re-selected | Kurzfilmtage Oberhausen 2022

Seit 2018 dient der Sektion re-selected das Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen als materielle Grundlage für Recherchen und kuratierte Programme. Im Mittelpunkt steht dabei die festivaleigene Filmsammlung, die über fast 70 Jahre zusammenkam, indem von Preisträgerfilmen regelmäßig Archivkopien erworben wurden. Zur Archivkonstellation in Oberhausen gehören aber auch die Festival-Publikationen und -Drucksachen sowie einige hundert Ordner mit Korrespondenzen, interner Kommunikation und „grauer Literatur“. Indem das Papierarchiv auch von Filmen zeugt, die nicht in Oberhausen verblieben sind oder dort nie ankamen, bildet es einen prononcierten Hintergrund, vor dem sich das film- und zeitgeschichtliche Profil der Kurzfilmtage und des Filmarchivs abzeichnen.

Auf den 68. Internationalen Kurzfilmtagen sind vier re-selected Programme zu sehen, die Schlüsselmomente der Festivalgeschichte einer kritischen Revision zugänglich machen, indem sie An- und Abwesendes in Beziehung setzen. Programm 1 (kokuratiert von Petra Belc und Aleksandra Miljković) widmet sich der beträchtlichen Anzahl von Archivkopien aus dem früheren Jugoslawien als einem „Archiv im Exil“. Programme 2 und 3 (kokuratiert von Merv Espina und Karina Griffith) sind kritische Rückschauen auf das Sonderprogramm „Konfrontation der Kulturen“, das 1993 in Oberhausen stattfand, als Versuch einer postkolonialen Diskurswende im Nachwende-Deutschland. Programm 4 würdigt die langjährige, nicht immer konfliktfreie Beziehung, die den Dokumentarfilmer Peter Nestler seit den 60er Jahren mit den Kurzfilmtagen verbindet.

Programm 1: Archiv im Exil
Ko-kuratiert von Petra Belc und Aleksandra Miljković 

Seit 1958 waren immer wieder jugoslawische Filme in der Auswahl der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen vertreten. Ihre Sichtbarkeit und ihr Erfolg spiegeln sich in der Sammlung von fast einhundert Filmen wider, die im Archiv des Festivals aufbewahrt werden. Das umfangreiche Papierarchiv veranschaulicht die weitreichende Zusammenarbeit, den Auswahlprozess, aber auch die Probleme und Missverständnisse, die
im Laufe der Zeit auftraten.

Die Filmsammlung ist in zweierlei Hinsicht besonders: Erstens zeigt sie die Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Auswahlpolitik des Festivals auf. Zweitens stellt sie einen einzigartigen Bestand an jugoslawischen Kurz-, Experimental- und Animationsfilmen dar, der an einem zentralen Ort aufbewahrt wird. Der Zerfall Jugoslawiens hatte Auswirkungen auf die Zersplitterung, Verbreitung und Wiederaneignung des gesamten kulturellen Erbes, was sich auch auf die Filmkunst negativ auswirkte. In dieser Hinsicht kann die Oberhausener Sammlung jugoslawischer Filme als ein Archiv im Exil betrachtet werden, als ein Überbleibsel der Filmgeschichte, das zwar immer noch als jugoslawisch identifiziert wird, aber an den Ursprungsorten in dieser Form nicht existiert und auch nicht existieren würde.

Noch bevor das Archiv der Kurzfilmtage Oberhausen zu einem Vorbild für die Bewahrung und Förderung des Kurzfilms wurde, gab es Bestrebungen, es in ein Internationales Kurzfilmarchiv umzuwandeln. In einem Brief vom 22. April 1969 schlug der slowenische Übersetzer Mario Šubic die Notwendigkeit eines institutionelleren Kurzfilmarchivs vor, das „den Kurzfilm aus seiner Anonymität herausholen“ und ihn zu einem „weltweiten Gemeingut“ machen sollte. Šubic hielt Oberhausen für den idealen Ort dafür und wies darauf hin, dass das Archiv auf diese Weise nicht nur die prämierten, sondern auch alle ausgewählten Filme erhalte und ihnen so „Wertschätzung und Popularität“ verleihe.

