Epitaph für einen Tonmeister
Über die Filme So Long No See (2009), Soliloque 2 / La Barbarie (1982) und Un autre été (1981) von Veronique Goël
So Long No See von Véronique Goël ist ein filmisches Epitaph auf den Tonmeister Luc Yersin, der im Mai 2008 verstorben ist. Der 16minütige Film besteht aus einer Serie statischer Kameraeinstellungen auf Berliner Bahnsteige, die offenbar aus dem Fenster oder durch die offene Tür der S-Bahn heraus gedreht sind. Jede der Einstellungen endet stets in dem Moment, in dem nach dem „Zurückbleiben Bitte!“ und dem saugend klappenden Geräusch der sich schließenden Türen das Anfahren der Bahn unmittelbar bevorsteht und sich das Bild also in Bewegung setzen müsste. Statt der Bewegung folgt ein Umschnitt auf eine neue, mehr oder weniger ähnliche statische Kadrierung. Der Film ist aus den Abfällen eines anderen Filmvorhabens gemacht, für das Véronique Goël Fensterblicke auf Berlin, Travellings aus der fahrenden S-Bahn gedreht hat.
Dieser Film, der nie fertig gestellt wurde, sollte visuell und konzeptionell an Soliloque 2 anschließen, eine sehr frühe Arbeit der Filmemacherin, bei der Luc Yersin für den Ton verantwortlich war. Soliloque 2 ist einer von mehreren Essayfilmen von Véronique Goël, in denen persönliche Erlebnisse und zeitpolitische oder historische Ereignisse durch eine auf den ersten Blick inkommensurable Gegenüberstellung in Beziehung gesetzt werden. Soliloque 2 handelt von einer Freundschaft, die sich verliert, bis die Erzählerin schließlich erfährt, dass der andere bereits vor einiger Zeit verstorben ist und die Briefe, die sie ihm schrieb (und die sie uns vorlas), nicht mehr lesen konnte. Das dialogische Vorlesen der Briefe im Voiceover wird mehrmals durch erschütternde Texttafeln über Massaker der Roten Khmer unterbrochen. Bebildert ist dieser Widerstreit zwischen einer schwer vorstellbaren Brutalität und einem schmerzhaften persönlichen Verlust mit Aufnahmen von Berlin, die im Sommer 1982 zum größten Teil aus einem fahrenden Auto heraus gedreht wurden.
Ohne eine Vorstellung zu haben, wie der nicht realisierte S-Bahn Film aus dem Jahr 2009 ausgesehen hätte, habe ich den Eindruck, dass der stattdessen entstandene So Long No See, der vom Tod eines Tonmeisters erzählt, eine überaus schlüssige, beinahe organische Folgeerscheinung von Soliloque 2 ist.
So Long No See besteht aus den Anfängen einer jeden Einstellung des nicht-entstandenen Films, den Blicken aus der stehenden Bahn, die in der auf Bewegung basierenden Dramaturgie des zu machenden Films nicht vorgesehen waren. Sie sind entstanden, weil der Kameramann es rasch leid war, exakt auf die Ein/Aus-Anweisungen der Regisseurin zu achten, wenn man doch mit einem unwesentlichen finanziellen Mehraufwand die Kamera einfach laufen lassen konnte und sich nachher die Passagen schneiden konnte, wie man sie brauchte. Eine naheliegende ökonomische Überlegung, die sich den geringen Kosten des digitalen Filmens verdankt. Soliloque 2 wurde 1982 auf Acht-Millimeter-Material gedreht und es war noch notwendig, aus Kostengründen konzentrierter zu drehen und bereits beim Drehen den Schnitt zu machen.
Die Entstehung von So Long No See erzählt jedoch in gewisser Weise eine Umkehrung der bekannten Geschichte von der Ökonomie des Digitalfilms, denn der Film besteht ja gerade aus Abfällen, also aus dem was von vorneherein nicht zählte. Das potenziell werthaltige Material wurde nie zu einem Film, aus den Abfällen jedoch entstand eine sehr schöne und prägnante Arbeit.
