Verlass und Vertrauen

Verlass und Vertrauen
Das Unsichtbare in Filmen von Nicolas Rey, Till Roeskens, Philip Scheffner und Pierre-Yves Vandeweerd

Verrückter Anspruch auf das Unsichtbare …
— Emmanuel Lévinas (1)

»Dass das Positive unsichtbar sein soll«, klagte Yegussa nach einer Weile, »macht mich immer wieder von neuem schwindlig. Schließlich sind wir Materialisten. Was da ist, ist sichtbar. Und was nicht da ist, ist unsichtbar.«
Statt zu antworten, fragte Olo: »Wie fühlt sich deine Gesundheit an?«
Yegussa betastete seinen Körper und stellte zu seinem Erstaunen fest. dass er seinen Körper zuvor nicht gespürt hatte. Er war wie vergessen gewesen. »Gar nicht«, antwortete er langsam.
»Aber das Negative: die Krankheit?«
»Ist fühlbar.«
»Der Friede?«
»Unauffällig.«
»Aber der Krieg ist berühmt. Die Arbeit – unsichtbar. Aber der Streik?«
»Macht uns sichtbar.«
»Sichtbar für wessen Augen?«
»Für die der anderen.«
»Und selbst für unsere. Was aber den Materialismus angeht – das ist er. Denn wenn wir uns zeigen, dann zeigen wir uns als die materiellen Voraussetzungen der anderen.«
Yegussa war sehr verdutzt.
»Neben vielem anderen«, schloß Olo, »ist der Materialismus nämlich eine Theorie vom Unsichtbaren; und handelt von jenen, die ein materielles Interesse haben am Unsichtbaren über ihnen und am Unsichtbaren unter ihnen. Das erste genießt zwar bei ihnen einen ungeheuren Ruhm. Aber das zweite ist ihnen unvergleichlich viel wichtiger.« (2)

Dieses Gespräch über das Unsichtbare findet in der Dunkelheit statt. Olo und Yegussa waren einmal Arbeiter, wurden dann Streikende und wurden schließlich dafür, dass sie streikten, in eine Zelle gesperrt für immer. Diejenigen, die sie inhaftiert haben, achten darauf, dass stets ein neuer Häftling nachfolgt, bevor der vorherige stirbt, dass also immer zwei eine gewisse Zeit gemeinsam im Dunkeln verbringen. Olo war der Siebzehnte; Yegussa, der kurz zuvor noch Kuru hieß, ist der Achtzehnte. Sie haben begonnen, einander im Dunkeln zu erzählen. Der Alte dem Jungen was vorher war und was er von denen gehört hat, denen er nachgefolgt ist. Der Junge dem Alten, was sich unterdessen oben ereignet hat, in Molussien, wo die Kämpfe nicht zur Ruhe kommen. Ihre Gespräche werden von ihren Wächtern belauscht, von Ohren, die nichts weitertragen werden, in denen das Gesagte/Gehörte wie begraben ist.

»Ob Molussien es weiß oder nicht – Molussien, das über uns ist, laut, hell und blind, nicht mehr als zehn Fuß über uns, aber unerreichbar entfernt durch eine zehn Fuß starke Mauer –, hier im Keller ist die wahre Geschichte Molussiens aufbewahrt. Was es selbst schon vergaß, ist hier von Sträfling zu Sträfling, von Meldereiter zu Meldereiter übergeben worden. Auch Du wirst zuhören müssen, denn die Wahrheit ist nicht da, um auf ihre Verstecktheit und Dunkelheit stolz zu sein […].«
»Sie geht über uns hinweg?«, fragte Kuru, und er meinte die Stadt Molussien. Während er aber fragte, horchte er angestrengt. Und da er etwas vernahm wie Schritte und wie ein zartes Brausen, glaubte er, das seien die Geräusche der Stadt. »Maulwürfe«, sagte Olo.
»Und das Brausen?«
»Das Brausen ist in Deinem Ohre.« (Anders, 17)

Auf der Tonspur eines Films wären die Stimmen von Olo und Yegussa akusmatische Stimmen in der Definition Michel Chions (3), also Stimmen, die auf eine Präsenz außerhalb des Bildfelds verweisen, deren Unsichtbarkeit jedoch in das Bild gehört, das wir sehen. Was aber wäre das Bild? In seinem Film ANDERS, MOLUSSIEN (F 2011) verbindet Nicolas Rey Auszüge aus Günther Anders’ unabgeschlossenem Roman Die molussische Katakombe mit langen Einstellungen von Stadtperipherien und zerzausten Landschaften. Die durch Überlagerung entstandenen Mängel des von Rey verwendeten 16mm-Materials lassen die Bilder manchmal fehlfarbig und abgenutzt erscheinen, während wir gleichzeitig in dem, was wir sehen, die Welt erkennen, die uns hier und jetzt umgibt. Eine Art Trompe-l’œuil Effekt, der uns erlaubt ‒ wie es wohl auch Günther Anders‘ Roman für sein zeitgenössisches Publikum tun sollte ‒, die Gegenwart aus einer Zukunft zu betrachten, die in dieser Gegenwart schon gar nicht mehr vorgesehen ist. Ist das Molussien?

Die Gespräche zwischen Olo und Yegussa werden in ANDERS, MOLUSSIEN von dem Filmemacher Peter Hoffmann gelesen, auf einem Sofa sitzend im Schein einer Stehlampe. Wenn seine Stimme verstummt, hören wir die Geräusche dieser Welt, als wären wir selbst die unsichtbaren Lauscher am Hörkanal: Flugzeuge am Himmel, Vögel im Gebüsch, Reifenknirschen auf Kies, Klapp- und Schleifgeräusche wie von nimmermüden Maschinen oder Zählwerken, die den Bildern jedoch nicht eindeutig zuzuordnen sind. Auch die Kapitelfolge von Reys Film ist lose und sogar auf eine aleatorische Wiedergabe angelegt. Bild und Ton, Raum und Zeit sind in diesem Film längst auseinander gelaufen, ohne jedoch ganz voneinander loszukommen. Der Faden, der sie noch zusammenhält, führt weit ins Off, und man hat das Gefühl, er rührt dort an Dinge und Wünsche, die sich nicht mehr zeigen oder noch nicht sagen lassen. Nicolas Rey sagt, es habe ihn gereizt, einen Film zu machen anhand eines Textes, den er sich, weil es keine französische Übersetzung gibt, nur annäherungsweise aneignen konnte, den er gewissermaßen nur vom Hörensagen kannte. Das Zusammenkommen von Bildern und Tonspur sei »eine Frage des Vertrauens« gewesen. »Vielleicht ein bisschen Intuition, aber vor allem Vertrauen.« (4)

Der lichte Ort

Nehmen wir an, dass es etwas zu erzählen gibt: eine Geschichte, von der wir nichts wissen oder die wir vergessen haben, die aber unsere Geschichte ist und die anderswo erinnert und weitergegeben wird. Ein ständiges Gemurmel, für das wir manchmal die Archive halten. Nehmen wir an, dass dieses Anderswo in absoluter Dunkelheit liegt und dass wir vom Anderen nur noch seine Stimme haben. Es bringt dort auch das Abtasten der Gesichtszüge nichts mehr, wie es Yegussa einmal tut, als Olo schläft. »Ich sehe nicht mehr aus, und auch Du nicht mehr.« (Anders, 19)

Nehmen wir an, dass wir in der lauten, hellen, blinden Stadt nichts wissen von den Sträflingen, die sich die wahre Geschichte erzählen. Ist es nicht eine solche Vorstellung, die uns Dokumentarfilme machen lässt, und sind es nicht die damit verbundenen Hoffnungen auf Aufklärung, mit denen wir sie anschauen? Geschieht die dokumentarische Arbeit nicht auch in dem Glauben an ein Dunkel und in der Überzeugung, dass es der Wahrheit nicht zukomme, »auf ihre Verstecktheit stolz zu sein«? Aber woher kommt der Glaube, dass dieses Dunkel empfänglich ist für das Licht, das wir ihm bringen wollen? Was ist das überhaupt für ein Licht, über das wir zu verfügen meinen, und welches Bild gibt darin jemand ab, der »nicht mehr aussieht«? Sollten wir nicht lieber die Ohren spitzen, anstatt uns die Augen zu reiben, die längst blind geworden sind vom Licht?