Die Bedeutung von Šubics Initiative wurde bereits im folgenden Jahr deutlich, als die jugoslawische Kommission für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland ihren Unmut über die Auswahlpolitik des Festivals äußerte. Nachdem der zentrale Filmverleih Yugoslavia-Film bereits 1968 und 1969 Filme aus der Oberhausener Vorauswahl zurückgezogen hatte, forderten die jugoslawischen Vertreter, dass das „Festival die Auswahl mit den zuständigen jugoslawischen Behörden abstimmt“ (14. Mai 1969). Dies hielt jedoch einige Produzenten (z. B. Neoplanta Film) nicht davon ab, ihre Filme außerhalb des offiziellen Auswahlprozederes und auf eigene Initiative anzubieten.

Obwohl der Programmdirektor des Festivals, Will Wehling, darauf bestand,
dass ausschließlich der Auswahlausschuss für die Oberhausener Auswahlpolitik zuständig sei, gelang es den jugoslawischen Offiziellen, das etablierte Verfahren zu ändern: Anstatt im Frühjahr sowohl Belgrad als auch Zagreb und Ljubljana zu besuchen und so lokale Kontakte in den verschiedenen Hauptstädten der jugoslawischen Republik aufrechtzuerhalten, sollte der Auswahlausschuss (der in der Regel aus zwei Abgesandten bestand, zu denen oft auch Wehling selbst gehörte) ab 1970 die Jahresproduktion ausschließlich in Belgrad sichten und auswählen.

Gleichzeitig scheint Will Wehlings enge persönliche Bekanntschaft mit jugoslawischen Filmschaffenden ihn mit Insiderwissen über neu produzierte Filme versorgt zu haben. Gelegentlich schlug er einen eher informellen Ton an, wenn er jemanden um dessen persönliche Meinung und Rat zu den besten jugoslawischen Kurzfilmen des vergangenen Jahres
bat. Einige der fortschrittlichsten Werke der jugoslawischen Filmkunst jener Zeit blieben ihm jedoch entweder verborgen, wurden ihm vorenthalten oder wurden als nicht attraktiv oder bedeutend genug erachtet, um für die Wettbewerbe ausgewählt zu werden.

Dies scheint auch bei der jugoslawischen Amateur-Experimentalfilmszene der Fall gewesen zu sein, die zu den dynamischsten in Europa zählte – insbesondere in den 1960er-Jahren, als sich die jugoslawische Filmavantgarde alle zwei Jahre zum Genre Film Festival (GEFF) in Zagreb traf. Die erhaltene Archivkorrespondenz über die Auswahlverfahren deutet darauf hin, dass Oberhausen für das Wettbewerbsprogramm vor allem Filme der offiziellen Produktionsfirmen berücksichtigte und den bestehenden Underground- und Independent-Strömungen wenig Beachtung schenkte. In einem Brief aus dem Jahr 1966 informierte Stevo Ostojić, jugoslawischer Filmkritiker und Herausgeber der einflussreichen Filmzeitschrift Filmska kultura, Wehling über die progressive Arbeit des GEFF und vermittelte ihm Kontakte zu den Organisatoren des Festivals; eine Fortsetzung dieser Korrespondenz konnte im Archiv jedoch nicht gefunden werden. Im selben Jahr gab es zwar ein Sonderprogramm für Amateurfilme, in dem das bahnbrechende Werk des Zagreber Experimentalfilmers Vladimir Petek gezeigt wurde. Doch der Katalogtext zeigte wenig Verständnis für den weiteren Kontext der besonderen avantgardistischen Position, die die Amateurfilmszene in Jugoslawien einnahm.