Der Anlass des Films, der Tod Luc Yersins, bleibt über zwei Drittel der Zeit unerwähnt. Man sieht die verschiedenen Ansichten der Bahnsteige, Fragmente des umliegenden Stadtraums, meist aus der leicht erhöhten Perspektive, welche viele Berliner S-Bahnhöfe einem gewähren. Menschen gehen vorbei, auf dem gegenüberliegenden Gleis fährt mal ein Zug ein, oder ein ICE schiebt sich durch das Bild. Auf der Tonspur hört man den meist nur vage bestimmbaren Geräusch- und Stimmenteppich des öffentlichen Nahverkehrs, als Direktton mit dem Kameramikrofon aufgenommen. Gesprächsfetzen sind kaum entzifferbar, nur die Lautsprecher verstärkten Bahnsteigansagen sind in der Regel gut vernehmbar: die Ansage des Fahrtziels der jeweiligen S-Bahn und dann die Aufforderung, zurück zu bleiben, die längst zu einem akustischen Establisher für Berlin geworden ist. Es scheint, dass die Schnittfolge diese Aufforderung wörtlich nimmt. Da sich die Kamera nie in Bewegung setzt, verharrt der Blick in einem repetitiven Zurückbleiben. Der Rhythmus dieser ausbleibenden Bewegung wird prägnant akzentuiert durch das saugende Klappgeräusch der sich schließenden Türen, das immer just in dem Augenblick die Einstellung beendet, in dem es sein stärkstes Volumen erreicht. Ein kurzer, lauter Moment, dessen mechanische Wiederkehr bald das Gefühl einer maschinellen Abfertigung oder Verfertigung der Bilder evoziert, eine Art Abstempeln, Abschneiden oder Auswerfen einer fertigen Einstellung, die sogleich der nächsten Platz macht. Man denkt an die Klappe, die bei Dreharbeiten geschlagen wird, um später Tonspur und Bild synchron zueinander legen zu können.
Das Türgeräusch evoziert aber auch die Vorstellung einer Druckpresse und somit vielleicht von Flugblättern, also Cinétractes, die jedoch ausgeworfen werden, bevor sich ihnen eine Botschaft aufgedruckt hätte. Das Geräusch, der Ton übernimmt die Führung. Schon hier handelt So Long No See vom Kino, aber wir merken es womöglich noch nicht. Dann, unvorhersehbar, setzt der Ton aus. Die Bildfolge läuft weiter wie gehabt, aber stumm. Dort erst, in der Stille, zeigt sich die Mechanisierung, die man den Bildern zuschrieb. Sie arbeitet im Kopf des Betrachters. Längst hat sich die Tonspur eingeprägt und die fehlenden Geräusche ergänzen sich nun wie von selbst aus der Erinnerung. „Zurückbleiben bitte“ und dann das Türgeräusch, zu dem man bereits eine komplexe Beziehung aufgebaut hat.
Dann jedoch beginnt in die Stille hinein eine Stimme, einen Brief vorzulesen, „Dear Stephen“, und sehr bald ist von „Luc“ die Rede, dem Tonmeister, dessen Tod der Sprecherin wie ein Tonverlust vorkommt, als sei der Ton damit aus der Welt verschwunden. Der Zusammenhang mit dem soeben erfahrenen Tonverlust ist klar, die Arbeit wird als Epitaph erkennbar. Man nimmt Teil an diesem Verlust und fühlt sich womöglich etwas unbehaglich darüber, dass der Moment, der den Tod eines Menschen anzeigte, spontan als erholsames Nachlassen einer zum Störfaktor gewordenen Dauerpräsenz wahrgenommen wurde: die maschinelle Erfahrung, der Befehlston; eine Normalität, gegen die sich stummer Widerstand regte.
Tatsächlich höre ich nun aber der Stimme, die den Brief vorliest, gerne zu, bin ihr zugewandt, und erst jetzt, in dieser Zuwendung, erinnere ich mich, wie ich zuvor allenfalls passiv gelauscht habe, wo nicht sogar mit einer gewissen innerlichen Reserve oder Abwendung. Luc Yersin hat bei Goëls erstem Berlin-Film von 1982 den Ton aufgenommen. Zuvor bereits hatte sie mit ihm zusammen gearbeitet an ihrem ersten Langspielfilm Un autre été (1981). In dem Brief an einen gemeinsamen Freund, den Filmemacher Stephen Dwoskin, erzählt sie aber auch, dass sich ihre Wege später immer seltener mit denen Yersins gekreuzt hätten und ihrer beider Leben eigentlich meist „asynchron“ verlaufen seien.
