Notizen zum Motiv des Flugs und der Vogelperspektive bei W.G. Sebald
Überreste des ehemaligen Flugfelds von Leiston, Suffolk. Sommer 2018.
In den Erzählungen und Beschreibungen des Schriftstellers W.G. Sebald spielen die Unterschiede zwischen Perspektiven, Blickwinkeln und Sichtverhältnissen eine zentrale Rolle. Sie bedingen Wechsel in den grammatikalischen und emotionalen Architekturen der oft sukzessive, nicht selten über ganze Seiten sich aufbauenden Gedankengänge, Traumbilder und Panoramen. Auch die in den Textfluss eingebrachten Fotos und Bilder, die zu einem Charakteristikum von Sebalds Büchern wurden, scheinen immer wieder Versuche, nicht so sehr das Erzählte zu bebildern, sondern den Leser und Betrachter überhaupt mit der Frage zu konfrontieren, was man sieht oder gesehen hat und welche Evidenz dem Gesehenen im Allgemeinen und Bildern, vor allem Fotos, im Besonderen zukommt.
Es kann passieren ‒ wie in einer Traumbeschreibung in Sebalds letztem Roman Austerlitz, in der dem Träumenden Jacques Austerlitz der alternde Giacomo Casanova erscheint, am Schreibtisch sitzend in seinem Exil in der nordböhmischen Stadt Dux ‒, dass ein Blick aus dem Fenster in einen Garten unversehens zu einem Panoramablick über eine ganze Landschaft und die in sie eingeschriebene Geschichte wird und dass Dinge und Zusammenhänge ersichtlich werden, die man allenfalls im Flug zu sehen bekäme, wobei das Gefährt, das einen in die Aufsicht emporhebt, gleichzeitig in die Höhe und in die Vergangenheit zu reisen imstande sein müsste. Die Erzähler Sebalds werden regelmäßig von einem Drang nach oben erfasst, einer Sehnsucht nach Levitation, zu deren widersprüchlichen Gratifikationen jedoch die Klar- und Weitsicht ebenso gehören wie das Vergessen und die vorübergehende Befreiung von der Schwere des Körpers und der Dinge. „Je weiter man von der Erde abhebe, sagte er, desto besser“, so zitiert Austerlitz seinen Jugendfreund Gerald Fitzpatrick, der bald darauf auch das Studium der Astronomie aufgenommen habe, nachdem die Leidenschaften seiner Kindheit und Jugend bereits das Studium der Tauben und später die Fliegerei waren, bei der er dann auch jung sein Leben ließ.
Tatsächlich bleiben selbst die fantastischsten Höhenflüge der Sebaldschen Prosa insofern immer noch auf dem Boden der Tatsachen, als dass sie nicht verschweigen, dass es zum Fliegen eines Fluggeräts bedarf, und dass die Aviation wie kaum eine andere Errungenschaft der Menschheit nicht nur das Bild und die Perspektive auf die Welt, sondern auch deren Aussehen unwiderruflich verändert hat. Wenn in Sebalds Erzählungen jemand ein Flugzeug besteigt, so tritt er dabei nicht nur in die Nachfolge der Flugpioniere von Ikarus bis Blériot, sondern überlässt sich einer Technik, die das moderne Kriegswesen hervorgebracht und die „Naturgeschichte der Zerstörung“ in einer Weise fortgeschrieben hat, die das Erleben und Erinnern und damit die Möglichkeiten des Erzählens irreversibel verändert hat. Walter Benjamin hat in seinem Essay Der Erzähler das Verstummen der Zeugen und den Verlust eines „Vermögen[s], das uns unveräußerlich schien, […n]ämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen“, als eine der nachhaltigsten Folgen der Zerstörungen des Krieges beschrieben. „Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.“ (Benjamin, Illuminationen, S. 409f.) Man könnte sagen, dass alle Erzähler und Erzählerinnen Sebalds in dieser gleichzeitig realen und phantasmagorischen Landschaft der sogenannten Zwischenkriegszeit stehen.