In unserer Vorstellung ist die Dunkelheit voll mit Dingen, an denen man sich den Kopf stoßen, die Knie schürfen oder die Hände schmutzig machen könnte. Im Dunkeln wagt man kaum einen Schritt, weil man nicht weiß, wie groß der Raum ist, wie hoch die Decke hängt, oder ob es einen Boden gibt. Wir rufen ins Dunkle, um am Echo den Raum abzuschätzen. Wir sehen nichts, aber wir hören. Emmanuel Lévinas beschreibt, wie das Licht angeht: »Das Licht läßt das Ding erscheinen, indem es das Dunkel vertreibt, das Licht fegt den Raum leer.« (Lévinas, 271) Es schafft den »lichten Ort« (ebd., 272), an dem wir sehen können. Das Sehen setzt das Licht und die Leere voraus, aber wir sehen weder das Licht noch die Leere, sondern wir sehen ›Etwas‹, das sich im Licht von der Leere abhebt. »Das Sehen ist also eine Beziehung mit einem ›Etwas‹, und diese Beziehung findet statt inmitten einer Beziehung mit dem, was kein ›Etwas‹ ist.« (ebd., 271) Wenn aber die Leere selbst kein Etwas ist, »so gibt es doch diese Leere selbst.« (ebd., 272) Das Sehen von Etwas setzt voraus, dass Anderes nicht da oder nicht sichtbar ist. In dem lichten leeren Raum, in dem wir sehen können, ist das Abwesende daher nicht weniger real als das Anwesende, und es steht immer die Frage in diesem Raum, ob die Leere eine Geschichte hat, ob das Abwesende noch da war, bevor das Licht anging, und wohin es vertrieben wurde oder sich verflüchtigt hat. Wenn das Licht wieder ausgeht, wird sich der Raum in unserer Vorstellung wieder füllen, und im Dunkeln werden wir wieder auf unser Gehör angewiesen sein.

Mir scheint, dass die filmische Erfahrung ein unablässiges Umgehen mit diesen ambivalenten Sichtbarkeitsverhältnissen ist, denn der lichte, leergefegte Raum, den das Bildfeld erhellt, ist nicht nur umgeben, sondern auch bewohnt von Ungesehenem. »Jede Kadrierung determiniert ein Off« (5), schreibt Gilles Deleuze, und dass das Off dabei »keine schlichte Negation« (Deleuze1, 31) des visuellen Bildes sei, sondern dass das, was man nicht sieht, seine spezifische Präsenz auf der Tonspur habe. Bekanntlich unterscheidet Deleuze zwischen einem »relativen« und einem »absoluten« Aspekt des Off:

Zum einen bezeichnet das Off das, was woanders, nebenan, oder im Umfeld existiert; zum anderen zeugt es von einer ziemlich beunruhigende Präsenz, von der nicht einmal mehr gesagt werden kann, daß sie existiert, sondern eher, daß sie insistiert oder verharrt, ein radikaleres Anderswo, außerhalb des homogenen Raums und der homogenen Zeit. (Deleuze1, 34)

Eine der Fragen, die mich hier umtreibt, geht von dort aus: Welche Bedeutung kommt diesem absoluten Off im Dokumentarfilm zu? Beziehungsweise: Ist die Vorstellung von etwas, das nicht existiert, aber dennoch gegenwärtig ist, überhaupt vereinbar mit dem, was wir unter dokumentarischer Arbeit verstehen?

Die Umkehrung der Sichtbarkeitsverhältnisse

Eine prominente Ambition von Dokumentarfilmen ‒ insbesondere wenn sie sich politisch verstehen ‒ wird oft als die »Umkehrung der Sichtbarkeitsverhältnisse« beschrieben. Dabei steht gerade der Status des Unsichtbaren auf dem Spiel, denn typischerweise geht es darum, etwas, das von einer diskriminierenden und ungerechten Bildpolitik ins Off verdrängt wird, ins Bild zu holen. Es geht um Teile oder Aspekte des Realen ‒ Menschen, Orte, Verhältnisse ‒ die zwar da, aber zu wenig sichtbar sind, und der Dokumentarfilm gilt vielen als das probate Mittel, das zu ändern, weil er in besonderer Weise Sichtbarkeit mit Glaubhaftigkeit verbinde. Ich vereinfache, aber auf die eine oder andere Weise erkennt man in vielen dokumentarischen Arbeiten ein solches Paradigma: Umkehrung der Sichtbarkeitsverhältnisse heißt, Licht ins Dunkel zu bringen, den Schleier zu lüften oder zumindest den Versuch zu machen, den Blick auf die ›blinden Flecken‹ zu richten.

Zweifellos sind wir Erben einer Geschichte, die uns skeptisch gemacht hat und bisweilen spitzfindig, nicht nur hinsichtlich der Wahrhaftigkeit von Bildern, sondern auch der des Sichtbaren überhaupt. Nicht alles, was sichtbar ist, ist auch wirklich da. Und vieles, was da ist, bleibt dennoch unsichtbar, weil Sichtbarkeit Ansprüche legitimiert, und Bildpolitik tatsächlich eine Weise ist, gesellschaftliche Teilhabe zu organisieren. Wie könnte die dokumentarische Filmarbeit darüber hinwegsehen, dass der filmische Raum und der politische Raum sich gerade darin gleichen, dass es in beiden ein ›Off‹ gibt, eine Realität, die Deleuze als das bezeichnet, »was man weder hört noch sieht und was trotzdem völlig gegenwärtig ist« (Deleuze1, 32)?

Die Frage ist aber, inwiefern das dokumentarische Bild geeignet ist, ›fingierten‹ Sichtbarkeitsverhältnissen entgegenzutreten, und ob das dokumentarische On tatsächlich der Ort ist, an dem das, was gesellschaftlich im Off liegt, zu seinem Recht kommt. Schließlich verkörpert sich im dokumentarischen Bild selbst, unabhängig davon, wem es Sichtbarkeit verschaffen soll und wie erfolgreich dieses Manöver ist, die volle Ambivalenz der Behauptung, dass Sichtbarkeit Präsenz verschaffe. Wie kein anderes Medium zuvor hat ja gerade der Film, indem er vorgibt, das Sichtbare zu verdoppeln, dessen Materialität und Wahrhaftigkeit in Frage gestellt. Film ist nicht zuletzt eine Weise, etwas vor unseren Augen sichtbar zu machen, was paradoxerweise gerade nicht da ist, zumindest nicht hier, sondern allenfalls anderswo. Gerade im Dokumentarfilm mit seinen Ansprüchen an die Wirklichkeit und seinem berufsmäßigen Interesse am Anderswo kommt diese Ambivalenz voll zur Geltung. Er kann uns nur dann davon überzeugen, dass er den Schleier lüftet, der das Sichtbare zuvor verdeckt hat, wenn wir im gleichen Zug den Schleier akzeptieren, den er vor unsere Augen spannt, damit das Bild sichtbar werden kann.

Die Aufteilung des Sinnlichen

Als Günther Anders 1931 anfing, die Gespräche zwischen Olo und Yegussa in Die molussische Katakombe niederzuschreiben, ging er nicht davon aus, dass Molussien fernab jeder Realität läge. Die Dringlichkeit der Erzählung entsteht gerade aus dem unklaren Status des Offs, das er beschreibt, aus dem Gefühl, dass das Verlies, in dem Olo und Yegussa sitzen, gleichzeitig real und nebenan und dennoch unwahrscheinlich und unerreichbar sei. Vielleicht hat Jacques Rancière Recht, wenn er sagt, dass »das Reale zur Dichtung werden [muss], damit es gedacht werden kann« (6) und dass der Dokumentarfilm in einer besonders günstigen Lage für die »Aufteilung des Sinnlichen« sei, bei der »Politik, Kunst, Wissen« alle dasselbe machten: sie »konstruieren Fiktionen, das heißt materielle Neuanordnungen von Zeichen und Bildern, und stiften Beziehungen zwischen dem, was man sieht, und dem, was man sagt, zwischen dem, was man tut und tun kann.« (Rancière, 62)

Das von Rancière evozierte Bild einer ständigen Neuaufteilung des Sinnlichen spielt allerdings mit der Vorstellung einer ungebrochenen Fülle des Gegebenen. Wenn der Dokumentarfilm in Rancières geraffter Genealogie der Künste als ein später Nutznießer der »ästhetischen Revolution« erscheint, so deshalb, weil er »sich dem ›Realen‹ verschrieben hat« (Rancière, 61) und daher bei der Neuaufteilung des Sinnlichen mit doku-fiktionalen Formaten gewissermaßen aus dem Vollen schöpfen kann. Ich frage mich aber, ob diese Vorstellung einer Fülle nicht gerade übersieht, dass vieles, was es zu dokumentieren gälte, den Status eines Abwesenden und Fehlenden hat, und dass es in steigendem Maße darum geht, Formen zu finden, vom Verschwinden und von Verlusten zu erzählen, vom Unsichtbarwerden von Orten und von der spezifischen Leere, die diejenigen hinterlassen, die plötzlich und unfreiwillig gegangen sind. Sensibilisiert uns nicht gerade die filmische Erfahrung dafür, dass etwas sichtbar werden kann, ohne da zu sein, und dass gleichzeitig etwas anderes unsichtbar bleiben kann und dennoch da ist, weil wir es atmen, sprechen, regnen oder rieseln hören?