Die Tonalität des Briefs, seine im Stil einer impliziten Hommage eingebrachten Anklänge an die Arbeit mit dem Film und dem Ton legen sich rückwirkend noch einmal über die zuvor gesehenen Bilder, lassen noch einmal, und nun deutlicher, die Abwesenheit einer Begegnung erkennen, die Flüchtigkeit der Präsenz von Menschen in den Bildern, wo sich doch alles am Tag und in einer Millionenstadt abspielt und noch dazu in einem öffentlichen Verkehrsmittel. Auch das Zurück Bleiben! klingt nach, erhält eine melancholische Bedeutung, die zwar den Befehlston etwas dämpft, aber auch einsam macht.
Als der Ton plötzlich wegfiel wie ein Gehörsturz, so erinnere ich mich jetzt beim Einsetzen der Erzählung, habe ich das als sofortige Entlastung empfunden. Erst nachträglich kommt in der Stille die latent oppressive Präsenz zu Bewusstsein, die der Geräuschpegel zuvor hatte: der Aufforderung zurück zu bleiben und das vertraute Geräusch der sich schließenden, das Gehör einschließenden und etwas ausschließenden Türen. In diesem Rekapitulieren manifestiert sich eine Teilnahme an der Trauer eines anderen, und auch diese Erkenntnis kommt erst mit einer gewissen Verzögerung, nachträglich. Der Film, dessen Bilder Momente festzuhalten scheinen, kurz bevor etwas passiert, bewegt sich in Wirklichkeit im unmittelbaren Nachhall von Ereignissen, die kurz zuvor passiert sind. Das Meisterhafte dieser Arbeit scheint mir darin zu liegen, dass sich dies alles auf denkbar kleinem Raum und mit einfachen aber sicher gewählten Erzählmitteln einstellt.
Den Verlust des Tons im Film mit dem Tod eines Tonmeisters zu identifizieren erscheint mir auch nicht als Kurzschluss. Im Gegenteil, es wird dadurch ein langer Bogen eröffnet, der nicht nur das zuvor Gesehene umfasst und zum Gegenstand einer Erinnerungsarbeit macht, sondern der sich auch auf die Entstehungsbedingungen von Filmton ausweitet, auf die Präsenz (und nun Abwesenheit) eines Menschen mit einem Mikrofon und einer gewissen Fertigkeit; auf das separate, wenn auch oft parallele Geschäft von Bild und Ton, das für unterschiedliche Formen der Aufmerksamkeit steht und sehr verschiedene Registrierungstechniken und –apparaturen erfordert. Das, dessen plötzlicher Verlust hier als eine leichte Entspannung erlebt wurde, ist das, dem der Tonmeister zuvor permanent und mit einer durch Kopfhörer und Apparaturen noch gesteigerten Sensibilität ausgesetzt war, dem seine Aufmerksamkeit und sein Handwerk galt. Wenn dies eine Störung, ein Lärm, eine schmerzhafte Präsenz war, so war es auch sein Schmerz, oder womöglich war es der Gewinn seiner Fertigkeit, diejenigen Nuancen der Töne zu registrieren, die den Schmerz mildern oder verständlich machen.
Un autre été, Goëls erster Spielfilm und ihre erste Zusammenarbeit mit Luc Yersin, entstand 1981 in Genf und erzählt von dem subkutanen, schwer artikulierbaren und bisweilen nicht einmal bewusst werdenden Schmerz des Alltags. Und dieser Film, von mir zuletzt gesehen, ist wie der Schlüssel zu der Erzählung über den Ton und sein Ausbleiben und den Tod eines Freundes. Auch in diesem Film ereignet sich ein unvorhersehbarer Tonverlust, ein plötzlicher Hörsturz gleich in der ersten Szene. Man hängt in solchen Kinomomenten immer etwas in der Luft, weil man nicht weiß, ob die Vorführerin versehentlich gegen einen Knopf gestoßen ist, oder ob das „so sein soll“. Es soll hier so sein und muss hier so sein, denn mit diesem Riss in der Tonspur, mit dieser unvermuteten Stille, löst sich der Ton aus der Umklammerung der Synchronität und des Bildes und macht sich gewissermaßen frei, um von dem zu erzählen, was nicht sichtbar ist, oder auch frei dazu, von dem, was im Bild ist, nur einen Teil hörbar zu machen und den anderen Teil als stumme Anwesenheit zu belassen, von der eine unartikulierte Frage ausgeht.
