Filme aus dem Archiv der Kurzfilmtage Oberhausen, deren Geschichte noch nicht geschrieben ist
Im März 2021 wurden auf arsenal3, dem Online-Programm des Kino Arsenal, Filme aus dem Archiv der Kurzfilmtage Oberhausen gezeigt, deren Kopien Seltenheitsstatus haben und die deshalb im Zuge des Projekts re-selected digitalisiert wurden.
Das Filmkopienarchiv der Kurzfilmtage Oberhausen ist ein „Preisträgerarchiv“, das heißt dass sich die Existenz der dort verwahrten Kopien in aller Regel der Tatsache verdankt, dass der Film von der internationalen Festivaljury oder einer der als bedeutend geltenden unabhängigen Juries mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Die Existenz einer Filmkopie im Archiv lässt sich also immer als Beleg für eine Wertschätzung verstehen, die dem jeweiligen Film in einem bestimmten Moment und Kontext entgegengebracht wurde. Nicht immer war der Archivkopie damit jedoch eine dauerhafte Aufmerksamkeit garantiert. Während einige Kopien zumindest zeitweise für Filmprogramme bei Filmclubs oder Bildungsträgern im Umlauf blieben, andere als Meilensteine der Festivalgeschichte in Retrospektiven gezeigt wurden, blieben wieder andere Kopien weitgehend unbemerkt.
Zwei der für „Odd Ones Out“ ausgewählten Filme sind sowohl in Oberhausen, als auch im Arsenal archiviert, was auf die oft parallel verlaufende Programmarbeit beider Institutionen verweist. Hinzu kam ein Film des schwedischen Autodidakten Sven Elfström, dem es nie gelang, einen Film nach Oberhausen zu bekommen. Wenn auch nicht alle der sechs ausgewählten Filme in der Vergangenheit völlig unbemerkt geblieben sind, so sind es Filme, deren Geschichte noch nicht wirklich geschrieben ist.
WASEYAT RAGOL HAKIEM von Daoud Abdel Sayed
dt Titel: Ratschläge eines alten, weisen Mannes zu Fragen des Dorfes und der Bildung
Ägypten, 1976, 19 Minuten, 16mm digitalisiert, Farbe, OmeU
Im Februar 1978 wurden den Kurzfilmtagen Oberhausen in einem Telegramm von Ronald Trisch, dem Leiter der Leipziger Dokumentarfilmwoche, zwei „ägyptische Filme“ zur Ansicht angeboten, darunter „Rat eines weisen Mannes“, der dort 1977 gelaufen war. Der kollegiale Wink war willkommen, denn die Kurzfilmtage bemühten sich in dieser Zeit verstärkt um Filme aus afrikanischen Ländern, ohne jedoch auf dem Kontinent über gewachsene Kontakte zu verfügen.
WASEYAT RAGOL HAKIEM lief dann auch 1978 in Oberhausen und wurde mit einem „Ehrendiplom“ der Internationalen Volkshochschuljury ausgezeichnet. Er ist heute einer der wenigen ägyptischen Filme im Archiv der Kurzfilmtage. Der Film thematisiert den Paternalismus gegenüber der Landbevölkerung, indem er eine dokumentarische Erzählung über eine erfolgreiche Bildungsinititative mit einer missgünstigen Kommentarstimme unterlegt, die sich als Persiflage auf den „weisen Mann“ des Titels entpuppt: Während das Bildmaterial die jungen Lehrer als moderne Helden präsentiert, steigert sich der Kommentator mehr und mehr in polemische Entgleisungen gegen sie.
Für die Kurzfilmtage kam 1978 über das Kairoer Goethe-Institut eine 35mm Kopie ohne Untertitel nach Oberhausen. Der deutsche Text wurde vermutlich während der Vorstellung eingesprochen. Im Anschluss an das Festival schien unklar, wohin man die Kopie zurückschicken müsse. Aus Korrespondenzen mit dem Goethe-Institut geht hervor, dass man in Oberhausen annahm, der Film sei von Zensur bedroht, da unterdessen die Produktionsfirma (gezwungenermaßen, wie man glaubte) aufgelöst worden war und der Regisseur Daoud Abdel Sayed angeblich in Rumänien im Exil lebe. Man entschied sich, die Kopie zunächst in Oberhausen zu behalten. Als jedoch Daoud selbst beim Goethe-Institut vorstellig wurde und nach dem Verbleib der „einzigen Kopie“ seines Films fragte, drängte das Goethe-Institut auf Rückversand.