Wenn der Dokumentarfilm bei der Aufteilung des Sinnlichen einen Vorteil hat, so liegt dieser womöglich nicht so sehr in der Hybris der dokumentarischen Form, die es ihm erlaubt, auf zwei Hochzeiten ‒ Fiktion und Dokument ‒ gleichzeitig zu tanzen, sondern vielmehr in der Zweiteilung seiner eigenen Sinnlichkeit: der Möglichkeit, vermittels der Tonspur ein Kontinuum hinter dem Sichtbaren zu erschaffen, einen Raum, in dem etwas auch dann vernehmbar ist, wenn es nicht mehr (oder noch nicht) zu sehen ist. Für Danièle Huillet und Jean-Marie Straub verband sich damit bekanntlich eine Frage des Respekts vor dem, was man nicht sieht. Ihr Arbeiten mit Direktton hat Danièle Huillet einmal folgendermaßen begründet:

Zu jedem Bild gehört ein Ton und man ist gezwungen, ihn zu respektieren. Selbst wenn sich der Bildrahmen geleert hat, wenn der Darsteller aus dem Bild tritt, kann man noch nicht schneiden, weil man ihn ja weiterhin hört, seine Schritte, die sich im Off entfernen. (7)

Das Volk der Fehlenden

Gerade das Verschwinden, also den Umschlag des Sichtbaren ins Unsichtbare, hat Deleuze als den Moment beschrieben, an dem die filmische Praxis des Kadrierens, des Anlegens einer Tonspur und der Bezugnahme auf das Off zum Politikum werden muss. Während noch bis in die dreißiger Jahre hinein »das Volk« (8) auf der Kinoleinwand präsent gewesen sei, »auch wenn es unterdrückt, getäuscht, unterworfen, ja selbst dann, wenn es blind oder unbewußt« gewesen sei, könne es »ein modernes politisches Kino« für Deleuze nur geben »auf der Basis, dass das Volk nicht mehr existiert oder noch nicht existiert… das Volk fehlt.« (9) Bei diesem Fehlen handelt es sich freilich nicht um ein Manko, dem mit erhöhter Bildproduktion beizukommen ist. Das »fehlende Volk« ist ein historisch gewordener Protagonist, der in jeder Bildpolitik an ein radikales Anderswo erinnert, an die Leere, die das Sichtbare auch dort umgibt, wo kein Krieg und keine Vernichtung stattgefunden haben. Für Deleuze ist das fehlende Volk sogar der abwesende Adressat jeder künstlerischen Praxis. In jedem Kunstwerk liege eine Hinwendung an ein Volk, das noch nicht existiert. (10)

Mag das Kino mit einem gewissen Recht als die »neue Erzählkunst« (Rancière, 60) gelten, so wird dadurch keineswegs nichtig, was Walter Benjamin bereits 1937 schrieb ‒ also zur gleichen Zeit, als sein Cousin Günther Anders Die molussische Katakombe unvollendet abbrach ‒, dass nämlich das Erzählen eine Kunst sei, mit der es zu Ende gehe. »Es ist, als wenn ein Vermögen, das uns unveräußerlich schien, das Gesichertste unter den Sicheren, von uns genommen würde. Nämlich das Vermögen, Erfahrungen auszutauschen.« (11) Es geht um das Auseinanderfallen von dem, was gesagt, und dem, was gezeigt werden kann, um den Verlust eines Kontinuums und das Abreißen von Fäden. (Das Erzählen erhält sich bei Benjamin in der Nähe des Handwerks, und die Spinnstube ist sozusagen die Ur-Szene, in der die Assoziationsfäden seines Textes zusammen laufen). Nicht notwendig als Thema, wohl aber hinsichtlich der Möglichkeiten, mit Bildern, Stimmen und Geräuschen eine Geschichte zu erzählen, hat gerade der Dokumentarfilm diese Zerrissenheit geerbt: das anachronistisch Werden der Erinnerungen noch zu Lebzeiten und bisweilen buchstäblich über Nacht, das Verschwinden des Wirklichen noch ehe ein Bild entstanden wäre, die Auslöschung des Erzählers oder des Zuhörers mitten im Satz.

Wenn Film die neue Erzählkunst ist, und wenn den dokumentarischen Formen dabei eine privilegierte Rolle zukommt, dann hat sich in dieses Erzählen der Widerspruch eingeschrieben, dass es eine Kunst ist, die weitermacht, nachdem es mit ihr zu Ende gegangen ist. Dem Gespenstischen eines solchen Erzählens entspricht allerdings das Gespenstische, das in der filmischen Erfahrung immer schon latent ist, nämlich dass etwas sichtbar wird, was in Wirklichkeit gar nicht da ist, und dass etwas Unsichtbares hörbar wird. Die Dichtung, zu der das Reale dabei wird, ist mehr denn je auf die Fäden angewiesen, die ins Off führen und das Sichtbare mit dem Unsichtbaren verbinden. Allein dass diese Fäden gespannt sind, dass sie uns berühren und sich in Schwingung versetzen lassen, beweist, dass auf der anderen Seite etwas sie hält. Die Verbindung zum Realen erhält sich diese Dichtung gerade dadurch, dass sie an diesen Fäden nicht zieht und zerrt, um das Abwesende ins Bild zu holen wie an einer Angel, sondern indem sie die Abwesenheit aushält, die immer schon Teil dessen ist, was wir sehen.

Heute sind wir Tausende

Till Roeskens’ VIDEOMAPPINGS: AIDA, PALESTINE (F, PS 2009) beginnt mit der Erzählung einer Frau von einem Garten, der ihrer Familie einmal gehörte. Sie spricht von Johannisbrotbäumen, deren Früchte auf der Zunge zergingen, und von Oliven, deren Öl so gelb gewesen sei wie reines Gold. Zur Stimme der Frau setzt sich im Bild eine Zeichnung zusammen. Wir scheinen eine weiße Fläche zu sehen, die auf der Rückseite von unsichtbarer Hand mit Filzstift bemalt wird. Eine Reihe identischer Strahlenbündel, drei Striche jeweils, ist im Entstehen, und die Erzählung der Frau handelt nun von der Vertreibung aus dem zuvor beschriebenen Paradies, von einem Leben im Erdloch und schließlich von der Ankunft in Aida, einem Flüchtlingscamp in Bethlehem. Die Strahlenbündel werden mehr, sie stellen die Zelte des Camps dar, und die Erzählerin ordnet jedem Zelt einen Namen zu. Als es auf der Leinwand keinen Platz mehr für weitere Zelte gibt, beginnt sich um jedes der Dreiecke ein Quadrat zu formieren. Heute sei das Camp nicht mehr wiederzuerkennen, sagt die Frau, da aus den Zelten längst Häuser geworden seien. »Heute sind wir Tausende.«

Erzählung und Zeichnung, Stimme und Bild gehören zusammen, aber gleichzeitig klafft eine Diskrepanz zwischen ihnen, ein Anachronismus, denn zwischen heute und damals ist etwas unwiederbringlich verloren gegangen. Unwiederbringlich, weil die Frau den Garten, von dem sie erzählt, selber nur noch aus den Erinnerungen ihrer Eltern kennt. Unwiederbringlich heißt aber auch, dass es in VIDEOMAPPINGS keine Bilder der Orte geben wird, von denen die Rede ist. Nicht einmal die Sprecherin selbst werden wir zu Gesicht bekommen. Etwas hat aufgehört, zu existieren und real zu sein, aber anstatt dass es spurlos verschwunden wäre, ist sein Fehlen selbst zur Realität geworden, sind die Deplatzierung, das Nicht-Hier und Nicht-Mehr-Da zu Alltagserfahrungen geworden. In VIDEOMAPPINGS geht es jedoch nicht darum, zu zeigen, was verloren wurde, oder das Verbliebene zu einem Bild zu versammeln, womöglich ein Inventar des Verlusts zusammenzustellen, auf das man sich dereinst werde beziehen können, sollte es irgendwann einmal darum gehen, das Verlorene wiederzuerkennen und Rechtsansprüche geltend zu machen. Es geht nicht um die Darstellung des Verlorenen, sondern um die Dokumentation des Verlusts. Wie aber dokumentiert man einen Verlust?

