The picture, is it there or not? (1)
Die Modalität des Sichtbaren in Raphaël Cuomo und Maria Iorios Twisted Realism
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Projection Room
Interior
Night
The projection room of a cinema. Two towering 35 millimetre projectors are framing the view. Through the projection window one can see a rather small auditorium with seats for about 80 people. The predominating colour is red: red textile covers the walls and a red curtain is hiding the screen. The cinema is modestly lit. The light in the projection room itself is already dimmed to a minimum. Every now and then we see someone entering through the open door at the bottom right in front of the curtain. People are wearing coats or jackets and their cursory gazes are looking for empty seats.
The protagonists have set up a camera on a tripod in the projection room. It stands in the foreground of the image, one step behind the left-hand projector on which the first reel of film is already mounted. The camera is facing the same direction as the projector, and a blinking red light suggests that it is already recording. The projection window dimly reflects the room: the projectors, the camera on the tripod, and also the off-screen figures of the projectionist and the two protagonists. The presence of the camera on the tripod restricts the already scarce space even more, but the projectionist seems to move about casually and undisturbed. He briefly enters the frame and touches the film in the projector. This might have been a staged gesture. Anyway, the projector is set and the show is about to start.
Serge Daney sagte einmal vom Kino, dass es nur sichtbar machen könne „was bereits einmal gesehen worden ist – was gut gesehen, schlecht gesehen, nicht gesehen worden ist.“(2) Der erste Teil des Satzes lässt an Archivbilder denken, weckt eine gewisse Nostalgie, aber der zweite Teil handelt offenbar von etwas anderem. Obwohl es in dem Gesprächskontext, dem das Zitat entnommen ist, um die nachträgliche Verwendung von Filmbildern der nationalsozialistischen Konzentrationslager geht, scheint mir Daneys Gedanke nicht so sehr auf den Umgang mit Archiven abzuzielen und auch nicht auf die populäre Tendenz, das Kino als Ganzes wie ein „visuelles Gedächtnis“ zu behandeln. Der Gedanke, dass die Bilder, die wir im Kino sehen, schon einmal gesehen wurden, spielt weniger mit Konnotationen von Verlust und Fragmentierung, sondern er führt einen zweiten Blick ein und konfrontiert dann dieses erneute Sehen mit dem Paradox, dass Sehen auch Nichtsehen sein kann. Dieses Paradox verweist aber nicht auf eine Krise des Archivs oder der Erinnerung, sondern gehört offenbar zur Modalität des Sichtbaren, der das Sehen zuallererst entwächst und die das Kino auf besondere Weise inszeniert.
Daneys Gedanken gehören zu einer Phänomenologie des Kinos, zu einer Phänomenologie, die das Kino zuallererst als eine Hervorbringung des Sichtbaren begreift und nicht als eine Sache des Auges, und die folglich auch das „Sehen“, welches im Kino stattfindet, nicht primär als eine Konfrontation von Blicken versteht, sondern als eine Begegnung mit dem Sichtbaren. Wie wäre sonst zu verstehen, dass eine mögliche Modalität des Sehens ein Nichtsehen ist, wie es Daneys Spezifizierungen „gut gesehen, schlecht gesehen, nicht gesehen“ ja ausdrücklich zulassen? Ich mache in diesem Essay den Vorschlag, Maria Iorios und Raphaël Cuomos Video Twisted Realism als Kino zu sehen, das sichtbar macht, wie das Kino sichtbar macht, was schon einmal gesehen wurde.
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Now the projectionist enters the frame and positions himself a few feet in front of the camera between the two projectors. With his arm he reaches up above his head, while he simultaneously bends down so as to keep the screen in view. Standing like this, a black silhouette against the red-lit background, he briefly resembles a hunter or a long-distance runner in anticipation. Then the lights in the cinema fade and the curtain opens. The projectionist straightens up and turns towards the left-hand projector; he administers a few probing touches to the looping film in the zigzag of cogs, winches, and slits, and then he starts the projector. The rhythmical hum of the machine; the rustling sound of film stock running through the projector. In the light chute in front of the lens we see the markers on the leader flip by as flimsy flashes, and then finally, when all goes black for three seconds, the projectionist switches on the projection lamp.