Aus der Laufkarte der Kopie geht hervor, dass die Kurzfilmtage dieser Bitte zwar nachkamen, zuvor jedoch von der 35mm-Kopie im Kopierwerk HaDeKo eine 16mm-„Klatschkopie“ anfertigen ließen, also eine Kopie von der Kopie. Diese verblieb ‒ ohne das Wissen des Regisseurs, wie Recherchen der Kuratorin Alia Ayman ergaben ‒ als Archivkopie in Oberhausen. Ihr erster Einsatz war die 27. Internationale Filmwoche Mannheim 1978, wo WASEYAT RAGOL HAKIEM im Rahmen einer „Retrospektive des afrikanisch-arabischen Films“ gezeigt wurde. Heute ist die Oberhausener Kopie die einzig verfügbare Kopie des Films. Im Rahmen von re-selected wurde sie 2019 auf den 65. Oberhausener Kurzfilmtagen gezeigt und anschließend im Einvernehmen mit Daoud Abdel Sayed digitalisiert. Die englische Untertitelung besorgte Alia Ayman, die auch wesentlich zu en Recherchen beitrug.
Text: Tobias Hering. Dank an Alia Ayman.
ASOZIALE von Gernot Eigler
BRD 1970, 35 min, s/w, 16mm digitalisiert
Arme Leute werden oft als Asoziale bezeichnet. Gernot Eigler lässt in seinem Film einige von ihnen zu Wort kommen. Nachkriegsverlierer, Stützeempfänger, Trebegänger, „Barackler“ beschreiben ihre Situation. Schon dadurch – und im Kontrast zu den Reden derjenigen, die sich des „Problems“ administrativ annehmen – ergreift der Film Partei. Gesellschaftliche Fragen kommen zur Sprache. Im Kommentar werden Begriff und Geschichte des „Asozialen“ kritisch auseinandergenommen.
Dieser einzige erhaltene frühe Film des Mannheimers Gernot Eigler entstand 1970 als Beitrag für eine TV-Reihe „Armut in Deutschand“ des SWF. Redakteur war Jörg Dattler, er ließ Gernot Eigler freie Hand. Eigler – Arzt, Psychiater und Arbeitsmediziner – hielt sich zu dieser Zeit, um 1969/70, aus privaten und beruflichen Gründen viel in Aachen und Köln auf. Zum Filmen ermunterten ihn Freundschaften, die er im Umfeld des „Filmstudio der TU Aachen“ knüpfte. Er wohnte in Köln mit dem Filmemacher Hans-Peter Kochenrath zusammen, einem Mitgründer der Kölner XScreen-Gruppe, deren Einfluss wiederum in dem studentischen Filmclub in Aachen einen Kreis um Rolf Thissen, Cyrus Kube und Werner Sünkel ermunterte, sich dem provokativen, experimentellen Kino zuzuwenden.
Für ASOZIALE – wie vermutlich auch für seine früheren Kurzfilme – konnte Eigler auf die Ausrüstung des relativ gut ausgestatteten Aachener „Filmstudios“ zurückgreifen. Bei der Realisierung half ihm u.a. Cyrus Kube, der ebenfalls einen Film für die genannte SWF-Reihe drehte, mit dem Titel Alleinstehende Mütter. Gernot Eigler drehte anschließend bis Mitte der 1980er Jahre in seinen Urlaubsarbeitspausen weitere Filme für ZDF und SWF.
Dass ASOZIALE erhalten geblieben ist – während die übrigen frühen Filme von Gernot Eigler als verloren gelten müssen – ist der Tatsache zu verdanken, dass der Film 1971 bei den Oberhausener Kurzfilmtagen gezeigt und von der Jury der Filmothek der Jugend ausgezeichnet wurde. Eine Kopie blieb in Oberhausen. Die Laufkarte dieser Kopie belegt, dass sie in den ersten Jahren ihrer Archivierung regelmäßig angefragt wurde, meist von kommunalen Jugendämtern und Jugendbildungseinrichtungen. Eine weitere Kopie im Filmkundlichen Archiv Leo Schönecker in Köln wurde vor nicht allzu langer Zeit wegen Essigsyndroms beseitigt.
Text und Recherche: Peter Hoffmann
ASOZIALE auf dem Channel der Kurzfilmtage Oberhausen, mit einem Videogespräch zwischen Peter Hoffmann und Cyrus Kube.