VIDEOMAPPINGS besteht aus sechs Erzählungen und die Ton-Bild-Komposition bleibt stets die gleiche: eine Stimme erzählt, während sich nach und nach auf der Leinwand eine Skizze abzeichnet. Till Roeskens vollführt hier ein paradigmatisches Spiel mit dem bereits erwähnten Schleier, der im Dokumentarfilm gleichzeitig gelüftet und aufgespannt wird. (12) Einerseits sind wir vor einem dokumentarischen Bild angehalten, im Gesehenen die Wirklichkeit zu erkennen, andererseits sollen wir vergessen, dass wir auf eine weiße Leinwand blicken, und uns im zweidimensionalen Bild wie in einem Raum bewegen. Die Illusion der Räumlichkeit wird in videomappings durch die sich sukzessiv zusammensetzenden Zeichnungen von Anfang an gebrochen. Den realen Raum, in dem hinter einer Leinwand jemand sitzt, der gleichzeitig erzählt und zeichnet, können wir als solchen wiederum nur wahrnehmen, wenn wir vergessen, dass wir selber vor einer weißen Wand sitzen, auf die das Video projiziert wird und hinter der niemand sitzt.

Die Abflachung des visuellen Raums lässt die Zeitlichkeit des Erzählens stärker hervortreten und passt damit unsere Aufmerksamkeit dem Rhythmus der Stimmen an. Eine Verlagerung des Sensoriums vom Sehen auf das Hören (13) ähnlich dem, das sich einstellt, wenn das Licht ausgeht und wir im Dunkeln stehen. Auch die Zeichnungen, die vor unseren Augen entstehen, folgen ganz der Eigenzeit der Stimmen, denn es sind offenbar die selben Menschen, die erzählen und gleichzeitig zeichnen. Die Zeichnungen sind Erzählprotokolle, in denen sich verschiedene Zeiten überlagern können; Kartographien, in denen sich das Verschwinden eines Gartens abzeichnet oder das Werden eines Flüchtlingslagers und in denen Wege sichtbar werden als Prozesse: die Wege, die durch Aida führen, und die Umwege, die den Bewohnern von der Mauer und den Kontrollposten aufgezwungen werden.

Diese Zeichnungen sind keine Bilder von Etwas, sondern Skizzen einer Leere, die es gibt, jenseits dessen, was sich mit Bildern zeigen lässt; eine Leere, die allgegenwärtig geworden ist im Leben der Erzählenden, weil das Verschwundene, als es aus dem Raum vertrieben wurde, sich in der Dauer eingerichtet hat. Deleuze schreibt, je feiner der Faden sei, der in einem Film das Sichtbare mit dem Unsichtbaren verbinde, desto eher steige »die Dauer in das System wie eine Spinne hinab« (Deleuze1, 34), desto stärker mache sich der absolute Aspekt des Off bemerkbar. Was sind diese Videokartographien anderes als solche Netze der Dauer, die das Verschwundene spinnt, Spuren von etwas Abwesendem, das nicht mehr existiert, aber weiterhin insistiert?

Was wir nicht sehen, blickt uns an

Der einzige sichtbare Ort in VIDEOMAPPINGS ist die weiße Leinwand. Dadurch kommen alle Geräusche aus dem Off, obwohl ihre Quellen sich innerhalb des Bildfelds befinden. Auf einer Skizze ließe sich diese Kadrierung als eine Drehung des Bildraums um neunzig Grad darstellen. Es ist, als wäre hier der seitliche Bildrahmen, der üblicherweise die Grenze zwischen Bildfeld und Off markiert, frontal ins Bild gedreht und dabei zu einer Fläche ohne Rand und Tiefe geworden. Das Verblüffende ist, dass dabei das Off ins Bild kommt, jedoch nicht in dem relationalen Modus, in dem sich dies bei einem Gegenschuss, einem Schwenk oder einer Aufblende stets vollzieht. Der Dreh mit dem weißen Bildträger führt vielmehr zu einer Situation, in der die Stimmen der Erzählenden aus einem Off kommen, das wir sehen. Anstatt dass uns die dokumentarische Bildkomposition zeigt, was wir bislang nicht gesehen haben, bekommen wir in VIDEOMAPPINGS zu sehen, dass wir nicht sehen. In diesem Versuch einer Bildbeschreibung überlappen sich unweigerlich die kompositorische und die politische Bedeutung des Begriffs Off. Um zu beschreiben, was wir in VIDEOMAPPINGS sehen, müssen wir unentwegt Rekurs nehmen auf das, was wir nicht sehen, was aber dennoch auf der Tonspur gegenwärtig ist.

Wir haben es hier mit der »Modalität des Sichtbaren« (14) zu tun, die Georges Didi-Huberman in Was wir sehen, blickt uns an (15) untersucht. Sie besteht nicht nur darin, dass bei jedem Sehen etwas ungesehen bleibt, sondern auch darin, dass die Leere, die das Gesehene umgibt, uns anblickt. »Öffne deine Augen, um zu spüren, was du nicht siehst, was du nicht mehr sehen wirst – oder vielmehr um zu spüren, daß das, was du nicht mit aller (sichtbaren) Evidenz siehst, dich dennoch als ein (visuelles) Werk des Verlusts anblickt.« (Didi-Huberman, 16) Wenn das Dokumentarische an VIDEOMAPPINGS sehr wohl darin besteht, uns die Folgen von Vertreibung und Segregation vor Augen zu führen, so gerade deshalb, weil Till Roeskens‘ Arbeit sehen, beziehungsweise spüren lässt, wie sehr das Unsichtbare und das Verschwinden den politischen Raum konstituieren, der dabei geschaffen wird.

Was wir nicht sehen, kann uns in VIDEOMAPPINGS gerade deshalb anblicken, weil die durchgängige Kadrierung auf die weiße Leinwand uns auffordert, dem, was wir hören, ungesehen zu glauben. Wir müssen verzichten auf das, was uns die dokumentarische Arbeit üblicherweise zu sehen gibt: Bilder von Orten und Menschen, die das Erzählte belegen sollen, zuvorderst das Bild eines Zeugen, den man sprechen sieht. (16) Interessanterweise stürzt der Entzug dieser Gewissheiten die Erzählungen in VIDEOMAPPINGS jedoch nicht in eine Glaubwürdigkeitskrise, sondern aktiviert vielmehr Vertrauens- und Empathiepotenziale, die bei jedem Zuhören im Spiel sind, die aber allzuoft durch die Schlagkraft dokumentarischer Bilder entwertet werden. Während der strahlende Beweis eines dokumentarischen Bildes immer auch einen Schatten wirft auf die Verlässlichkeit des bloß Gehörten, hieße den skizzenhaft bebilderten Erzählungen in VIDEOMAPPINGS zu misstrauen, der eigenen ethischen Konstitution zu misstrauen. Man kommt gar nicht umhin, dem Gehörten Glauben zu schenken. Denn dass Stimme und Bild, Behauptung und Beleg nicht immer gleichzeitig zu haben sind, ist eine Alltagserfahrung, und letztlich kämen wir kaum einen Schritt weiter, wenn wir nicht ständig bereit wären, den Worten eines anderen ungesehen zu glauben. Eine Frage des Vertrauens.