Die Einführung eines Nichtsehens in das Sehen verlagert den Akzent des Wieder-Sehens, das im Kino stattfindet, weg von einer Sukzession räumlich und zeitlich verortbarer Privatblicke, die etwas gesehen haben, hin zu einer Latenz des Sichtbaren, durch die in keiner Weise garantiert ist, dass was sichtbar ist, auch gesehen wird (oder wurde). Auch der Blick und die Kamera unterliegen dieser Latenz, und gerade die Filmkamera konstituiert ihr „Sehen“ ja in einem komplexen Spiel aus Sehen, Nichtsehen und Nicht-Gesehen-Werden. Dessen oberste Regel besagt, dass die Kamera – also das, was sieht– selbst nicht sichtbar werden darf und dass deshalb niemand in sie hineinsehen darf. Die Kamera ist also die Medusa eines Films.
Dieser in der Praxis oft mühselige und gestelzte Tanz vor einem Blick, der sich verleugnen lässt, kreist um den phänomenologischen Befund, dass Sehen und Sichtbar-Sein nicht getrennt zu haben sind. Ebenso wie nur gesehen werden kann, was sichtbar ist (was also auch nichtgesehen, übersehen etc. werden kann), kann sehen nur, wer oder was auch selber sichtbar ist. „Das Sichtbare kann mich nur deshalb erfüllen und besetzen, weil ich als derjenige, der es sieht, es nicht aus der Tiefe des Nichts heraus sehe, sondern aus der Mitte seiner selbst, denn als Sehender bin ich ebenfalls sichtbar“, schreibt Maurice Merleau-Ponty in ‚Das Sichtbare und das Unsichtbare'(3). „Es ist so, als bildete sich unser Sehen inmitten des Sichtbaren, oder so, als gäbe es zwischen ihm und uns eine so enge Verbindung wie zwischen dem Meer und dem Strand. […G]egeben ist etwas, dem wir uns nur nähern können, indem wir es mit dem Blick abtasten, Dinge, die wir niemals ‚ganz nackt’ zu sehen vermöchten, weil der Blick selbst sie umhüllt und sie mit seinem Fleisch bekleidet.“(4) Es mag nun sein, dass der Blick, der durch den Film in die Welt kam, in diese Metapher ein „fremdes Fleisch“ oder eine „fremde Haut“ einschleust, mit der wir fortan die Dinge umhüllen, und dass sich von dort auch die gängige Assoziation ergibt, der Film unterhalte eine enge Beziehung mit dem Tod: ein toter Blick, der uns Wiedergänger zeigt. Wenn aber Filme wirklich diesen Zweifel an der Gegenwart des Sichtbaren und an seiner Gleichzeitigkeit erzeugen, so können sie dies nur auf der Basis einer Sichtbarkeit, die mich gewissermaßen bereits darauf vorbereitet, dass, was ich sehe, keinen eindeutigen und erschöpfenden Realitätsbezug hat, dass es möglich ist, jetzt Dinge zu sehen, die von einem früheren Blick schon einmal gesehen wurden, und dass was für mich unsichtbar ist, von einem zweiten Blick möglicherweise gesehen wird. Weil es die Grundbedingungen des Sehens in besonderer Weise ausstellt, nennt Daney das Kino, das „nur sichtbar machen kann, was bereits einmal gesehen worden ist“, eine „Kunst der Gegenwart“: „Gegenwart der Erinnerung“, „Gegenwart der Evokation“(Daney 98).
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Projection Room
Interior
Night
The sound of film stock running through the projector. A close-up of the projection window. On the very left of the frame a segment of the theatre screen is visible with a part of the projected image. It is a night scene and it doesn’t send any light into the projection room. The little light there is does not seem to have a visible source. There is still a faint reflection on the projection window, but details are hard to make out. The reflection seems to show one side of the projector which is currently not in use. The construction of winches, lenses and bars is dimly recognizable. The shadow of an arm becomes visible: the projectionist’s who is about to mount the next reel.