Die Dominanz der Zagreber Trickfilmschule im Oberhausener Analogarchiv und der herzliche Briefwechsel mit den Produzenten zeugen von der Bedeutung zwischenmenschlicher Kontakte im Auswahlprozess. Er deutet auch auf die Vorliebe des Festivals für bereits ausgezeichnete und möglichst explizit politische Arbeiten hin, was den Zagreber Animationsfilmer Branko Ranitović dazu veranlasste, die Kurzfilmtage Oberhausen als „ideologisch-politische Plattform mit maoistischen Tendenzen“ zu bezeichnen. Diese Aussage wies Wehling vehement zurück: „Jedes Land hat halt seine Probleme mit der Linken. Oberhausen will und wird kein ausschließlich
politisches Festival sein“ (Brief, 22. Mai 1970).

„ Archiv im Exil “ markiert den Beginn einer tiefergehenden Untersuchung des Zusammenwirkens von internationaler und nationaler Rezeption des jugoslawischen Films und soll ein differenzierteres Bild der jugoslawischen Filmkultur und ihres zeitgenössischen Kanons zeichnen.

(Katalogtext zu den 68. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen von Petra Belc und Aleksandra Miljković.)


Petra Belc hat an der Universität Zagreb in Filmwissenschaften promoviert; ihre Dissertation befasste sich mit der Poetik des jugoslawischen Experimentalfilms der 1960er- und 1970er-Jahre. Als unabhängige Wissenschaftlerin konzentriert sie sich auf den Bereich des Experimentalkinos mit einem besonderen Interesse für die Archivierung und Bewahrung von Filmen in Kleinformat.

Aleksandra Miljković studierte Kunstgeschichte an der Philosophischen
Fakultät in Belgrad und schloss ihr Masterstudium mit Schwerpunkt auf zeitgenössischer Kunst und Film ab. Heute lebt sie in Berlin und absolviert ein Masterstudium in Filmkulturerbe an der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“.

Filmprogramm

Od 3 do 22 From 3 till 22
Jugoslawien 1967, 35mm, 13′, Schwarzweiß, ohne Dialoge
Regie Krešo Golik
Eine wortlose Aufzeichnung des 19-stündigen Arbeitstags von Smilja Glavaš, Mutter, Ehefrau und Arbeiterin in einer Textilfabrik, wird zu einem kritischen Kommentar zur Doppelbelastung von Frauen im sozialistischen Jugoslawien.

Dva zakona Two Laws
Jugoslawien 1968, 35mm, 9′, Schwarzweiß, Original mit deutschen Untertiteln
Regie Vefik Hadžismajlović
Ein Film über das Dilemma von Mädchen im ländlichen Bosnien, gefangen zwischen der sozialistischen Verfassung mit der darin festgeschriebenen Frauenbildung und den ungeschriebenen Gesetzen patriarchaler Traditionen.

U pravcu početka Back to the Beginning
Jugoslawien 1970, 12′, Farbe, Original mit deutschen Untertiteln
Regie Director Dejan Đjurković
Auf den Straßen Belgrads findet eine wilde Verfolgungsjagd statt – Busse und Autos fahren frei herum und der Betondschungel nimmt in dieser einzigartigen filmischen Vision, die von der Aura der Bewegung der Blockfreien Staaten geprägt ist, eine wörtliche Bedeutung an.

Dve koračnici Two Marches
Jugoslawien Yugoslavia 1972, 35mm, 9′, Schwarzweiß, ohne Dialoge
Regie Dušan Povh
Wenn wir den Ton abstellen, wird die Welt der Politik ungeheuer simpel und nachvollziehbar – sie kann alles und nichts sein, solange die Politiker auf ihren Sitzen bleiben.

46. Vzporednik 46th Parallel
Jugoslawien 1974, 35mm, 10′, Farbe, Original mit deutschen Untertiteln
Regie Director Jože Pogačnik
In der slowenischen Kleinstadt Idrija sind Masken ein wertvolles Hilfsmittel – die Quecksilber abbauenden Bergleute brauchen sie aus Sicherheitsgründen, die Bewohner, um bei Verstand zu bleiben.

