Gespenster der Freiheit war Tobias Herings Beitrag im Rahmen des vom Arsenal – Institut für Film und Videokunst initiierten Archivprojekts „Living Archive: Archivarbeit als künstlerische und kuratorische Praxis der Gegenwart“. Gespenster der Freiheit bestand aus drei kuratierten Filmprogrammen im Kino Arsenal in Berlin (November 2012 und Juni 2013) und resultierte fünf Jahre später in der DVD-Edition Specters of Freedom: Cinema and Decolonization, einer Zusammenarbeit des Arsenal mit dem Goethe-Institut, erschienen bei filmgalerie 451, herausgegeben von Catarina Simão und Tobias Hering.
„Gespenster der Freiheit“ interessierte sich für Filme, die während einer Phase politischer Umbrüche entstanden sind und diese dokumentieren oder selber als Ausdruck einer „neuen Zeit“ gesehen werden können. Filme, die Bilder und Tonspuren für eine sich ankündigende oder bereits gewonnene neue Freiheit suchen, die es dabei aber oft auch mit den Gespenstern der Freiheit zu tun bekommen. Mit der Wiederkehr des scheinbar Überwundenen in neuem Gewand, mit dem Müllhaufen der Symbole, Bilder und Parolen und einer plötzlich anachronistisch gewordenen Sprache, mit einer Zukunft, die einstweilen mehr beschworen als gelebt wird. Im Verlauf der Recherchen konkretisierte sich das Interesse auf Filme, die als Beiträge zu einem Kino der Dekolonisierung gesehen werden können.
Der Titel Gespenster der Freiheit verweist auf das latent Gespenstische, das alle Filme an sich haben, insbesondere wenn sie aus dem Archiv kommen und dann in einer Projektion zum Leben erweckt werden. Ihre Fähigkeit uns jäh zu erinnern an vergangene Euphorien, an die unerfüllten Hoffnungen derer, die vor uns da waren und für die wir und unsere Zeit noch in einer Zukunft lagen, nach der ihre Filme manchmal wie im Traum schon zu greifen scheinen.
Jedes Kunstwerk, so interpretierte Gilles Deleuze eine Bemerkung Paul Klees, richte sich an ein noch nicht existierendes „Volk“ und erhalte seine Legitimation erst vor einem zukünftigen Adressaten. Insbesondere das moderne politische Kino, so Deleuze, könne es nur geben „auf der Basis, dass das Volk nicht mehr oder noch nicht existiert… das Volk fehlt.“ (Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt 1997, S. 279) Wenn man in diesen Anachronismen ein Wechselspiel von Antizipation und Erbschaft am Werke sieht, dann stellt sich bei der Archivarbeit immer die Frage nach diesem fehlenden Volk. Ob man selber an die Stelle dieses antizipierten Blicks getreten ist, oder ob man nur stellvertretend schaut für die unsichtbaren Abwesend-Anwesenden, die einem über die Schulter blicken.
Erst allmählich wurde mir bewusst, dass meine Recherchen in den Hängeregistern und die Sichtungen am Steenbeck ihrerseits von einem Gespenst begleitet wurden: dem Gespenst eines Dritten Kinos. Zum einen in dem bewusst gewählten Sinn eines Kinos der Dekolonisierung, des Widerstands und der Emanzipation, wie es Octavio Getino und Fernando Solanas definierten. Zum anderen aber auch in dem eher tastenden Verständnis eines Kinos, das auch wo es sich vermeintlich frei artikulieren kann, sich nicht auf den Pakt einlässt, der so oft der Preis dieser Freiheit ist. Der Pakt ist ein zivilrechtliches Instrument, das eine gewisse bürgerliche Freiheit und ein Eigentumsrecht voraussetzt. Wie jedes Eigentumsrecht ist er jedoch ungerecht, weil er alle Anderen ausschließt und beraubt – die Abwesenden, die Zukünftigen, den Dritten.
Ein Kino, das sich diesem Pakt widersetzt, ist ein Kino, das stets bereit ist, die Hand zu beißen, die es füttert. Ein Kino, das sich nicht damit zufrieden gibt, „von Angesicht zu Angesicht“ zu funktionieren, sondern das den Dritten ins Spiel bringt, der die traute Zweisamkeit stört und immer schon in ihr enthalten ist. Der Dritte ist nie derjenige, der Recht gibt, sondern derjenige, der das vermeintliche Recht in Frage stellt. „Der Dritte ist das, was mich im Von-Angesicht-zu-Angesicht befragt, was mich plötzlich fühlen lässt, dass die Ethik als Von-Angesicht-zu-Angesicht Gefahr läuft, ungerecht zu sein, wenn ich nicht dem Dritten Rechnung trage, der der Andere des Anderen ist.“ (Jacques Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003, S. 14) Ein Drittes Kino ist ein Kino, in dem sich diese Beunruhigung ereignet.