Was wir im Kino sehen, ist auf mindestens zwei Seiten von einem Nichtsehen umgeben: Zum einen wirft das Sehen stets die Frage nach der Vorgeschichte seiner Sichtbarkeit auf, zum Beispiel die Frage, ob das, was wir jetzt sehen, bislang übersehen wurde, ob möglicherweise sogar der jetzige Blick, also meiner, zuvor bereits hätte sehen können. Oder auch die Frage, ob das, was wir jetzt sehen, überhaupt für unseren Blick bestimmt war, beziehungsweise ob es womöglich sogar auf unseren Blick zugeschnitten wurde, ob die Bilder, die wir sehen, bereits von unserem Blick wussten, bevor wir sie mit ihm bekleidet haben. Auf der anderen Seite stellt sich beim Film – namentlich angesichts das Bildrahmens, also des Ausschnitts, und überdies der Bild- und Tonschnitte, also eines von Schnitten und Auslassungen zerfurchten und gleichzeitig zusammengefügten und damit eröffneten Sichtfeldes – die Frage, was wir, während wir sehen, gleichzeitig nicht sehen. Denn es ist derselbe Blick der sieht und nichtsieht.
Phänomenologische Interpretationen tendieren dazu, die Zeitlichkeit einer Erfahrung zu eliminieren. Nun sprechen Daney und Toubiana aber in dem Teil ihres Gesprächs, aus dem ich zitiere, explizit über die verstrichene Zeit und den zeitlichen Index von Filmbildern. „Es gab eine Zeit, wo die Dinge heranreifen mussten, durch langsame, mühsame, schmerzhafte Prozesse hindurch: es brauchte Zeit, um etwas herzustellen, und diese Zeit war wertvoll“, sagt Daney. „Vielleicht hatte der Film diese Fähigkeit, die Arbeit der Zeit aufzugreifen, Schnitte von Gleichzeitigkeit oder Geschichtlichkeit zu vermitteln – nicht nur den Tod bei der Arbeit, sondern auch die Menschen bei der Arbeit zu zeigen.“(Daney 99) Damit das Kino geschehen kann, muss man ihm die Zeit gewähren, die es sich nimmt, anstatt zu verlangen, dass „die Vorteile sofort ins Auge springen“(Daney 99).
Was das Kino als eine „Gegenwart der Evokation“ betrifft, so sagt Daney lapidar: „Wenn es nicht geschieht, geschieht es nicht“ (Daney 98). Und „lapidar“ soll hier buchstäblich heißen, dass sich der Satz der Schwerkraft aussetzt, weil er den Aufwand evoziert, den es bedeutet, einen Film zu machen, ihn gut zu machen, im Sichtbaren die richtigen Bilder zu finden und auch einen Weg, mit dem Unsichtbaren umzugehen; und schließlich auch die andere Seite der Begegnung: dass jemand den Weg ins Kino finden muss, um durch seinen Blick die möglichen Bilder aus ihrer Latenz auszulösen. Gerade weil es möglich ist, dass das Kino nicht geschieht, lohnt es sich genau hinzusehen, wenn es geschieht.
Daney erinnert an eine Zeit, als man im Kino saß und das, was man auf der Leinwand sah, als gegenwärtig betrachtete, weil es einem zeigte, wie „die Landschaft, in der wir lebten, aussah.“(Daney 99) Filme als Zeitgenossen demnach, und nicht als Wiedergänger. Explizit verweist Daney dabei auf genau diejenige Phase des Kinos, die auch Maria Iorio und Raphaël Cuomo in Twisted Realism evozieren: das italienische Nachkriegskino, „das uns fünfzehn Jahre lang [vorführte], wie der architektonische Wiederaufbau des Landes, von den Ruinen zu den ersten Betonbauten und zur zeitgenössischen postmodernen Häßlichkeit, vor sich ging“(Daney 99). Auch als er später das Ende dieser Art Kinoerfahrung datiert, als einer kollektiven Erfahrung, an die man glaubte, bezieht sich Daney wieder auf das italienische Nachkriegskino, indem er sich vorstellt, welche Art von Sichtbarkeit in seinem Heute (also zur Zeit des Balkankrieges) ein Film herstellen könnte, „der von einer Geschichtsfiktion wie ‚Vukovar, offene Stadt’ ausginge.“(5) Daney ist überzeugt, dass ein solcher Film den Kreislauf der Filmfestivals schon nicht mehr verlassen würde, weil die breite Öffentlichkeit viel zu sehr damit beschäftigt sei, sich aus den Fernsehbildern ihren eigenen „Film“ zusammen zu stückeln.(6)