In der verheerenden Kritik an der deutschen Nachkriegsliteratur (d.h. nach dem zweiten Weltkrieg), die Sebald in seinen Zürcher Vorlesungen formulierte (veröffentlicht 2001 in dem Band Luftkrieg und Literatur), hält sich eine gewisse Ambivalenz zwischen dem Anerkennen der von Benjamin beschriebenen sprachlos machenden Wucht der Zerstörung und dem Vorwurf an eine ganze Schriftstellergeneration, an der Aufgabe gescheitert zu sein, für das Gesehene und Erlebte Worte zu finden, eine Sprache zu finden. Einerseits gesteht Sebald ein, dass die unfassbare Plötzlichkeit der Zerstörung, die der Luftkrieg brachte, die Erfahrung des Eben-noch-und-jetzt-nicht-mehr, dazu führte, dass „die Berichte einzelner Augenzeugen […] nur von bedingtem Wert“ seien und der „Ergänzungen [bedürfen] durch das, was sich erschließt unter einem synoptischen, künstlichen Blick.“ (LL, S. 33) Andererseits lässt er kaum einen der literarischen Versuche der 1940er und 50er Jahre als gelungen gelten, und sieht ausgerechnet in der seltenen Hinwendung zum „Dokumentarischen“, das er den literarischen Erfahrungsberichten von Hans-Erich Nossak, Hubert Fichte und Alexander Kluge hoch anrechnet, „die deutsche Nachkriegsliteratur eigentlich erst zu sich [kommen]“, indem sie nämlich „beginnt mit ihren ernsthaften Studien zu einem der tradierten Ästhetik inkommensurablen Material“. (LL 65)
Nun gehört Sebald ja selber zum Kanon der deutschen Literatur und rechnerisch auch gerade noch zur „Kriegsgeneration“. Im Mai 1944 im Allgäu geboren, hat Sebald sein eigenes Leben stets unter dem Einfluss einer „Ungleichzeitigkeit der Zeit“ (Eis, S. 87) gesehen, einer ahnungslosen Zeitgenossenschaft, die die Nachträglichkeit des Bewusstseins zur Folge hatte und die ein Erzählen hervorbrachte, das erst beginnen kann, wenn es sich einen Zeitzeugen geschaffen hat, unter dessen „synoptischem und künstlichen Blick“ das Ausmaß der Verheerung (und bisweilen ein Lichtstreif am Horizont) sichtbar und beschreibbar werden. „Ich glaube, dass man sehr viel einleuchtender über das schreiben kann, was in der Entfernung ist, und daß diese Entfernung eine Voraussetzung für die Wahrnehmung ist.“ (Eis, 123) Man kommt kaum umhin, in dieser Beschreibung einer Optik auch einen Hinweis auf die Gründe für Sebalds freiwilliges Exil in England zu sehen, wo er ab Mitte der 1960er Jahre als Germanist und Übersetzer arbeitete und Ende der 1980er Jahre seinen ersten veröffentlichten Prosatext verfasste, das Prosagedicht Nach der Natur, in dessen allerletzter Strophe der Erzähler mit einem für Sebald untypischen „Herr, mir hat es geträumt“ zu einem gleichwohl typischen Traumflug oder Flugtraum abhebt von England über die Rheinmündung, das Ruhrgebiet, Frankfurt und den Odenwald nach München und dort hinein in das Panorama von Albrecht Altdorfers „Alexanderschlacht“, an dessen Horizont der Träumende das Nildelta und die Halbinsel Sinai zu erkennen meint und „in der Ferne das im schwindenden Licht sich auftürmende Schnee- und Eisgebirge des fremden, unerforschten und afrikanischen Kontinents“ (NN, 99), der in Sebalds Texten auch weitgehend fremd und unerforscht blieb.
Luftkrieg und Literatur erscheint mir als ein Schlüsseltext, wenn es darum geht zu verstehen, wie in Sebalds Schreiben eine in weiten Teilen unversöhnliche Haltung zu Deutschland und die gleichzeitige Annahme der eigenen Biografie als ein Erbteil, das das Schreiben auf Deutsch bisweilen zur Fronarbeit macht, zu einem unablässigen Wechsel zwischen mikroskopischen Nahaufnahmen und Zeiten und Räume umfassenden Panoramen führt. Es scheint, als resultiere dieses wogende Hin und Her zwischen den Extremen aus der Einsicht, dass die angeborene Perspektive einem keine ausreichend klare Sicht und Kenntnis der Dinge gewähre; als müsse man sich sowohl auf ein Detailvernehmen weit unterhalb der üblichen Wahrnehmungsgrenze einstellen und gleichzeitig eine Auf- und Übersicht gewinnen, die einen wie auf Luftaufnahmen von ehemaligen Römerstraßen und vermuteten Massengräbern die verlorenen Zusammenhänge erkennen lassen, die zwischen und unter uns verlaufen, ohne dass wir sie sehen.