SUEUR von Amor Nagazi
dt. Titel: Schweiß
Tunesien, 1986, 13 Minuten, Super-8 digitalisiert, Farbe, ohne Dialoge
SUEUR ist einer von nur zwei Filmen, die im Archiv der Kurzfilmtage Oberhausen als 8mm-Kopien verwahrt sind. Er wurde auf den 34. Kurzfilmtagen 1988 im Wettbewerb gezeigt, nachdem Amor Nagazi ihn, wie er sich erinnert, auf Eigeninitiative eingereicht hatte. Die Jury der internationalen Filmkritik, FIPRESCI, zeichnete SUEUR mit einem Zweiten Preis aus, was gemäß Festivalreglement zum Ankauf der Kopie für das Archiv führte.
Regisseur Amor Nagazi war damals Mitglied des Amateurfilmclubs seiner Heimatstadt Kairouan. SUEUR war sein erster Film und er drehte ihn auf Super-8 mithilfe eines kleinen Teams von Freunden aus dem Filmclub. Der Film dokumentiert Schritt für Schritt die handwerkliche Herstellung von Lehmziegeln, aus denen nicht nur die meisten Gebäude von Kairouan, sondern auch die imposante Stadtmauer einst gebaut wurden. Nagazi konzentriert sich auf die unaufdringliche Beobachtung der schweren, gleichzeitig versierten körperlichen Arbeit.
„Ein in sich geschlossener Film, der ganz ohne erklärende Kommentare und Erläuterungen auskommt“, schrieb der Filmkritiker Werner Kobe im Berichtsheft der Kurzfilmtage Oberhausen 1988. Kobe erwähnt in seiner Rezension auch den speziellen Kontext der Fédération Tunisienne des Cinéastes Amateurs (FTCA, Verband der tunesischen Amateurfilmemacher): „[Nagazi] gehört zu einer Gruppe junger Filmemacher, die immer noch vorwiegend mit Super-8 arbeitet. Ein eigenes Filmfestival in Kelibia wird von ihnen im zweijährigen Turnus (alternierend mit dem „großen“ arabischen Filmfestival in Tunis) ausgerichtet. Hier zeigen sie ihre Arbeiten, treffen sich mit Amateurfilmern nicht nur des arabischen Raums. Die meisten der heute bekannteren Namen des tunesischen Kinos haben in dieser Vereinigung der Amateurfilmemacher begonnen, ihr filmisches Handwerk zu lernen.“ Sowohl die FTCA, als auch das von ihr ausgerichtete Festival International du Film Amateur in Kelibia bestehen weiterhin. Auch dort war SUEUR 1986 ausgezeichnet worden, mit dem Preis für die beste Regie.
Amor Nagazi blieb aktiv in der Amateurfilmszene Tunesiens, gründete die Association 7e art de Kairouan, die viele Jahre ein eigenes Filmfestival ausrichtete, das Festival International du Film de l’Environnement, das Umweltschutzthemen gewidmet war.
Aufgrund des Produktionshintergrunds und des Drehformats Super-8 ist davon auszugehen, dass es sich bei der Oberhausener Kopie von SUEUR um das „Original“ handelt. Nach Auskunft von Amor Nagazi hat das Goethe-Institut seinerzeit mehrere 16mm-Kopien von dem Film hergestellt, von denen sich eine in seinem Besitz befindet. Der Verbleib der übrigen Kopien ist ungeklärt.
Text: Tobias Hering. Dank an Maria Iorio, Raphaël Cuomo und Ridha Ben Halma für zusätzliche Recherchen sowie an Amor Nagazi.
UTVECKLING? von Sven Elfström
engl. Titel: Progress?
Sweden, 1971, 5 Minuten, 16mm digitalisiert, Original: Farbe (Kodachrome, reversal film stock), Lichtton, Mono.
Sven Elfström war hauptberuflich Industriearbeiter. Zunächst war er als Schweißer bei einer Werft in Uddevalla beschäftigt, später zog er in die Industriestadt Nynäshamn südlich von Stockholm, um in einer Produktionsstätte der staatlichen Telefongesellschaft Televerket zu arbeiten.
Elfström begann 8-mm-Filme in einem Amateur-Filmclub in Uddevalla zu drehen. Nach seinem Umzug nach Nynäshamn kaufte er sich eine 16-mm-Kamera. Die meisten seiner elf 16-mm-Filme wurden in Nynäshamn gedreht. Familienmitglieder und Freunde agierten darin als Darsteller*innen.