Der assoziative Verweis auf Rossellinis Rom, offene Stadt führt zu der Art von Kinoerfahrung, an die Pier Paolo Pasolini glaubte, als er Mamma Roma drehte. In einer Tagebuchnotiz (7) beschrieb er einmal eine solche Erfahrung, die er selber mit Rom, offene Stadt in einem Kino in Rom hatte. Der kurze Text ist von Pasolinis „Herzschlag“ rhythmisiert, der einsetzt, als er das schmutzige Poster mit der Magnani im Schaukasten erblickt, und später einen Takt aussetzt, als die ersten Bilder kommen: „intermittence du coeur“. Mir scheint, dass diese Lücke, in der der Betrachter fisicamente è altro, also körperlich von einem Anderen affiziert wird, ziemlich genau der Kluft im Sehen entspricht, durch die sich in das Sehen ein Nichtsehen einschreibt – ein blinder Fleck, oder womöglich ein Off-Screen, von dem aus wir beim Sehen erblickt werden. Erst nach diesem latenten Selbstverlust greift der Betrachter die „Fäden“ wieder auf und sieht: „das Kopfsteinpflaster, die Telegraphenleitungen, die blatterigen Mauern, die Spuren der Nazi-Besatzung“ – die „epische Landschaft des Neo-Realismus“. Ich stelle mir vor, dass Maria Iorios und Raphaël Cuomos Arbeit an Twisted Realism mit diesem literarischen Verweis auf einen möglichen Beginn von Mamma Roma begonnen hat. Als Pasolini diesen Film dann fünfzehn Jahre später drehte, sah er sich einem „neuen Leben“ gegenüber, das sich bereits nach dem Kino benannt zu haben schien: Neo-Realismus.
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Als ich Twisted Realism ein erstes und dann ein zweites Mal gesehen hatte, hatte ich wenige Worte im Kopf, stattdessen aber das klare Bild einer horizontalen Linie, das ich mir zunächst nicht erklären konnte. Diese Linie gibt es in dem Video in dieser Form nicht, ich habe sie also nicht gesehen, beziehungsweise sie ist das Nachbild von etwas, das ich gar nicht gesehen habe. Ich möchte nun aber behaupten, dass dieses Nichtsehen in gewisser Weise ein Sehen gewesen sein muss, und zwar nicht nur, weil diese Linie nun einmal da war in meinem Kopf, sondern weil ich sie als genau das interpretiere, was Twisted Realism gerade sichtbar macht: das was sich uns beim Sehen entzieht und was in der Ökonomie des Sehens ein eingebildetes Haben durch einen unvermeidlichen Verlust ausgleicht(8). Man sieht diese Linie, die man nicht sieht, an unzähligen Stellen dieses Videos: sie ist die Bildkante, die Screen und Off-Screen, Sichtbares und Nicht-Sichtbares, trennt; sie ist der Rahmen, der einen „Moviola“-Bildschirm von der Archivumgebung abhebt, in der er abgefilmt wird; sie ist die Kante des Projektionsfensters im Kino und im gleichen Rahmen noch einmal die Bildkante des auf die Leinwand projizierten Bildes, das hinter unseren Augen abgefilmt wird. Sie ist aber auch die Traufkante, die die Wohnblocks von Tuscolano gegen den Himmel abzeichnet (hier kommt sie bisweilen ins Schwingen) und sie verläuft rasterförmig auch durch das Gewebe der Stahlzäune, welche die Eingänge dieser Wohnblocks versperren/sichern. Die selbe Linie, möchte man nun meinen, verläuft auch gut sichtbar in etwa drei Meter Höhe um das Headquarter von Medusa, dem Medienkonzern, der zum Berlusconi-Imperium gehört und der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die nationale Kinogeschichte Italiens wieder sichtbar zu machen und gleichzeitig zu monopolisieren. Ich habe die besagte Linie wohl auch auf einem wandgroßen Portrait Pasolinis gesehen, wo sie ihm senkrecht durch die Nase läuft und die Existenz einer nicht sofort erkennbaren Tür anzeigt, und es ist wohl auch die Linie, entlang derer, wie mir gesagt wurde, Pasolinis Regie-Assistent Carlo di Carlo aus einem Set-Foto von Mamma Roma ausgeschnitten wurde, welches nun in der Cineteca di Bologna an prominenter Stelle hängt und nur noch PPP zeigt. Ihrem Nachbild in meinem Kopf am ähnlichsten ist diese Linie in Twisted Realism wohl dort, wo sie das Bild von dem schwarzen Rahmen trennt, der die Untertitel enthält und natürlich ist sie auch die Linie, die Ton- und Bildspur auf einem Filmstreifen trennt.