Nicht von ungefähr stellt Sebald in Nach der Natur den Beginn seiner eigenen Existenz nicht nur in den zeitlichen Zusammenhang des Kriegs und der Nazidiktatur sondern explizit in den Schatten des Luftkriegs. In einer im Wortsinn autobiografischen, scheinbar Erinnerungen seiner Eltern wiedergebenden Passage des Schlusskapitels wird der zerbrochene Zusammenhang zwischen Erleben und Erzählen unentwirrbar verwoben mit der eigenen Lebenslinie. Zunächst beschreibt der Erzähler ein Foto, das in Bamberg gemacht wurde:
Die Mutter mit einem offenen
Mantel, von einer Unbeschwertheit,
die ihr später abhanden kam; der Vater
ein wenig abseits, die Hände in den Taschen,
auch er, scheint es, sorglos.
Man schreibt den 26. August 1943.
Am 27. Abreise des Vaters nach Dresden,
von dessen Schönheit seinem Gedächtnis,
wie er auf meine Fragen bemerkt,
nichts in Erinnerung geblieben ist.
In der Nacht auf den 28. flogen
582 Maschinen einen Angriff
auf Nürnberg. Die Mutter,
die am anderen Morgen
nachhause ins Allgäu
zurückfahren wollte,
ist mit der Bahn bloß bis Fürth gekommen.
Von dort aus sah sie
Nürnberg in Flammen stehn,
weiß aber heute nicht mehr,
wie die brennende Stadt aussah
und was für Gefühle sie
bei ihrem Anblick bewegten.
Sie sei, so erzählte sie neulich,
von Fürth aus am selben Tag noch
nach Windsheim zu einer Bekannten
gefahren, wo sie das Schlimmste
abgewartet und gemerkt habe, daß
sie schwanger geworden sei.
Das eigene, noch ungeborene Leben steht also bereits im Zeichen des „Schlimmsten“. Dieselbe Verquickung lässt sich zu Beginn der ebenfalls stark autobiografischen vierten Erzählung Max Aurach aus dem Band Die Ausgewanderten erkennen, wo sie allerdings eine komplexere Spur der Bewegung hinterlassen hat, mittels derer sich der Luftkrieg in die Literatur einschreibt.
Bis in mein zweiundzwanzigstes Lebensjahr war ich nie weiter als fünf oder sechs Zugstunden von zu Hause weg gewesen, und deshalb hatte ich, als ich mich aus verschiedenen Erwägungen heraus im Herbst 1966 entschloß, nach England überzusiedeln, kaum eine zulängliche Vorstellung davon, wie es dort aussehen und wie ich, ganz nur auf mich gestellt, in der Fremde zurechtkommen würde. Meiner Unerfahrenheit vielleicht war es zu verdanken, daß ich ohne größere Besorgnis den etwa zweistündigen Nachtflug von Kloten nach Manchester überstand. (Ausgewanderten, S. 219)
Die kurze, kaum zwei Seiten füllende Beschreibung dieses Nachtflugs gehört für mich zum Eindringlichsten, das Sebald geschrieben hat. Sie ist eine der vielen Passagen, in denen das Fliegen das Sehen und Erzählen in Gang bringt, während es eine Freiheit gewährt, in die immer auch ein Vergessen eingeschrieben ist. Das Vergessen ist in dieser Passage allerdings gespalten zwischen der Beschreibung des bewusst Wahrgenommenen und dem allein auf der evozierten Bildebene Miterzählten. Der Erzähler, der ‒ wenn wir die autobiografischen Fäden außerhalb der Erzählung verknoten ‒ während des Bombenkriegs gezeugt wurde, folgt hier ja der Fluglinie, auf der zwischen August und Dezember 1940 die Bomberpiloten der Luftwaffe wiederholte Angriffe auf Manchester flogen, bei denen allein in einer Nacht kurz vor Weihnachten 700 Menschen ums Leben kamen. Wenn diese „Erinnerung“ auch nicht die bewusste Ebene der Erzählung erreicht, so ist sie ohne Zweifel aufgehoben in dem Bild, das sich bietet beim Landeanflug auf die neue Heimat:
Mit einem mahlenden Geräusch und mit bebenden Tragflächen arbeitete die Maschine sich aus der Höhe hernieder, bis in scheinbar greifbarer Nähe die seltsam gerippte Flanke eines kahlen und langgestreckten Berges vorüberglitt, der, wie mir vorkam, gleich einem ungeheuren liegenden Körper atmend manchmal ein wenig sich hob und senkte. In einer letzten Schleife und unter immer stärker werdendem Brausen der Motoren ging es über das offene Land hinaus. Spätestens jetzt hätte man Manchester in seiner ganzen Ausdehnung erkennen müssen. Es war aber nichts zu sehen als ein schwaches Glosen. Eine Nebeldecke, aufgestiegen aus den sumpfigen, bis an die Irische See heranreichenden Ebenen von Lancashire, hatte sich ausgebreitet über die ein Gebiet von tausend Quadratkilometern überziehende, aus unzähligen Ziegeln erbaute und von Millionen von toten und lebendigen Seelen bewohnte Stadt. (Ausgewanderten, 220f.)
