm, Farbe, OV
Emshwiller gehörte zu den von Vogel am meisten geschätzten Vertretern des experimentellen amerikanischen Films der 60er Jahre. Relativity wurde von ihm für Oberhausen 1967 ausgewählt, vom Festival wegen seiner angeblich „pornografischen“ Bilder verschämt auf die Mitternachtsschiene geschoben, dann jedoch reumütig mit dem „Preis für den verkannten Film“ ausgezeichnet. „The Emshwiller Glide is decidedly a new dancestep for the cinema-minded.“ (Parker Tyler über Relativity)
Black Panthers
Regie Agnes Varda
USA 1969, 26′, Originalformat: 16mm, Farbe, OV
Während Agnes Varda mit Jacques Demy 1968 in Kalifornien lebte, drehte sie in Oakland diesen Film über die Black Panthers und die Proteste gegen die Inhaftierung Huey P. Newtons. Die Oberhausener Archivkopie ist die 1970 von Amos Vogel mitgebrachte, der mit Agnes Varda seit ihren ersten Filmen korrespondierte und Black Panthers sowie weitere ihrer Filme über Cinema 16 und Grove Press vertrieb.
Kirsa Nicholina
Regie Gunvor Nelson
USA 1969, 16′, Originalformat: 16 mm, Farbe, OV
Die entspannte und tabulose Dokumentation einer Hausgeburt vom Einsetzen der Wehen bis zum Kappen der Nabelschnur. Ein von Vogel hoch geschätzter Film, der zum Anlass für ein eigenes Kapitel in seinem zeitlosen Hauptwerk „Film as a subversive art“ (1974) wurde. Oberhausen-Preisträger 1970.