Diese letztere Trennlinie bekommen wir in Twisted Realism immer wieder zu sehen, dabei ist sie doch eine der vielen Linien, die eine Filmvorführung erst möglich machen, und daher typischerweise nicht sichtbar werden dürfen. Bei der Betrachtung einer Tonspur, die man sehen kann, ahnt man einmal mehr etwas von dem komplexen Spiel aus Sehen und Nichtsehen, Zeigen und Verbergen, dem sich der Film, wie wir ihn zu kennen glauben, verdankt. Im Grunde genommen machen Maria Iorio und Raphaël Cuomo etwas ganz Einfaches (und nicht zum ersten Mal in ihrer Arbeit): Sie halten diesen Blick aufrecht, dem sich Ton- und Bildspur als durch eine unsichtbare Linie getrennte Bereiche des Sichtbaren darstellen, und arbeiten mit den Bildern, die aus beiden Spuren emporsprießen. Einerseits betreiben sie damit business as usual, denn während des gesamten Produktionsverlaufs eines Films, bleiben Bild und Ton typischerweise getrennt und werden getrennt bearbeitet, um erst ganz zum Schluss aneinandergelegt zu werden und eine Einheit zu simulieren. Andererseits situieren sie die beiden Spuren jedoch so, dass sie ständig aus der Spur zu laufen scheinen und dabei die Einheit, die sie im Video technisch natürlich bilden, auf einer phänomenologischen Ebene konsequent demontieren. Wir haben es hier aber nicht mit einer mehr oder weniger geläufigen Art zu tun, die lineare Zeit durch Asynchronität aufzulösen oder Bild und Ton in beredte Widersprüche zu verwickeln. Das Besondere an der demontierenden Montage in Twisted Realism ist vielmehr, dass sie Bild und Ton gleichsam in Sichtweite hält, so dass sich die gesehenen und die evozierten Bilder auf Ähnliches oder auf benachbarte Teile eines Gemeinsamen beziehen, aber eben nie direkt aufeinander, zumindest nicht in der Form, wie es die Gesetze der Synchronität vorschreiben würden. Als Kinoerfahrung ergibt sich aus dieser Kunst der verblüffende Eindruck, zwei Filme ineinander zu sehen, die aus dem gleichen Material gemacht zu sein scheinen, die aber zu großen Teilen imaginär sind oder besser gesagt: die aus dem bestehen, was man nichtsieht.
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Um das Nichtsehen aus den Konnotationen von Verlust und Versäumnis zu befreien, muss man sich klar machen, dass es auch ein Nichtsehen gibt und schon immer gegeben hat, das einem Begehren entspricht: einem Verlangen nach etwas, was noch nicht zu sehen ist, dessen Ausstehen aber zu einer konkreten Forderung werden kann. Eine Vision, ein Vorhaben, eine Utopie womöglich. Dieses hungrige Sehen, das bereit ist, zu sehen, was es nichtsieht, wurde für Pasolini durch die in den 1950er Jahren neu entstehenden Wohnblocks des INA-Casa Plans geblendet (9). Das „neue Leben“ in vertikaler Ordnung schlug dem noch ziellosen, unsichtigen Begehren des vom Krieg ausgelaugten Subproletariats einen kleinbürgerlichen Kompromiss vor. Entwurzelung, Entfremdung und Vereinzelung als direkte Folgen der staatlichen Wohnungsbaupolitik sind bereits Themen von Pasolinis Roman Vita Violenta, der Gedichtsammlung Le ceneri di Gramsci und der Prosaskizzen in Ali dagli occhi azzuri, die dann in das Drehbuch für Mamma Roma mündeten. Das Drama von Mamma Roma und ihrem Sohn Ettore dreht sich einmal mehr um den Selbstbetrug und die Selbstverleugnung zugunsten eines kleinbürgerlichen Ideals, das sich nicht zuletzt über neue Architekturen und neue Räume vermittelte und das sich am Ende der Straße verflüchtigt hatte. Es ist daher vielmehr als nur ein Bildabgleich, wenn Twisted Realism gerade diese Architekturen des neuen Lebens immer wieder abfährt, denn es geht auch hier einmal mehr um die Linie, um den Horizont, an dem etwas sichtbar wird und etwas anderes damit gleichzeitig unsichtbar.
