Projekt „Lesbare Stadt“ – Die Lebendigkeit urbaner Plätze und Räume wird in nachgebauten Inszenierungen zu konsumierbaren Paraphrasen verkitscht. Ein Plädoyer gegen den Städtebau aus Panoramasicht.
von Tobias Hering und Tina Veihelmann.
Der französische Soziologe Michel de Certeau hat einmal den „Panoramablick“ als eine „Fiktion des Wissens“ bezeichnet, die „die Komplexität der Stadt lesbar macht und ihre undurchsichtige Mobilität zu einem transparenten Text gerinnen lässt.“ Das Planwerk Innenstadt, eine Art Masterplan für sämtliche Bauvorhaben in der Berliner City, sieht die Stadt als einen Text, der im 20. Jahrhundert bis zur Unlesbarkeit entstellt wurde. Mittels der „kritischen Rekonstruktion“ historischer Grundrisse und Parzellenstrukturen soll Berlin wieder „lesbar“ gemacht werden. Dieses Bild einer „machbaren“ Stadt wird seit einiger Zeit durch Modelle an verschiedenen Ausstellungsorten unters Volk gebracht. Das Volk, niemand anderes als die „Leser“ der Stadt, steht davor wie vor einem Brettspiel und versucht, sich in der ungewohnten Draufsicht zurechtzufinden. „Ich sehe was, was du nicht siehst.“
Dass Marx, Engels und die „Goldelse“ in der Modellstadt die einzigen menschenähnlichen Wesen bleiben, kann als harmlose Stilblüte verbucht werden. Die Fremdheit des Panoramablicks ist jedoch keine Marginalie. Die Topographie Berlins bietet kaum natürliche Erhebungen, von denen aus sich die Stadt überblicken ließe. Die wenigen öffentlich zugänglichen Gebäude, die eine Aussicht versprechen, werden fast ausschließlich von Touristen frequentiert. Berlin präsentiert sich seinen Bewohnern auf Augenhöhe. Von jedem beliebigen Hier und Jetzt aus ist die Größe der Stadt nur eine Hypothese. Dieser situative Bezug zur Stadt fördert ein permanentes Gefühl des Mittendrinseins und ist wohl nicht unwesentlich für die oft zitierte Polizentralität Berlins verantwortlich. Für Berlin ist der Panoramablick ein lebensweltliches Trugbild, für das, so der Verdacht, in besonderer Weise gilt, was Michel de Certeau allgemein formuliert: Es verdankt sich „einem Vergessen und Verkennen der praktischen Vorgänge“.
In den Debatten, die das Planwerk Innenstadt begleitet haben, wurde mit der Abstraktion Panorama-Stadt auch eine Abstraktion ihres idealen Bewohners kreiert: Der sogenannte „Stadtbürger“ oder „Urbanit“ avancierte als „wohlhabender Vertreter der New Economy mit hohen Ansprüchen an einen aufgewerteten urbanen Raum“ zum Hoffnungsträger der Stadtvisionäre. Bei der Übertragung auf die Wirklichkeit der Fischerinsel zeigte sich bald der aggressive Charakter dieser Abstraktion. Bewohner, die ihre Lebenswirklichkeit gegen die Überformungsabsichten des Planwerks verteidigten, wurden als „staatssozialistische Implantate“ diffamiert, die dem „stolzen Anspruch des Stadtbürgers auf eine würdige Umgebung“ im Wege stünden. Dem „Stadtbürger“ stand im Vokabular dieser Debatte der „Betroffene“ gegenüber.
Von der Schaustelle Berlin über die Infobox bis hin zu den 1:500-Modellen hat sich in Berlin ein koketter Umgang mit der Unfertigkeit der Stadt eingespielt. Zwar zeigt sich hier die nicht unsympathische Fähigkeit, aus einer Not eine Tugend zu machen, jedoch zielen diese Inszenierungen keineswegs darauf, im Provisorischen den Charme Berlins zu erkennen. Die „kritische Rekonstruktion“ gibt sich als eine Chirurgie, die sich historische Stadtpläne wie Röntgenbilder vorhält, nach denen der ramponierte Stadtkörper wieder lebenstüchtig gemacht werden soll.