Der unsichtbare Krieg

Vielleicht geht es um nicht weniger als das: wir sind im Krieg. Und wenn wir davon nichts mitbekommen, so sind wir es deshalb nicht weniger, denn im Krieg sind wir nicht erst dann, wenn Bomben einschlagen neben uns, sondern im Krieg sind wir mit uns selbst, wenn wir nur die Kriege für wirklich halten, die uns gezeigt werden. In Philip Scheffners DER TAG DES SPATZEN (D 2010) geht es darum, zu verstehen, was es heißt, in einem Krieg zu sein, den man nicht sieht. Die Umkehrung der Sichtbarkeitsverhältnisse besteht jedoch nicht darin, den unsichtbaren Krieg ins Bild zu holen, sondern die Unsichtbarkeit des Krieges solange vor Augen zu führen, bis wir verstehen, dass der Krieg nicht unsichtbar ist, sondern dass wir blind sind für den Krieg. Die deutschen Landschaften, die wir in diesem Film sehen, sind keine friedlichen Landschaften, sondern Landschaften, in denen man den Krieg, der von hier aus tatsächlich geführt wird, nicht sieht.

Ähnlich wie VIDEOMAPPINGS rückt auch DER TAG DES SPATZEN das Off als eine Konstitution des Sehens ins Bild, und gibt gerade damit dem Nicht-Sichtbaren eine Verortung in der geopolitischen Landschaft. Das Sehen des Nichtsehens wird auch hier möglich, weil in der Zwiegestalt des Films das »Hörbare dem visuell Unzugänglichen eine spezifische Präsenz [verleiht]«.  (Deleuze2, 301f.) Auf der Tonspur von Scheffners Film hören wir das Protokoll einer Recherche über die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan. In gewisser Weise geht es dabei durchaus um eine Suche nach Bildern des Krieges. Es geht aber auch darum, in die Bildlosigkeit hinein zu fragen, was überhaupt ein adäquates Bild für ›den Krieg in Afghanistan‹ und ›die deutsche Beteiligung‹ daran sein könnte. Die Ambivalenz des Versuchs, möglicherweise dort Bilder zu finden von einem Krieg, für den hier Rechenschaft abgelegt werden müsste, kulminiert schließlich in einem Bildvorschlag, den ein Bundeswehroffizier den Filmemachern unterbreitet, um deren hartnäckiges Interesse an Vögeln mit der Informationspolitik der Streitkräftebasis zu versöhnen: ein Vogelschwarm in einem Busch in der afghanischen Steppe, im Hintergrund eine Patrouille der Bundeswehr, die das Gelände sichert. Es scheint, dass für Philip Scheffner und Merle Kröger dies der Moment war, in dem die Suche nach Bildern, die die Unsichtbarkeit des Krieges aufheben könnten, zu einer Arbeit wurde an Bildern, die diese Unsichtbarkeit zeigen.

Bis auf eine sind alle Stimmen dieses Films Off-Stimmen. (17) Sie kommen jedoch nicht von weit her, etwa aus Afghanistan, sondern sie sprechen alle im Nahbereich eines Hier, das sich gerade dadurch konstituiert, dass der Krieg in Afghanistan geografisch weit weg ist, aber moralisch sehr nah rückt. Gespräche mit einem Soldaten, der in Afghanistan im Einsatz war. Gespräche mit Menschen über die Landschaften, denen man den Krieg nicht ansieht. Mitschriften einer Kommunikation mit der Öffentlichkeitsabteilung der Bundeswehr, die glaubte, nicht-öffentlich bleiben zu können, solange sie Scheffner nicht in den Kasernen filmen lässt. Auch sie haben nur die Bilder bedacht und nicht das Akustische, welches das filmische Off »in all seinen Formen bevölkert« (Deleuze2, 302) – genau wie die Vögel, die Scheffners Film bevölkern wie ein Gerücht. (Es gibt in DER TAG DES SPATZEN eine Einstellung, in der eine Krähe zwischen zwei Flügelschlägen verschwindet).

Das dumpfe Knallen von Gefechtsübungen in der Eifel und an der Ostsee. Gerade weil ihre Vernehmbarkeit nicht gebunden ist an die Sichtbarkeit ihrer Quellen, schaffen die Stimmen und Geräusche in der tag des spatzen einen Resonanzraum, in dem das Gesehene zum Zeichen werden und auf etwas verweisen kann, was anderswo ist, nicht hier und nicht sichtbar, aber darum nicht weniger gegenwärtig. Es kann einem nach diesem Film passieren, dass man bei dem Wort ›Afghanistan‹ an Störche denkt, die hoch über einem auf einer unsichtbaren Thermik ihre Kreise ziehen. Es kann aber auch passieren, dass man beim Anblick von Störchen am Himmel unwillkürlich an Afghanistan denkt und an den Krieg, der dort weiterhin herrscht. Der Eklat dieses Films ist nicht, dass der Krieg für uns unsichtbar ist, sondern die Tatsache, dass der Frieden keiner ist. Der Eklat bleibt der Krieg.

Die harte Wirklichkeit

Wohl wäre es einem zupackenderen Dokumentarismus möglich gewesen, Bilder dieses Krieges zu versammeln, das Nicht-Sichtbare sichtbar zu machen. Denn der Krieg ist nicht unsichtbar. In einem gewissen Sinn, über den sich Emmanuel Lévinas Rechenschaft abgelegt hat, ist der Krieg sogar der Ernstfall der Sichtbarkeit, die Wirklichkeit in ihrer ganzen Härte. Der Krieg ist »die Kraftprobe auf die Wirklichkeit« (Lévinas, 20) und er ist deshalb auch die Kraftprobe einer Bildpraxis, die sich der Wirklichkeit verpflichtet fühlt. Denn »harte Wirklichkeit« heißt nicht nur unwiderlegbare Wirklichkeit, sondern auch zwingende Wirklichkeit; nicht nur Wirklichkeit der Gewalt, sondern auch Gewalt der Wirklichkeit, Wirklichkeit als Gewalt: »Im Krieg zerreißt die Wirklichkeit die Wörter und Bilder, die sie kaschieren, um sich in ihrer Nacktheit und Härte aufzuzwingen.« (ebd., 19) Der Krieg reißt uns die Wörter aus dem Mund und die Bilder aus der Hand, er macht stumm und lässt nur eine Sicht zu: den Blick auf die harte Wirklichkeit. »Harte Wirklichkeit (das klingt wie ein Pleonasmus!)«, schreibt Lévinas. Der Krieg ist die Diktatur des Wirklichen, eine totalitäre Ordnung, »zu der niemand Abstand wahren kann« und in der »es nichts Äußeres [gibt]« (ebd., 20). Im Kriegszustand erscheint alles, was dem Krieg widerspricht, als Versuch, die Wirklichkeit zu kaschieren. Denn Wirklichkeit ist Härte und die Härte ist der Krieg. »Die Evidenz [ist] auf Seiten des Krieges« (ebd., 24).

Totalität und Unendlichkeit erschien 1961 und war Lévinas‘ Habilitationsschrift. Lévinas hatte den Zweiten Weltkrieg in einem deutschen ›Straflager‹ in der Lüneburger Heide überlebt, seine Familie war in Litauen von den Nationalsozialisten ermordet worden. »Das moralische Bewußtsein vermag den spöttischen Blick des Politikers nur zu ertragen, wenn die Gewißheit des Friedens über die Evidenz des Krieges die Oberhand behält. Eine solche Gewißheit gewinnt man nicht durch das bloße Spiel von Antithesen. Der Friede der Imperien, die aus dem Krieg hervorgegangen sind, ist auf den Krieg gegründet.« (ebd., 21) Eine Philosophie, die sich von der Evidenz des Krieges maßregeln lässt, arbeitet für Lévinas letztlich einer Politik zu, die sich auf den nächsten Krieg vorbereitet, um ihn zu gewinnen. Wenn die Evidenz auf Seiten des Krieges ist, so ist sie kompromittiert. Für Lévinas war Philosophie als Ethik, als eine Bemühung um das gute Leben, überhaupt nur noch möglich, wenn sie sich befreit von der Faszination eines Seins, das sich »dem Bewusstsein aufnötigt«, von der »harten Wirklichkeit« und den »nackten Tatsachen«. Diese philosophische Sprache der Evidenz war für Lévinas als die Sprache des Krieges grundlegend diskreditiert. Wenn die Evidenz auf Seiten des Krieges ist, dann kann sich der Frieden nur auf eine »Exteriorität« gründen, auf einen Bezugspunkt außerhalb der Totalität der harten Wirklichkeit. »Vom Frieden kann es nur eine Eschatologie geben« (ebd., 24).