Film und Kino mussten es sein für Pasolini, weil er in der Struktur eines jeden Drehbuchtextes ebenfalls ein begehrendes Nichtsehen am Werk sah. In ‚Empirismo eretico‘ (10) hat er das Drehbuch beschrieben als „eine Struktur, die den Willen hat, eine andere Struktur zu werden“, als einen Text, der ein Film werden will, und der daher auf die „Komplizenschaft“ des Lesers angewiesen ist. „Der Autor eines Drehbuchs verlangt von seinem Adressaten eine ganz besondere Mitarbeit, die darin besteht dem Text eine ‚visuelle’ Vollständigkeit zu verleihen, die er nicht besitzt, auf die er aber verweist.“(11) Dieser Satz wird in Twisted Realism einmal zitiert, eingebettet in einen Text, der uns unentwegt vorgelesen wird, und zwar von einem „Leser“, von dem es heißt, dass er die ganze Zeit in ein Drehbuch vertieft sei. Dieses Drehbuch, das uns vorgelesen wird, während wir einen anderen Film sehen, konstituiert in Twisted Realism das latente, aber gleichzeitig „trächtige“ Nichtsehen, wie man es mit einem Begriff Merleau-Pontys sagen könnte, der ebenso von Pasolini stammen könnte. Das Drehbuch, die Stimme, führt zwischen die Bilder, die wir sehen, und diejenigen, die wir nichtsehen, ein Begehren ein, für das jeder seine eigenen Bilder zu finden hätte.
In einem der wenigen Momente, in denen sich Bild und Ton in Twisted Realism synchron verhalten, sehen wir einmal dieser Off-Stimme, Giuseppe Cederna, für eine halbe Minute beim Lesen zu. Wir sehen ihn, wie er seinen Text genießt und das gleiche verspricht, was der Hehler in Mamma Roma dem jungen Ettore verspricht, als er sein erstes Diebesgut auf dem Schwarzmarkt verhökert: „Du kannst jederzeit kommen, du findest mich immer hier an meinem Platz. Ich habe schon unzählige Menschen reich gemacht!“ Und dann sehen wir, wie der Vor-Leser lacht, wie er den, dessen Stimme er evoziert, auslacht und wie er dieses Lachen gleichzeitig zu unterdrücken versucht, um die Studioaufnahme nicht zu verderben. Dieses Lachen gehört zu den schönsten und begehrenswertesten Momenten von Twisted Realism, und ich könnte gar nicht mal genau sagen warum.
Projection Room
Interior
Night
The screen is dark and the projection room is dimly reflected on the window pane. Then the screen brightens and the word “FINE” appears. On the bright background a flimsy fuzz of scratches and dots becomes visible, the abrasion of the film print. Then the screen goes dark again and while the light in the theatre gradually returns, the red curtains start to close in on the screen from both sides. When the screen is entirely hidden, the theatre is fully lit and the bright red of the curtain blinds out the reflection on the projection window. The little red light on the camera is still blinking. From the bottom of the projection window the silhouettes of people become visible now, the audience lifting from their seats and leaving the theatre. A spectator turns his head toward the projection room. First we only see his forehead, but then he stretches, in order to get a full view of the projection room, and we see his entire face. It seems that he motions to someone to also take a peek, to someone who is still sitting and not in view. Something has caught his attention.
Tobias Hering
Dank an Raphaël Cuomo und Maria Iorio.