Drei scheinbar gleichermaßen barbarische Eingriffe hätten Berlin das Herz und damit den Berlinern ihre Identität geraubt: der Krieg, der Sozialismus und die Moderne. Derzeit richten sich die Begehrlichkeiten auf das Berliner Stadtschloss, das prominenteste Opfer der unheiligen Allianz zwischen Krieg und DDR. Die Arbeitsgemeinschaft Berliner Stadtschloss wirbt für den Wiederaufbau mit der Behauptung: „Das Schloss lag nicht in Berlin, Berlin war das Schloss“. Diese Polemik steht dem Abriss an Brachialität allerdings in nichts nach.
Ein ähnliches apologetisches Bemühen um historische Fiktionen ließ sich auch schon bei der Bebauung des Potsdamer Platzes beobachten. Für ihn wurde der Mythos des „einst lebhaftesten Platzes“ Europas geschaffen. Die weniger spektakuläre Realität dieser Lebhaftigkeit bestand in einem historischen Planungsfehler: Das hohe Verkehrsaufkommen war dem Nadelöhrcharakter der Straßenführung geschuldet. Bei den Hackeschen Höfen wurde die architektonische Kleinteiligkeit der Spandauer Vorstadt mit alten und neuen Bohème-Klischees verkocht, um der Stadt ein pittoreskes Hofensemble als Konsumraum mit Flair schmackhaft zu machen. In beiden Fällen diente die historische Fiktion dazu, den Implantaten den Anschein von Authentizität zu geben.
Derartige Inszenierungen sind spätestens dann problematisch, wenn sie in ihrer nostalgischen Vergessenheit eine andere Art von Authentizität an den Rand drängen, nämlich die der Menschen, die mit den Orten einen sehr praktischen und persönlichen Umgang gepflegt haben: eine alltägliche, situative Authentizität, die eher flüchtig ist, bisweilen banal, und die sich nicht primär an Konsumbedürfnissen orientiert. Dagegen generieren die Arkaden, Höfe und Passagen, die bei Investoren so beliebt sind, eine besondere Form der Lesbarkeit: Indem sie sich dem Stadtbenutzer als leicht verständliche Parcours anbiedern, versuchen sie dessen Wege und Handlungen berechenbar zu machen. Unter dem Gebot der Rentabilität wird der Stadtraum zur Prognose seiner Benutzung durch die Menschen, also Kunden.
Hackesche Höfe, Friedrichstadtpassagen, Heckmann Höfe, Neues Kranzler Eck – all diese Räume sind durchaus auf Offenheit angelegt und laden zu ihrer Begehung ein. Die Architektur soll urbane Stimmung erzeugen, um den niedlich in die Fassaden eingelassenen Läden Laufpublikum und Kundschaft zu sichern. Aber wird man das Unbehagen jemals los an diesen Orten, wo man so perfekt in die Kulisse passt, als würde von oben jemand mitlesen? Warum sollten wir diese inszenierte Lebendigkeit den unspektakulären Improvisationen des Alltags vorziehen, der Plötzlichkeit einer momentanen Stimmung, eines manchmal auch grotesken Sich-woanders-Fühlens, wie es etwa an solchen störrischen Orten wie dem Alexanderplatz möglich ist?
Auf einer der letzten großen Brachflächen in der östlichen Mitte, dem keilförmigen Gelände zwischen Friedrichstraße und Oranienburger Straße, kündigt sich ein weiterer gigantischer Kulissenzauber der lesbaren Stadt an. Die Kölner Fundus-Gruppe plant auf dem Areal unter dem Namen Johannisviertel ein künstliches Quartier mit wuchtiger Blockbebauung und maximaler Gewinnspanne. Ein Ensemble selbstgefälliger Architekturzitate soll als pompös-pittoreske Kulisse für die bekannte Trias „Wohnen, Arbeiten, Shoppen“ dienen. Auf dem Gelände steht auch das Kunsthaus Tacheles, auf dessen Freifläche sich ein paar Jahre lang das Künstliche einer Bühne mit der Banalität authentischer Alltäglichkeit auf kongeniale Weise verband. Nicht die bizarren Schrottskulpturen haben diesen Ort interessant gemacht, sondern die Tatsache, dass hier Künstler, Touristen, Stadtnomaden und „Urbaniten“ an einem Ort zusammenkamen, der nicht klar vorgab, was dort zu geschehen hat.