Gespenster der Freiheit #1 (in Zusammenarbeit mit Catarina Simão)
5.11.2012 MUEDA, MEMORIA E MASSACRE (Mueda: Erinnerung an ein Massaker) Ruy Guerra, Mosambik 1979, 35 mm, 75′, OmU // A QUEDA (Der Sturz) Ruy Guerra, Brasilien 1978, 35mm, 110′, OmU // 6.11.2012 MONANGAMBEE Sarah Maldoror, Algerien 1969, 16mm, 15′, OmeU // DEIXEM-ME AO MENOS SUBIR ÁS PALMEIRAS (Let me at least climb the palm trees) Joaquim Lopes Barbosa, Mosambik 1972, Digibeta , 71′, OmeU // 7.11.2012 LA ZERDA ET LES CHANTS DE L’OUBLI (La Zerda und die Gesänge des Vergessens) Assia Djebar, Algerien 1978, 16mm, 59′, OmU // REASSEMBLAGE Trinh T. Minh-ha, USA 1982, 40′, OF // 5.11.2012 – 12.11.2012 THESE ARE THE WEAPONS (Installation) Catarina Simão, Off Screen Project 2012, HD video, 50’ //
Gespenster der Freiheit #2: Luta ca caba inda (in Zusammenarbeit mit Filipa César)
27.11.2012 O 2° CONGRESSO DO P.A.I.G.C. 18 – 22 JULHO 1973, BOÉ (Fragment) Kollektiv, Guinea-Bissau 1973, ca. 10′ // PROCLAMACÃO DO ESTADO, 24 SETEMBRO 1973, BOÉ (Fragment) Kollektiv, Guinea-Bissau 1973, ca. 6′ // ACTO DOS FEITOS DA GUINÉ (Bericht über die Ereignisse in Guinea) Fernando Matos Silva, Portugal 1980, 16mm, 85′, OmU // ATAQUE A IEMBEREM (Fragment) Flora Gomes, Guinea-Bissau 1972, ca. 5′ // LUTA CA CABA INDA (Fragment) Kollektiv, Guinea-Bissau 197?, ca. 5′ // MORTU NEGA (Those Whom Death Refused) Flora Gomes, Guinea-Bissau 1988, BetaSP, 93′, OmeU // 28.11.2012 ESTUDANTES GUINEENSES DESEMPENHANDO TRABALHO VOLUNTÁRIO Kuba 1969, ca. 5′ // AÑO 7 Santiago Alvarez, Kuba 1966, 18′ // NOTICIERO Santiago Alvarez, Kuba, ca. 1967, ca. 4′ // LA BATAILLE DES DIX MILLIONS (Die Schlacht der 10 Millionen) Chris Marker, Frankreich, Kuba 1970, 16mm, 55′, deutsche Fassung // O REGRESSO DE CABRAL Kollektiv, Guinea-Bissau 1976, ca. 25′ // GUINÉ-BISSAU, 6 ANOS DEPOIS (Fragmente) Kollektiv, Guinea-Bissau, 1980, stumm // LUTA CA CABA INDA (Fragment) Kollektiv, Guinea-Bissau 197?, nur Ton, ca. 10′ //
Gespenster der Freiheit #3: Momente eines Dritten Kinos
13.6.2013 LE PRÉSIDENT (The President) Jean-Pierre Bekolo, D/Kamerun 2013, HD, 63′, OmeU // LADONI (Handflächen) Artur Aristakisjan, UdSSR 1990, 35mm, 145′, OmU // 14.6.2013 SADY SKORPIONA (The Scorpion’s Gardens) Oleg Kowalow, UdSSR 1991, 35mm, 100′, OmE // 15.6.2013 LA GRAMMAIRE DE MA GRAND-MÈRE (Grandma’s Grammar) Jean-Pierre Bekolo, Kamerun 1996, DVD, 8′, OmE // LE FRANC Djibril Diop Mambety, Senegal 1994, 46′, OmU // 15.6.2013 WEST INDIES – LES NÈGRES MARRONS DE LA LIBERTÉ (West Indies – Die entlaufenen Neger der Freiheit) Med Hondo, Frankreich, Mauritanien 1979, 35mm, 116′, OmU // 15.6.2013 MABABANGONG BANGUNGOT (Der parfümierte Alptraum) Kidlat Tahimik, Philippinen 1977, 35mm, 94′, OmU