Veröffentlicht in Argos Magazine No. 5 , 2012, anlässlich der Ausstellung ‚Raphaël Cuomo und Maria Iorio: Twisted Realism‚ bei Argos Centre for Art and Media, Brüssel, 2012.
Die Bilder sind aus Twisted Realism (Raphaël Cuomo und Maria Iorio, 2012) und werden hier mit Genehmigung der Künstler verwendet.
1 – Carlo di Carlo (Regieassistent von Pier Paolo Pasolini, u.a. bei Mamma Roma) im Gespräch mit Maria Iorio und Raphaël Cuomo in Twisted Realism (2012)
2 – Serge Daney im Gespräch mit Serge Toubiana, in: Serge Daney, Im Verborgenen (Wien 2000), S. 98 – im Folgenden im Text zitiert als ‚Daney‘.
3 – Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare (München 1986), S. 152
4 – ebd. 172 f.
5 – Daney, 100. Es sei auch erwähnt, dass Daney an anderer Stelle in noch prägnanterer Weise diese „Epoche“ mit Verweisen auf Rossellini und Pasolini markiert und als „seine Zeit“ reklamiert: „Manchmal sage ich mir, dass meine Lebenszeit, mein eigenes Timing und das des Kinos sich wirklich gut ineinander gefügt haben: dreißig Jahre waren nötig, um von Rossellini bis zum Tod von Pasolini eine bestimmte Seite umzublättern.“ (Daney 53)
6 – Auch diese Kritik, erneut gelesen, hat eine erkennbare Zeitlichkeit, weil für Daney 1992 das Internet noch keine nennenswerte Rolle spielte. Liest man seine Kritik aber im Sinne einer Gegenwart der Evokation, sieht man darin also etwa ein Unbehagen, das „schon einmal gesehen“ wurde, so wird daraus die Frage, wie sich dieses Unbehagen durch den Wechsel des Leitmediums heute artikuliert. Der Amortisierungsdruck, der auf Bildern lastet („die Vorteile müssen sofort ins Auge springen“), ist ja mitnichten geringer geworden.
7 – Die Notiz hat die Form eines Gedichts und ist in Dal Diario (1945-47) veröffentlicht. Eine deutsche Übersetzung konnte ich nicht ausfindig machen. Die im Folgenden zitierten Fragmente sind daher annäherungsweise Übersetzungsversuche auf der Grundlage der englischen Übersetzung. Teile dieser Tagebuchnotiz werden auch in Twisted Realism zitiert.
8 – Dieser Satz ist das Echo eines Gedankens Georges Didi-Hubermans aus Was wir sehen, blickt uns an (München 1999), eine phänomenologische Untersuchung des Sehens, die in meine eigenen Überlegungen stärker eingegangen ist, als es Zitate belegen könnten. Das Originalzitat zu dem hiesigen Satz lautet: „Gewiß scheint die vertraute Erfahrung dessen, was wir sehen, meistens zu einem Haben Anlaß zu geben: wenn wir etwas sehen, haben wir in der Regel den Eindruck, etwas zu erlangen. Doch die Modalität des Sichtbaren wird unausweichlich – und das heißt mit einer Frage des Seins verbunden sein –, wenn Sehen heißt, daß man spürt, daß sich uns etwas entzieht, mit anderen Worten: wenn Sehen Verlieren heißt.“ (S. 16 f.)
9 – Der INA-Casa Plan war ein in Italien 1948 per Gesetz implementiertes Wohnungsbauprogramm unter der Schirmherrschaft der staatlichen Versicherungsgesellschaft INA. Schon nach zehn Jahren hatte der Plan allein in Rom für über 110.000 neue Wohnungen gesorgt, die vor allem für die Hunderttausenden vom Krieg zerrütteten Landflüchtlinge gedacht waren, die in die Städte strömten, bzw. für die Mittelschicht, der das Leben in der Stadt zu eng wurde. Die ästhetischen, sozialen und ideologischen Aspekte dieser sprunghaften Modernisierung gehören zum Hintergrund von Pasolinis Arbeit in den 1950er und 60er Jahren und auch von Twisted Realism.
10 – dt.: Ketzerfahrungen (München, Wien 1979)
11 – ebd., 206 f.