Ich habe bei dieser Lektüre das Gefühl, dass Lévinas‘ Andenken gegen den Pleonasmus der harten Wirklichkeit auch von den Aporien des Dokumentarfilms handelt. Denn auch in der dokumentarischen Arbeit spielt eine gewisse Härte eine Rolle, die Vorstellung einer Realität, die sich den Aufnahmeapparaturen unwiderstehlich aufnötigt, die Herstellung einer zwingenden oder drückenden Beweislage, die zu einer Bildpraxis führt, bei der es im Ergebnis eher darum geht, die Sichtbarkeit der nackten Wahrheit zu ertragen, als das Unsichtbare auszuhalten. Wenn aber in der dokumentarischen Bildökonomie nur das als harte Währung gälte, was ins Bild gelangt und sich zeigen lässt ‒ was zeigbar ist und zulässt, dass es gezeigt wird ‒, so würde auch diese Ökonomie auf eine Ordnung hinauslaufen, zu der niemand Abstand wahren kann und in der es nichts Äußeres gibt.

Wenn die dokumentarische Filmarbeit ihre Legitimation in dem sucht, was sie sichtbar machen kann, dann delegitimiert sie damit gerade die Bereiche der Wirklichkeit, die nicht oder nicht mehr sichtbar sind ‒ weil etwas aus der Welt geschafft wurde, weil Bilder verhindert und Archive zerstört wurden oder weil es dabei um Sichtbarkeit überhaupt nicht geht. Die Krise unserer bildpolitischen Gegenwart ist nicht etwa ein Bildverlust oder der ungleiche Zugang zum Bild, sondern die Tatsache, dass im Angesicht eines massiven Verschwindens, angesichts einer systemisch gewordenen Politik der Vertreibung, der Abschiebung, des erzwungenen Exils und der Deklassierung ganzer Gesellschaften ausgerechnet Sichtbarkeit zum dominanten Index der physischen und politischen Existenz geworden ist. Die Sichtbarkeitsverhältnisse umzukehren bedeutet daher, die Dominanz des Sichtbaren infrage zu stellen und uns hören zu lassen, was wir nicht sehen. Denn in einem solchen blinden Hören wird das Imaginäre geweckt und das Imaginäre ist auch das Vermögen, sich vorzustellen, dass die Dinge anders sein könnten, als sie sind. »Die Ethik ist eine Optik«, schreibt Lévinas, »ein ›bildloses‹ Sehen« (ebd., 23).

Lévinas‘ Vorschlag, von der »Kraftprobe der Wirklichkeit« zu einem »eschatologischen Sehen« (ebd., 23) überzugehen, bedeutet keine skeptische Abkehr von der Wirklichkeit als solcher, sondern die ethische Infragestellung einer Wirklichkeit, die als Totalität auftritt und zu der es angeblich kein Äußeres gebe. Die Eschatologie, um die es ihm geht, ist eine atheistische Eschatologie, eine Erwartung ohne Vorsehung, ein Sehen ohne Horizont, oder vielmehr ein Sehen, bei dem es nicht um die Erweiterung des Horizonts im Sinne einer Ausweitung des Sichtbaren geht, sondern darum, in jedem Sichtbaren die Horizontlinie des Unsichtbaren zu sehen und deshalb mitten in der Wirklichkeit auf die Begegnung mit dem Unvorhersehbaren und Nicht-Erwartbaren gefasst zu sein. Für die Filmarbeit könnte das bedeuten, dass das Off zum Offenen wird, zu einer Öffnung, die man mit einem Begriff Jacques Derridas als »gerechte Öffnung« (18) bezeichnen könnte; als eine Offenheit, die der Wirklichkeit gerade deshalb gerecht wird, weil sie den akustischen Raum als ein dem Sichtbaren gegenüber autonomes Feld der Erfahrung eröffnet, und damit die Wirklichkeit eher als ein Feld unendlicher Möglichkeiten bespielt, als dass sie sie als eine Totalität voraussetzt. Es geht immer darum, wie man die Kinomaschine gegenüber der Wirklichkeit in Stellung bringt und was man dabei aufzunehmen hofft, oder bereit ist.

Grenzpolitik

In der Arbeit des Filmemachers Pierre-Yves Vandeweerd hat sich von Film zu Film die Tonspur mehr und mehr von den Bildern gelöst . (19) Gewisse Verbindlichkeiten der Synchronität und der Konsistenz sind immer brüchiger und Ton- und Bilderzählung im Gegenzug immer unabhängiger voneinander gewonnen. In Vandeweerds bis dato letztem Film, TERRITOIRE PERDU (B, F 2011), wird eine Synchronität von Ton und Bild nur noch in kurzen und spärlichen Momenten mehr angedeutet als manifestiert. Das Blöken eines Kamels, das Flattern eines Zeltstoffs im Wind, die Geräusche eines sich lange hinziehenden Teeausschenkens oder die knirschenden Schritte eines Soldaten auf dem kargen Boden der westlichen Sahara sind letzte Reste an Zusammenhalt, dünne Fäden, mit denen Bild und Ton noch aneinander hängen und denen man im Übrigen die Spuren der Fabrikation deutlich anmerkt. Der Ton liegt an den Bildern wie ein loses Tuch an einem Körper, an dem der Wind zerrt. Auf den ersten Eindruck bewirkt dieser Eingriff in die Homogenität des Ton-Bild-Ensembles eine Ästhetisierung. Der dokumentarische Charakter des Dargestellten wird zweifelhaft und die spürbar getrennte Anwesenheit von Bild und Ton lässt die filmische Erfahrung zu einer Komposition werden, bei der es wieder einmal eher um eine Frage des Vertrauens als um zwingende Evidenz geht.

Vandeweerd sieht sich mit seiner Arbeit jedoch keinesfalls im Übergang zum fiktionalen Film, sondern vielmehr auf dem Weg zu einem »cinéma du réel«, einem Kino des Realen, welches sich freilich bewusst von einer Reihe von Forderungen emanzipiert, die man mit einem »cinéma documentaire« klassischerweise verbindet. (20) Es geht nicht um die längst durchlässig gewordenen Genregrenzen, sondern um das viel dringlichere Problem der Grenzen des Realen und der Wahrnehmung. Insofern sich mit diesen Grenzen immer auch eine Grenzpolitik verbindet (eine Politik der Bilder, der Wahrheit, des Zugangs, der Identität und der Dokumente), stellen sich an diesen Grenzen auch Fragen nach der Politik der dokumentarischen Arbeit.

Bereits thematisch geht es in TERRITOIRE PERDU um den hybriden Status einer Grenze. Der Film handelt vom sogenannten Westsahara-Konflikt und dem erzwungenen Exil der früher überwiegend nomadisch lebenden Sahraui. Nachdem sich Spanien Mitte der 1970er Jahre offiziell aus der Region zurückgezogen hatte, wurden die Sahraui im Territorialkonflikt zwischen Mauretanien und Marokko immer wieder Opfer von Angriffen und Massakern. Sie fanden damals Zuflucht in algerischen Flüchtlingslagern, in denen ein Großteil von ihnen noch heute lebt. Vandeweerd begleitet die Soldaten des Frente Polisario (Frente Popular para la Liberación de Saguía el Hamra y Río de Oro), der politischen und militärischen Organisation der Sahraui, auf ihren Patrouillen und bei ihren Routinen. Seit 1973 hat der Polisario einen bewaffneten Unabhängigkeitskampf geführt, zunächst gegen die spanische Kolonialpräsenz, dann gegen die marokkanische Besatzungsarmee. Marokko nutzte den von den Vereinten Nationen 1991 vermittelten Waffenstillstand dazu, Fakten zu schaffen, und errichtete einen über 2500 Kilometer langen Grenzwall durch die Wüste, der die Sahraui von der Hälfte des ihnen zustehenden Territoriums ausgrenzt. Die militärische Mission des Polisario wurde damit zum Paradox, denn die Soldaten bewachen nun eine Grenze, die sie selbst ausschließt.