Malj The Mallet
Jugoslawien 1977, 11′, Farbe, ohne Dialoge
Regie Aleksandar Ilić
Auf dem Fließband eines Geflügelhofs entscheiden die sortierenden Hände über Leben und Tod, während ein kleines schwarzes Küken um sein Leben kämpft. Eine futuristische Filmmetapher für unsere segregationistische Realität.

 

Programm 2: On All Fronts
Kuratiert von Karina Griffith

„Konfrontation der Kulturen“ hieß ein umfassendes diskursives Filmprogramm der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen 1993. Das Projekt wollte unter anderem die Schwarze Ästhetik im Film erforschen. Ziel des Symposiums war es, so Festivalleiterin Angela Haardt, die „westliche, weiße, männliche“ Perspektive zu dekonstruieren und von jenen Künstler*innen zu lernen, die „vom Prinzip der Gleichheit ausgeschlossen sind“. Zu diesem Zweck wurden unter anderem Schwarze Filmemacher*innen und 47 Filme aus Nordamerika, dem Vereinigten Königreich und der Karibik, die Gastkuratorinnen Coco Fusco, June Givanni und Monica Funke-Stern sowie Keynote-Speaker Diedrich Diederichsen eingeladen. Obwohl der Schwarze europäische Film eine geografische Kategorie für die Programmauswahl darstellte, wurden keine Filme von Schwarzen Deutschen gezeigt. „Wo sind die deutschen Schwarzen und POC-Filmemacher*innen?“, fragte die Historikerin Tricia Rose daraufhin während einer Publikumsdiskussion.

„On All Fronts“, kuratiert von Karina Griffith, knüpft an diese Frage an. Als spekulatives Filmprogramm stellt es sich Schwarze Filme aus Deutschland als Teil des ursprünglichen Projekts von 1993 vor. Das Programm mischt eine Auswahl von Filmen aus dem Originalprogramm mit damals existierenden deutschen Filmen Schwarzer Autor*innen und entwirft so eine neue Auswahl, die nationale Grenzen überschreitet. Die Schwarzen Filmperspektiven in „On All Fronts“ finden einen vielstimmigen Zugang zu Ton und Narration und thematisieren in ihren unterschiedlichen Inhalten sowohl innere Auseinandersetzungen als auch äußere Konflikte. Die kuratorische Frage lautet: Wie können wir in Archive und Geschichten eindringen und uns aufdrängen, um eine reparative Vorstellung von kulturellem Austausch hervorzurufen?

Karina Griffith ist Künstlerin, Kuratorin und Filmwissenschaftlerin und lebt in Berlin und Toronto. Sie hat einen Lehrauftrag am Institut für Kunst im Kontext (UdK) für Medientheorie und -praxis und gehört seit 2021 zum Kuratorenteam des Berlinale Forum Expanded.

Filmprogramm

Leugt
Deutschland 1983, 16mm, 13′, Schwarzweiß, Deutsch, Englisch
Regie Director Raoul Peck
Dieser Experimentalfilm besteht aus Standbildern der gewaltsamen Proteste anlässlich des Besuchs des US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan in (West-)Berlin im Jahr 1982 sowie Illustrationen des französischen Künstlers Gustave Doré. Leugt entstand während Raoul Pecks Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Er dokumentiert vielschichtig – akustisch wie visuell – die ideologische Konfrontation.