Der Tonausfall ereignet sich beim Frühstück und hat nichts Traumatisches. Er wird nicht bemerkt und nichts im Bild rechtfertigt ihn, sofern man nicht annimmt, dass eine etwas hastig verschlungene Semmel einen Hörsturz verursachen kann. Der es so eilig hat, gehört zu einer Kolonne von Werbezettelverteilern, die von ihrem Einsatzleiter allmorgendlich irgendwo in der Stadt oder im Umland ausgesetzt werden, um die Briefkästen zu befüllen. Es geht um Arbeit, um Monotonie; darum, dass zu wenig Zeit bleibt und diese dadurch noch wertloser wird (nicht etwa kostbarer). Es geht auch um Müdigkeit und um die Reduktion der Wahrnehmung des Anderen. Als der Mann aus der Eingangsszene auf die Straße tritt, um sein Tagwerk zu beginnen, wartet die Kamera bereits auf ihn. Und der Ton läuft auch schon, und er läuft dann mit, wenn der Mann von einem Hauseingang zum nächsten geht und dort für ein paar Momente verschwindet, um zu den Briefkästen zu gelangen. Der Ton folgt ihm, bleibt immer auf gleicher Höhe mit ihm, während er sich im Bild immer weiter die Straße hinunter entfernt. Wir hören seine Schritte, seine Handgriffe, das Klappen der Briefkastenschlitze, die wir nicht sehen. Wir sehen nur die Straße, aber von dieser hören wir nichts. Wir hören nur den Mann und seine Arbeit, wir hören nur, was zählt. Dies ist die Folge des Bruchs, der sich beim Frühstück ereignete, als noch vieles denkbar und vorstellbar und daher möglich war: dass der Mann in den Park oder die Uni, zu einem Freund, ans Meer, ins Kino oder auf eine Demo ginge. Sehr gut möglich alles. Die Reduktion aber bedeutet, dass er zur Arbeit geht und diese am schmerzlosesten erledigt, wenn er alles andere ausblendet, die Möglichkeiten und die Wirklichkeiten.
Der idiosynkratische, abwegige Ton wird dem Film bleiben und vielleicht klingt die Beschreibung dieses Kunstgriffs hier etwas zu buchstäblich. Es sind jedoch nicht nur Lektionen, die der Ton in diesem Film erteilt, er wird auch mal zur lärmenden Wand gegen die Raison der Eltern („Zu unserer Zeit waren 12 Stunden Arbeit am Tag normal!“) und nicht zuletzt ist er der Raum für die Stimme, die ein fortlaufendes Gedicht von Yves Tenret vorträgt, für das es in den Bildern keine Entsprechung gibt, weil es von einem Begehren spricht, das die Realität nicht zu stillen vermag, und von Enttäuschungen, die aus Anstand oder Scham nicht sichtbar werden dürfen. Einmal aber führt der Ton in diesem Film in die Nähe einer gewissen Magie, eines Glaubens, oder Aberglaubens. In einer Kneipe sitzen zwei der Männer nach getaner Arbeit beim Würfelspiel. Sie sitzen sich wortlos gegenüber, ein jeder ganz auf die Tischplatte und das Spiel zwischen ihnen konzentriert. Abwechselnd würfeln sie und machen einen Zug, die Bewegungen nicht weniger mechanisch als das Einschieben der Werbezettel in die Briefkastenschlitze. Um sie herum andere Menschen beim Bier und im Gespräch. Aber man hört sie nicht, man hört nur das Klackern der Würfel, dann das Scharren der Hand, die diese aufnimmt und das Wischen der Spielfigur, die weiterbewegt wird. All das hört man ganz genau und wie es scheint in exakter Synchronität zu den Bewegungen die man sieht, aber wie verträgt sich diese Erfahrung mit der Stille, die drumherum herrscht?
Es tauchen technische Fragen auf, wie das möglich war, den Ton so aufzunehmen, bzw. ihn so zu reproduzieren. Wenn man aber ablässt von derart Rechenschaft verlangenden Fragen und sich in diesen etwas verrückten, irrationalen Moment hineinfallen lässt, dann erlebt man die Einsamkeit und Sprachlosigkeit dieser Szene körperlich, als eine auf Reduktion basierende Subjektivität, die durch völligen Verzicht auf die Wahrnehmung der Anderen und auf das Recht, in die Welt zu intervenieren, sich den Minimalstatus einer Existenz sichert. Solcherart ist die Deprivation, der sich ein Tonmeister widmet, von dem oft genug gesagt wurde, dass er unter seinen Kopfhörern in einer anderen Welt sei und nun alles daran setze, von dieser Welt zumindest eine ungefähre Vorstellung uns zu geben.
Tobias Hering
zur Website von Véronique Goël
Blildrecht: Dank an Véronique Goël.