In TERRITOIRE PERDU ist diese Grenze eine ständige Präsenz, ein Horizont, relativ zu dem sich die Erzählungen verorten. Wie jede Grenze ist sie eine rechtliche Fiktion, gleichwohl eine bauliche und topografische Realität, eine Teilung des Raumes, aber auch – wie viele Grenzen – eine Teilung der Zeit, denn sie unterteilt die Erinnerung der Sahraui in die Zeit vor der Vertreibung und die Zeit danach. Erst gegen Ende des Films hat sich die erratische Bilderzählung dieser Grenze soweit angenähert, dass sie in der Ferne sichtbar wird, flimmernd in der Hitze, bewacht von schemenhaften Silhouetten, porös gemacht durch den Wind und durch das Super-8-Material, auf dem die Bilder aufgenommen sind.

Indem Vandeweerd, um vom Exil der Sahraui zu erzählen, das umstrittene Territorium jenseits des Grenzwalls nicht betritt, wie man es von einem Dokumentarfilmer womöglich erwartet hätte, wird die völkerrechtswidrige Grenze zu einer Demarkationslinie im diegetischen Raum des Films. Während sämtliche Bilder diesseits des Walls entstanden sind, auf dem Gebiet, das den Sahraui verblieben ist und das im Osten wiederum an Mauretanien und Algerien grenzt, handelt die Tonspur konsequent von einem Anderswo: von den Erinnerungen an die Zeit, als der Raum noch intakt war; vom Trauma der Vertreibung, von den Massakern und den zurückgelassenen Gräbern; von den Orten, an denen die Verschwundenen und Verschleppten zuletzt gesehen wurden; von dem ungebrochenen Anspruch auf die Aufhebung der Grenze. Gegen Ende des Films hören wir im Voice-over Telefongespräche mit jungen Frauen, die in den Städten auf der marokkanischen Seite leben, und die dort als Sahraui und wegen ihrer politischen Arbeit brutalen Schikanen ausgesetzt sind. Auch dort also, jenseits der Grenze, ist die Grenze.

Der sinnliche Raum dieses Films ist gefurcht vom erzwungenen Exil der Sahraui, von ihrem verzweifelten Insistieren auf der Rückgabe der verlorenen Gebiete und der Rückkehr der Verschwundenen. Wenn Tonspur und Bilder in territoire perdu unterschiedliche Geschichten zu erzählen scheinen, so entsteht dadurch kein Widerspruch in der Sache, sondern das Gefühl einer Zerrissenheit zwischen Wirklichkeit und Begehren, Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerung und Evokation. Ein Gefühl für das suspendierte Leben der Sahraui in einem Provisorium, das zum Dauerzustand wurde.

»The only thing I can do is fill the place with music.« (21)

Wie in den zuvor besprochenen Arbeiten geht es auch in TERRITOIRE PERDU nicht darum, etwas Verlorenes oder Verschwundenes sichtbar zu machen, sondern durch die Gestaltung des filmischen Raums ein Verständnis davon zu ermöglichen, wie die physischen, emotionalen und politischen Räume beschaffen sind, aus denen etwas verschwunden ist. Auf territoire perdu trifft in besonderer Weise eine Beschreibung zu, die Deleuze’ von dem »akustischen Kontinuum« gegeben hat, das hinter dem Sichtbaren ein autonomes Eigenleben führt:

In dem Maße wie [die akustischen Elemente] miteinander rivalisieren, einander überlagern, durchqueren und sich gegenseitig schneiden, bahnen sie sich einen Weg voller Hindernisse im visuellen Raum und machen sich vernehmbar, aber auch sichtbar ‒ als solche, unabhängig von ihren Quellen ‒, während sie uns das Bild ein wenig wie eine Partitur lesen lassen. (Deleuze2, 302)

Tatsächlich beschreibt Vandeweerd seine Arbeit als die Suche nach einer »Musikalität« [musicalité], in der die Tonspur nicht etwa nur einen zum Bild passenden Synchronton liefert, sondern gänzlich aus dem Bedeutungsfeld des potenziell Sichtbaren befreit ist. Das Potenzial des Akustischen liegt für Vandeweerd nicht in der Festigung der Evidenz des Sichtbaren, sondern in der Möglichkeit, das Unsichtbare zu evozieren.

Wenn dies bei TERRITOIRE PERDU zu einer Praxis geführt hat, für die sich Vandeweerd eine Reihe von ›Freiheiten‹ genommen hat, so geht es ihm dabei nicht darum, sich vom Gewicht der Realität und dem Druck einer gewissen Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit zu befreien. Vielmehr geht es darum, Praktiken und Techniken zu finden, in denen auch dasjenige eine Spur hinterlassen kann, was an dieser Realität gleichsam gewichtslos ist, flüchtig und unsichtbar, und was daher stets Gefahr läuft, in der dokumentarischen Praxis spurlos zu bleiben. Das Arbeiten an TERRITOIRE PERDU hat mir Vandeweerd als eine parallele »Ernte« [récolte], als ein »Sammeln« [collecte] von Bildern und Tönen beschrieben, bei dem er und sein Tonmeister Alain Cabaux zwar meist in der Nähe und in Sicht- und Rufweite zueinander waren, es jedoch nicht darum ging, den akustischen Raum so zu registrieren, dass er anschließend mit dem visuellen Raum in scheinbare Deckung gebracht werden könne. Jeder habe zwar eine recht gute Vorstellung davon gehabt, was der andere suchte, es habe aber keine Abhängigkeit gegeben. Einmal mehr scheint es hier um eine Frage des Vertrauens zu gehen – und auch um eine Frage der Kabel, denn der Wechsel von der digitalen zur analogen Bildproduktion in Vandeweerds Arbeit (seit LES DORMANTS, 2009) hat in gewisser Weise auch die technische Bindung zwischen Bild und Ton ein Stück weit gelöst. Sobald das Tonaufnahmekabel nicht mehr direkt in eine Videokamera laufe, wo Bild und Ton automatisch synchron aufgezeichnet würden, entstehe mehr Bewegungsfreiheit für beide. Wenn das Unsichtbare einen genauso interessiert, wie das Sichtbare, so Vandeweerd, wird man nicht nach den »passenden Tönen« [sons justes] suchen, sondern nach »bewohnten Tönen« [sons habités], nach Tönen, die den Zuhörer aus den Beschränkungen des Sichtbaren hinausführen, weil in ihnen womöglich das ein Asyl gefunden hat, was sich mit Bildern nicht erzählen lässt. (22)

Geräusche dieses Films: ein wie durch eine Röhre vernommenes Rauschen; ein sanft insistierendes Klopfen wie eine Fingerkuppe auf Holz oder wie das Schlagen eines Seils im Wind; das unstete Sendesignal des Sahrawi Arab Democratic Republic Radio; der gepresste Atem eines Schlafenden; ein metallisches Sirren wie das, welches man manchmal in der Nähe von Hochspannungsmasten hört; das scharrende Grundgeräusch in der Stimme eines alten Mannes, als würden sich an den Rändern des Grauenhaften, von dem er erzählt, unablässig Verwehungen bilden, die mit dem nächsten Satz wieder runtergeschluckt werden müssen. Wohin mit diesen Geräuschen in unserer Vorstellung? Wohin gehören sie im diegetischen Raum des Films, zu welcher Zeit, welchen Körpern, welchen Orten? In der Schlussszene sehen wir ein halbes Dutzend Kamele in einem Pferch, Planen flattern im Wind und in das Blöken der Kamele und das Gemecker von Ziegen mischt sich ein anschwellender Gesang menschlicher Klagegeräusche, ein vielstimmiger Schrei, mit dem Vandeweerd dem Nicht-Versöhnten das Feld überlässt. Auf diesen Schrei trifft zu, was Adorno einmal über den Schrei in der Neuen Musik geschrieben hat, dass er nämlich »nicht nur ein der Kommunikation sich Entziehendes« sei, »sondern objektiv auch der verzweifelte Versuch, die zu erreichen, welche nicht mehr hören.« (23)

Tobias Hering

Veröffentlicht in: Volko Kamensky, Julian Rohrhuber (Hg.), Ton. Texte zur Akustik im Dokumentarfilm, Verlag Vorwerk 8, Berlin 2013


1 – Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg/München 1987, S. 38.