Black Mother Black Daughter
Kanada, Karibik 1989, 29′, Farbe, Englisch
Regie Sylvia Hamilton, Claire Prieto
Die Gemeinde Africville, gegründet von ehemaligen Sklaven und Schwarzen Loyalisten in Kanada, wurde schlecht versorgt und in den 1960er-Jahren von der Provinzregierung unter dem Vorwand der „städtischen Erneuerung“ ausgelöscht. Die Filmemacherin Sylvia Hamilton ist die Erzählerin dieses Dokumentarfilms über die standhaften Schwarzen Communitys, die überleben, florieren und weiterhin Reparationen einfordern. Die A-capella-Musik im Film stammt von For The Moment, einer Gruppe, die singend die mündlich tradierten Geschichten der Schwarzen in Nova Scotia erzählt.

Cycles
USA 1989, 17′, Schwarzweiß, Englisch
Regie Zeinabu Irene Davis
Achtsam auf ihr Umfeld und ihren Körper und auf der Suche nach einem Gleichgewicht führt die Protagonistin in Cycles private Rituale aus, dabei getragen von der Fürsprache ihrer vielstimmigen inneren Dialoge. Die Lieder im Film stammen von der südafrikanischen Sängerin Miriam Makeba und der amerikanischen Jazztrompeterin Clora Bryant. Davis war 1993 beim Symposium Konfrontation der Kulturen in Oberhausen vor Ort, um ihren Film vorzustellen.

Mad Bad Mortal Beings
Vereinigtes Königreich 1992, 16mm, 10′, Farbe, Englisch
Regie Ludmilla Andrews
Der Film wurde von der Kuratorin June Givanni für das Programm Konfrontation der Kulturen im Jahr 1993 ausgewählt. Mad Bad Mortal Beings (mit Sophie Okonedo, Yvonne French und Indra Ové) zeigt die Fantasiewelt, die Erinnerungen und die Krise von Cait, einer völlig verzweifelten Frau am Ende einer Beziehung. In ihrer Traumwelt voller persönlicher Rituale, Symbole und Metaphern stellt sie sich ihren eigenen Ängsten.

A Lover & Killer of Colour
Deutschland 1988, 16mm, 9′, Farbe, Deutsch
Regie Wanjiru Kinyanjui
Kinyanjuis A Lover & Killer of Colour entstand während ihres Studiums an der DFFB und wurde 1989 bei den Kurzfilmtagen Oberhausen gezeigt. Die Tonspur des Films, ein Gedicht von Alida Babel, beschreibt verschiedene Ausdrucksformen – einen Stift, der auf ein weißes Blatt Papier schreibt, einen Pinsel, der auf eine weiße Leinwand trifft – als Metaphern für die Konfrontation mit weißer Vorherrschaft.

Im Anschluss an das Programm im Petit Café: Karina Griffith im Gespräch mit Wanjiru Kinyanjui (live, online).

Programm 3: Counter Encounters
Kuratiert von Merv Espina

Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der frühen postsowjetischen Ära begann das Goethe-Institut in den 1980er-Jahren mit einer ambitionierten Reihe von Film- und Videoworkshops in der ganzen Welt. Das kuratierte Programm Konfrontation der Kulturen: Medienarbeit des Goethe-Instituts in drei Kontinenten (Afrika, Asien und Lateinamerika), das bei den Kurzfilmtagen

Oberhausen 1993 27 Arbeiten aus zwölf Ländern zeigte, war eine der größten Präsentationen dieses Engagements. Durch die erneute Auswahl von Filmen aus dem Programm von 1993 sowie von solchen aus denselben Orten, die nicht Teil des Programms waren, lädt Merv Espina dazu ein, den kuratorischen Rahmen von 1993 und den damaligen Diskussionsstand zu überdenken und sich mögliche Begegnungen und Gegenbegegnungen, gemeinsame Geschichten und geteilte Erfahrungen vorzustellen: Demokratiebewegungen und Militärdiktaturen, imperiale und kommerzielle Kolonisierung, die Spannungen und Ängste einer vergangenen und doch aktuellen Zeitgenossenschaft in sich schnell verändernden Kontexten. Das Programm konzentriert sich auf die Workshops in Manila, Bangkok und Seoul und stellt Arbeiten von Workshopleiter und – teilnehmer*innen einander gegenüber. Zur Frage nach dem nachhaltigen Einfluss der Workshops und ihrer persönlichen Wirkung sagte der deutsche Filmemacher und Workshopleiter Christoph Janetzko 1993: „Auswirkungen kann man nur auf lange Sicht sehen.“ 29 Jahre später ist es an der Zeit, diese Frage erneut zu stellen. Im Anschluss an die Vorführung findet ein Gespräch (live, online) mit dem Filmemacher Nick Deocampo statt. Deocampo war Partner des Workshops in Manila und 1993 Gast des Programms in Oberhausen.