Es ist kaum zu weit hergeholt, in dem „Glosen“, das hier an die Stelle des erwarteten Lichtermeers tritt, das Nachbild einer bombardierten und in „Schutt und Asche“ gelegten Stadt zu sehen, ebenso wie es gleichzeitig für die Hochöfen und Kraftwerke stehen mag, die im Bildhaushalt für die Industrialisierung stehen, die von Manchester ihren Ausgang nahm. Die verhüllte oder gedimmte Stadt, die sich dem Betrachter hier darbietet, lässt aber auch an die Verdunkelungspraktiken denken, mit denen die Bewohner der Städte während des Luftkriegs versucht haben, ihre Behausungen unsichtbar zu machen und so die Orientierung aus der Luft zu erschweren. Dass der Erzähler hier auf dem Weg ins englische Exil, ohne es zu wollen und ohne es so recht zu bemerken, die Perspektive eines deutschen Bomberpiloten einnimmt, scheint mir in vielerlei Hinsicht bedeutsam für Sebalds Wahl der Orte, Motive und Affinitäten im Leben ebenso wie in seinem Schreiben. Es sei „äußerst schwierig, über sich selbst zu schreiben, ohne larmoyant zu wirken“, meinte Sebald einmal, wies jedoch gleichzeitig daraufhin, dass er auch wenn er das Leben anderer Leute beschreibe, nicht umhin komme, von sich zu erzählen. „Die Unbekannte ist man selbst. […] Der Erzähler muss die Karten auf den Tisch legen, aber auf möglichst diskrete Art.“ Auf einer der Karten, die Sebald in der Erzählung Max Aurach auf den Tisch legt, steht „17. Mai 1944“ – das Datum auf einem Kindheitsfoto der Vermieterin, bei der der Erzähler in Manchester Wohnung bezieht, das demnach am Vortag von Sebalds Geburt entstanden wäre.
Ab 1970 lehrte W.G. Sebald an der University of East Anglia in Norwich. In East Anglia, das die heutigen Grafschaften Norfolk und Suffolk umfasst, befanden sich dicht an dicht die Flugfelder der Royal Air Force, von denen aus ein Großteil der Luftangriffe auf die deutschen Städte im zweiten Weltkrieg geflogen wurden. Noch heute sind die Überreste dieser Airfields in der Landschaft zu erkennen, auch wenn nur wenige noch in Benutzung sind, als Industriestandorte, Verkehrsübungsplätze oder Militärstützpunkte. An einigen dieser Orte wurden Museen eingerichtet, die der Geschichte der dort stationierten Fliegerbataillone gewidmet sind. Wenn man in eines von ihnen hineingeht, wie ich es mal auf dem aufgelassenen Flugfeld von Tunstall getan habe, wird man feststellen, dass an diesen Erinnerungsorten das Ausmaß der Zerstörung, das von dort über die deutschen Städte gebracht wurde, genausowenig begreifbar wird wie, nach Sebalds Lektüre, in der deutschen Nachkriegsliteratur.
Tobias Hering
Bücher von W.G. Sebald, aus denen zitiert wird:
Nach der Natur (1988)
Die Ausgewanderten (1994)
Luftkrieg und Literatur (2001)
Austerlitz (2001)
Auf ungeheur dünnem Eis (Gespräche 1971 bis 2001) (2009)
alle erhältlich in dtv-Taschenbuchausgaben.