2 – Günther Anders: Die molussische Katakombe, München 2012, S. 102. Im Folgenden: Anders.

3 – Vgl. Michel Chion: La voix au cinéma, Paris 1984.

4 – Programmbroschüre Forum/Forum Expanded, 62. Internationale Filmfestspiele Berlin (2012), S. 88.

5 – Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1997, S. 32. Im Folgenden: Deleuze1

6 – Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2006, S. 61. Im Folgenden: Rancière

7 – Direct Sound. An Interview with Jean-Marie Straub and Danièle Huillet, in: Elisabeth Weis, John Belton (Hg.): Film Sound, New York 1985, S. 150 -153, hier S. 152. Übersetzung aus dem Englischen vom Autor [Anm. d. Hg.: vermutliche Erstveröffentlichung: Enzo Ungari: Sur le son. Entretien avec J.-M. Straub et D. Huillet, in: Cahiers du cinéma H. 260/ H. 261 (1975), keine Seitenangabe].

8 – Man sollte versuchen, den Begriff ›Volk‹ ohne die im Deutschen fast zwangsläufige Konnotation des Völkischen zu lesen. Der von Deleuze verwendete Ausdruck ist »le peuple qui manque«.

9 – Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild: Kino 2, Frankfurt/Main 1997, S. 278f. (Hervorhebung im Original). Im Folgenden: Deleuze2

10 – »Il n’y a pas d’œuvre d’art qui ne fasse pas appel à un peuple qui n’existe pas encore.« Deleuze beruft sich mit dem Begriff des fehlenden Volkes auf eine Bemerkung Paul Klees, in der es um das anachronistische Verhältnis avantgardistischer Kunst zur Öffentlichkeit ging. Gemäß der Vorstellung, dass die eigene Arbeit ihre Legitimation erst vor einem zukünftigen Adressaten erheische, beschrieb Klee in seinem Jenaer Vortrag (1924) die Arbeit des Künstlers als ein vis-à-vis mit einem noch nicht versammelten ›Volk‹. Von dem Werk, an dem die Kunst seiner Zeit arbeite, gebe es nur erst Teile, es müsse noch wachsen. »Wir müssen es noch suchen … Wir haben noch nicht diese letzte Kraft, denn: uns trägt kein Volk. Aber wir suchen ein Volk […]«; vgl. Thomas Kain (Hg.): Paul Klee in Jena 1924. Der Vortrag, Jena 1999, S. 69. In Qu’est-ce que l’acte de création? (obiges Zitat; Quelle: www.webdeleuze.com ‒ Abfrage November 2012), einem 1987 vor Filmstudenten gehaltenen Vortrag, weist Deleuze auf die ambivalente zeitliche Zuschreibung in Klees Formulierung hin, denn indem das gesuchte Volk adressiert werde, sei es in diesem Akt ja bereits anwesend: »Das Volk fehlt und gleichzeitig fehlt es nicht«. Im Begriff des fehlenden Volkes, wie ihn Deleuze in seinem zweibändigen Werk über das Kino verwendet, finden sich dann beide Zeitbezüge explizit verschränkt: ein Volk das »nicht mehr oder noch nicht existiert«; vgl. Deleuze2, 279. Für erhellende Diskussionen über diesen Gedankengang Deleuzes danke ich Maria Iorio und Raphaël Cuomo.

11 – Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: ders.: Illuminationen, Frankfurt/Main 1961, S. 409-436, hier S. 409.

12 – Dieser Bildaufbau kann auch als ein Zitat der akusmatischen Ur-Szene gesehen werden, auf die Michel Chion wiederholt Bezug genommen hat, nämlich die pythagoreische Lehrsituation, in der Schüler und Lehrer durch einen Vorhang voreinander verborgen bleiben.

13 – Diese Beschreibung geht davon aus, dass der Zuhörer Arabisch versteht und den Erzählungen folgen kann, ohne Untertitel lesen zu müssen.

14 – James Joyce: Ulysses, Frankfurt/Main 1975, S. 53.

15 – Georges Didi-Huberman: Was wir sehen, blickt uns an. Zur Metapsychologie des Bildes, München 1999. Im Folgenden: Didi-Huberman.

16 – Wohl hören wir gelegentlich Stadtgeräusche, die unbestimmte, aber präsente Atmo eines Raumes, in dem womöglich die Fenster geöffnet sind, der jedenfalls in Hörweite eines Draußen liegt. Bei dem reduzierten Angebot an Evidenzen, das videomappings dem zuhörenden Betrachter macht, sind diese akustischen Details von einiger Bedeutung. Sie helfen, sich um die reduzierte Räumlichkeit der Zeichnungen einen realen und sozialen Raum vorzustellen, und sie bestärken das Gefühl, dass die Reduktion kein komplizierter, sondern ein sehr einfacher und in gewisser Weise nahe liegender Kunstgriff war.

17 – Nur für das Gespräch mit dem Freund, gegen den ein Strafverfahren wegen seiner angeblichen Beteiligung an einem Anschlag auf eine Bundeswehrkaserne läuft, verwendet Scheffner ab und zu Synchronton, so dass wir ihn selbst und seinen Freund als Sprechende identifizieren können. Auch darin liegt eine Umkehrung der Sichtbarkeitsverhältnisse, die das dokumentarische Arbeiten üblicherweise bestimmen, denn man hätte erwarten können, dass gerade dieser Sprecher wegen des anhängigen Strafverfahrens anonymisiert worden wäre. Stattdessen genau anders herum, und anders herum auch das Bild, das uns einmal nicht die trügerische deutsche Landschaft zeigt, sondern die beiden Freunde bei ihrem Hobby, der Vogelbeobachtung. Wenn das Gespräch immer wieder zu einem Flüstern wird, so nicht wegen der Brisanz des Gesagten, sondern um die Vögel nicht zu verscheuchen, die in diesem Film für die lebensnotwendige Möglichkeit stehen, in dem, was uns gezeigt wird, etwas ganz anderes zu sehen.

18 – Jacques Derrida: Marx‘ Gespenster, Frankfurt/Main 1996, S. 110.

19 – Pierre-Yves Vandeweerds Filmographie umfasst bis dato (Stand: Ende 2012) die Filme RACINES LOINTAINES (B 2002), CLOSED DISTRICT (B 2004), LE CERCLE DES NOYÉES (B, F 2007), LES DORMANTS (B, F 2009) und TERRITOIRE PERDU (B, F 2011). Sie sind alle in Afrika entstanden oder führen dorthin, wobei vor allem Mauretanien und die westliche Sahara den geographischen und politischen Kontext von Vandeweerds Arbeit prägen.

20 – Ich beziehe mich hier und im Folgenden gelegentlich auf Gespräche, die ich seit 2011 mit Pierre-Yves Vandeweerd bei verschiedenen Gelegenheiten geführt habe, und erlaube mir, einige seiner Formulierungen sinngemäß zu zitieren.

21 – Richard Skelton: Landings, Sustain Release (ohne Ort) 2010, S. 21. Mit einer Komposition aus Richard Skeltons experimentellem Zyklus Landings ist in TERRITOIRE PERDU eine lange Sequenz unterlegt, in der wir eine Serie flüchtig eingefangener Portraits zu sehen bekommen – Männer und Frauen verschiedenen Alters, deren Köpfe und Gesichter jedoch von Tüchern und Sonnenbrillen verhüllt sind. In der Erzählung des Films scheint diese Sequenz mit ihrer schlingernden, glucksenden Musik den Übergang von der Trauer zum Widerstand vorzubereiten.

24 – Auch diese Zitate (vgl. Fn. 20) sind Gesprächen entnommen, die ich mit Pierre-Yves Vandeweerd geführt habe und die zwar aufgezeichnet, jedoch bislang nicht veröffentlicht wurden.

23 – Theodor W. Adorno: Einleitung zur Musiksoziologie, in: ders.: Gesammelte Schriften, Band 14, Frankfurt/Main 1973, S. 286.