Merv Espina ist ein in Metro Manila lebender Künstler und Wissenschaftler. In seiner Arbeit untersucht er die Risse systemischer Verzerrungen und historischer Versäumnisse in Kultur, Medien und Wissensproduktion sowie die Netzwerke und Organismen, die dadurch entstanden sind.

Filmprogramm

Spit/Optik
Philippinen 1988, 16mm, 9′59″, Farbe, ohne Dialoge
Regie Roxlee, Benjie Lontoc, Yeye Calderon, At Maculangan
Ursprünglich ein Mix aus drei Filmen (Spit, Words & Outtakes und Optik) kombiniert dieser Film Animation, Found Footage, flüssiges Quecksilber und fliegende Gehirne.

S1
Deutschland 1985, 16mm, 13′50″, Farbe, ohne Dialoge
Regie Christoph Janetzko
Eine filmische Collage rund um das Bild eines vergrößerten Perforationslochs, um neue Assoziationen und mögliche Verbindungen hervorzurufen, die durch die Lücken entwischt sind.

Wet Dream
Südkorea 1992, 16mm, 15′09″, Farbe, ohne Dialoge
Regie Kim Yun Tae, Lee Byung Ryul, Park Kyung Ju
Ein Traum, wie koreanische Beerdigungsriten in drei Teile geteilt. Dieser Film ist eine Reflexion über politische und persönliche Traumata, die den Staatskörper und den erotischen Körper verkomplizieren.

Under Taboo
Thailand 1992, 9′59″, Farbe, ohne Dialoge
Regie Jerdsak Poolthup, Pimpaka Towira, Sirivan Pothai, Sasivimon Chaungyanyong
Blumen blühen, Verlangen wird abstrahiert, ein Körper wird eine Treppe hinaufgeschleppt.

Thousandth Birth
Thailand 1992, 7′17″, Farbe, ohne Dialoge
Regie Mana Suealek, Wilailuck Suwachittanont, Surachai Jiracharoenvongsa, Chaiwat Lochotinant, Nida Kanchanawetchakul
Ein einsamer Mann und ein Buddha, die Langeweile des Stadtlebens oder die Notwendigkeit, sich zu verstecken; Unfälle oder Morde, die Gewalt der Nachrichten ist in Orange eingefärbt.

Sorry, I’m an Actress
Südkorea 1992, 8′22″, Farbe, ohne Dialoge
Regie Park Jihong
Schwenk, Kippbild und Zoom in eine Nachtszene in Seoul: verrufene Frauen, Mannequins in traditionellen Roben, eine Metzgerei, eine Schauspielerin.

Kalawang Rust
Philippinen 1989, 6′11″, Schwarzweiß, ohne Dialoge
Regie Cesar Hernando, Eli Guieb III, Jimbo Albano
Unter Verwendung von Found Footage und Archivaufnahmen von Krieg, Sex und Popkultur nimmt Kalawang die kommerziellen und triebhaften Komplexe der Kolonialisierung auseinander.