Nun wird das Tacheles selbst nicht etwa geschliffen, sondern vom Investor saniert. Es soll in das entstehende Quartier integriert werden. Diese joviale Geste zeigt mehr noch, als jede Abrissbirne es könnte, den brutalen Domestizierungszwang des Vorhabens „lesbare Stadt“. Würde das Tacheles weggerissen, entstünde dort, wo eine Stadtwunde geschlossen werden soll, eine neue. Zu nachhaltig hat das Gebäude und die Freifläche im Zuge seiner Folklorisierung die Imagination von Bewohnern und Besuchern geprägt.
Der Fall des Tacheles steht damit nur exemplarisch für die Entwicklung des gesamten Viertels der Spandauer Vorstadt. Auf eine Phase des experimentellen und klandestinen Umgangs mit dem öffentlichen Raum folgt die Aneignung durch Investoren, die aus dem abenteuerlichen Flair Profit schlagen. Die Domestizierung des Unkontrollierten wirkt dabei nachhaltiger als seine Verdrängung. Am Tacheles könnte das so aussehen: eine geputzte Fassade mit einer mannshohen Anzeigetafel, auf der in Laufschrift kämpferische Hausbesetzersprüche blinken. In der lesbaren Stadt lassen sich noch die Risse und Kakophonien zu konsumierbaren Paraphrasen verkitschen. Dagegen gelte es an einer Realität von Stadt festzuhalten, in der das Nebeneinander mitunter unvereinbarer Differenzen dazu herausfordert, sich hin und wieder auf kreative Art zu verlesen. In Biografien ebenso wie im Stadtraum hat Identitätsfindung damit zu tun, Konfliktsituationen auszuhalten, anstatt sich eilig in Konsensenklaven zurückzuziehen.
Unter diesem Aspekt ist selbst die banale Funktionalität von Shopping Malls unproblematischer als die verhübschten Inszenierungen der Passagen und Höfe. Letztere geben vor, ein Bedürfnis nach Leben und Erleben zu befriedigen, indem sie Shoppen als kulturell wertvolle Freizeitbeschäftigung uminterpretieren. Die Malls kaschieren dagegen wenigstens nicht die Banalität ihres Gebrauchswerts. Sie lassen sich ungezwungen in Besitz nehmen, weil sie einen klar begrenzten Platz in der multifunktionalen Bedürfnisstruktur des Stadtbenutzers haben. Es ist gar nicht schlimm, dass ihnen das „gewisse Etwas“ fehlt. Denn dadurch verweisen sie auf andere Orte in der Stadt, die man dann aufsucht, um gerade das zu finden. Es ist gut, wenn Orten etwas fehlt, es ist geradezu ihr natürlicher Zustand.
Stadt ist bebauter Raum mit wechselnder Dichte. Das Hauptanliegen sollte nicht sein, Brachflächen zu verteidigen, sondern den bebauten Raum jenseits vorgesehener „Mischnutzung“ begehbar zu halten. Je mehr Orte durch dauerhafte statische Inszenierungen in Beschlag genommen werden, desto mehr sollte man sich daran erinnern, dass der Reiz eines offenen Raumes in der Flüchtigkeit seiner Benutzung liegt. Der Alexanderplatz gewinnt seinen derzeitigen Reiz aus der Gelegenheit des Augenblicks. Er ist nicht schön; er ist etwas ratlos und in dieser Ratlosigkeit ein offener Stadtraum. Ein Ort ist, was an ihm getan wird.
„Das Alltägliche setzt sich aus allen möglichen Arten des Wilderns zusammen“, wie der bereits zitierte Michel de Certeau feststellt. In der „lesbaren Stadt“ wäre sinngemäß daran zu erinnern, dass auch „lesen wildern heißt.“ Zwar haben wir es als Konsumenten, Benutzer und Bewohner immer schon mit Fakten und Produkten zu tun, die uns vorgegeben sind. Zwischen uns und diesen Vorgaben gibt es jedoch stets den Spielraum des Gebrauchs. Erst in der täglichen, mal banalen, mal spektakulären Nutzung dieses Spielraums wird die Stadt zu einem Lebensraum.
erschienen in der Freitag im Mai 2001 sowie etwas später in etwas längerer Fassung in der Berliner Stadtzeitung scheinschlag.