 

Programm 4: Peter Nestler

Mit dem Dokumentarfilmer Peter Nestler verbindet die Kurzfilmtage eine reibungsvolle Geschichte. Nachdem seine ersten Filme in Oberhausen abgelehnt oder in Gegenprogrammen am Rande des Festivals gezeigt wurden, führte die Aufführung seines hellsichtig-mahnenden Films Von Griechenland auf den Kurzfilmtagen 1966 zu einem Eklat. Man wisse nun, dass man es bei Nestler mit einem Kommunisten zu tun habe, schrieb die westdeutsche Presse, die indes nicht wissen wollte, dass in Griechenland ein faschistischer Putsch bevorstand. „Danach ging für mich in Deutschland nichts mehr”, erinnerte sich Peter Nestler einige Jahre später in einem Interview. Er emigrierte nach Schweden, bekam dort eine Anstellung als Redakteur beim Zweiten Fernsehkanal und konnte wieder arbeiten.

Trotz der holprigen Anfänge blieb Nestler den Kurzfilmtagen als Berater verbunden und war auch zweimal, 1975 und 1990, Mitglied der Internationalen Jury. Noch immer lebt er in Schweden, noch immer macht er Filme, zuletzt Picasso in Vallauris (2021), das Porträt eines Unbeugsamen, das hier seine Kinopremiere erlebt. Zu Gast: Peter Nestler, Rainer Komers, Dieter Reifarth.

Filmprogramm

Aufsätze
Peter Nestler
Deutschland, 11 Min, 1963, deutsch mit englischen Untertiteln, s/w, DCP
Eine kleine Dorfschule auf 2000 Meter Höhe im Berner Oberland. „Ein fröhlicher Film. Auch ein Spielfilm. Am Anfang: man sieht Kinder auf dem Weg zur Schule, man hört ein Mädchen von den Bäumen im Herbst erzählen. Zum Schluß: der Nachhauseweg und die Erzählung von der Keilerei. die Kinder tragen vor. Sie haben vorher aufgeschrieben, was sie erzählen.“ (Rainer Gansera, Filmkritik H. 273,1979)

Bareha Dar Barf Bedonya Miayand Die Lämmer werden im Schnee geboren
Farhad Mehranfar
Iran, 27 Min, 1989, Original, englisch und deutsch eingesprochen, Farbe, 16mm Kopie digitalisiert
Ein Winter mit Hirtennomaden im Norden Irans. Das Futter für die Schafe muss von den Bäumen geschnitten werden, eine Arbeit, bei der man abstürzen kann. Das Krankenhaus ist weit. Die Lämmer werden im Schnee geboren. Die Internationale Jury, der Peter Nestler angehörte, zeichnete Mehranfars Film 1990 mit dem „Umweltpreis“ aus, den eine Oberhausener Bürgerin gestiftet hatte.

Picasso in Vallauris
Peter Nestler, Mitarbeit: Rainer Komers, Dieter Reifarth
Deutschland, 48 Min, 2021, deutsch, französisch mit englischen Untertiteln, Farbe, DCP
Picasso in Vallauris ist 2021 als Auftragsarbeit für die Ausstellung „Der geteilte Picasso“ im Museum Ludwig in Köln entstanden. Den Wunsch, diesen Film zu machen, hatte Nestler allerdings bereits seit 1972, als er auf dem Rückweg von Dreharbeiten Picassos Friedenskapelle in Vallauris besuchte. Vallauris ist berühmt für seine Keramiken, auch Picasso hat hier vor allem mit Ton gearbeitet. Mit offenen Augen und Ohren bewegen sich Nestler, Komers und Reifarth durch das Städtchen, sehen Villen, Handwerk, Migrant*innen, und besuchen eine Schule, wo Kinder malen. Man spürt wie diese letzte, lange Szene einen Bogen spannt: zurück zu Aufsätze, aber auch zu der Frage, warum einer schweigt und malt, wie das zusammen geht: die Friedenskapelle, die Kriegsbilder, die vielen Tauben und Picassos oft zitiertes Bekenntnis, die Malerei sei nicht dazu da, Wohnungen zu schmücken, sondern sie sei ein Werkzeug des Angriffs und der Verteidigung im Krieg.