Aufgrund der Produktionsbedingungen kann Elfström als Autorenfilmer bezeichnet werden. Seine Filme waren selbst finanziert, er führte Regie, war der Kameramann und für den Schnitt verantwortlich. Oft drehte er auf Umkehrfilm, als kostengünstigste Form, einen Film zu drehen. In den meisten Fällen existieren deshalb weder ein Negativ noch weitere Filmkopien, sondern lediglich das geschnittene Umkehroriginal, das auch projiziert wurde. In UTVECKLING? wurden die Anfangs- und Endtitel mit einer Klebestelle angefügt. Darüber hinaus finden sich im Original zwei weitere Klebestellen relativ zu Beginn des Films, wo acht Einzelbilder in eine schnell ablaufende Bildfolge eingefügt wurden.
Neben UTVECKLING? stellte Elfström 1971 zwei weitere Filme fertig: einen Dokumentarfilm über die Arbeiter in der Werft in Uddevalla und DEN FÖRTVIVLADE INTELLEKTUELLE REVOLUTIONÄREN MED SINA BORGERLIGA COMPLEX, eine 16-minütige Satire über die verzweifelten Befreiungsversuche eines bourgeoisen Intellektuellen – ein Film, mit dem Elfström vergeblich die schwedische Auswahlkommission der Kurzfilmtage Oberhausen zu überzeugen versuchte.
UTVECKLING? beginnt mit einer scharfen Kritik am Kapitalismus, der Konsumgesellschaft und der Ausbeutung der Welt durch den Menschen. Mit einer in einem Wald aufgenommenen Sequenz ändert sich dann abrupt die Geschwindigkeit des Films und die Aufmerksamkeit richtet sich auf die Natur. Im letzten Teil ist Elfström’s Frau Maj-Britt beim Brotbacken zu sehen.
Das 16-mm-Umkehroriginal von UTVECKLING? sowie Elfströms selbst veröffentlichte Romane und Kurzgeschichten befinden sich im regionalen Archiv der schwedischen Provinz Värmland. Die digitale Kopie entstand auf private Initiative in Zusammenarbeit mit Filmform (Stockholm).
Text: John Sundholm, der den Film auch für das Programm ausgewählt hat.
LA ZONA INTERTIDAL von Grupo los Vagos (Guillermo Escalón, Marie-Noëlle Fontan, Lyn Sorto, Manuel Sorto)
dt. Titel: Die Zwischenzone
El Salvador, 1980, 16mm digitalisiert, 15 Minuten, Farbe
LA ZONA INTERTIDAL entstand in einer Zeit, als in El Salvador staatliche und paramilitärische Terrorakte an der Tagesordnung waren und die internationale Wahrnehmung des Landes prägten. Anstelle der Agitprop-Montagen, die das politische Kino Lateinamerikas der 60er und 70er Jahre geprägt hatten, dominiert diesen Film das Gefühl einer trügerischen Ruhe: ein Strand, auf den Wellen schwappen, ein Lesender in einer Hängematte, zwei Männer im Gespräch… Die Gewalt, die in diese Szenen einbricht, wird mehr angedeutet, als dargestellt. Erst eine abschließende Texttafel, die den Film den ermordeten Lehrern El Salvadors widmet, stellt einen eindeutigen politischen Kontext her.
LA ZONA INTERTIDAL lief 1982 auf den Kurzfilmtagen Oberhausen und wurde dort mit einem der Hauptpreise der Internationalen Jury ausgezeichnet. Als Autor des Films war im Festivalprogramm eine „Grupo los Vagos“ aufgeführt, was für ein vierköpfiges Kollektiv stand, das seit 1969 als Theaterkollektiv Taller de Los Vagos zusammengearbeitet hatte und später zur Filmarbeit übergegangen war: Guillermo Escalón, Marie-Noëlle Fontan, Lyn Sorto und Manuel Sorto. Die Gruppe stand dem ERP (Ejército Revolucionario del Pueblo / Revolutionäre Volksarmee) nahe und drehte unter anderen Namen – Cero a la Izquierda und später Sistema Radio Venceremos – auch Filme in dessen Auftrag. Guillermo Escalón erinnert sich, dass LA ZONA INTERTIDAL zwar auf den Filmfestivals in Havana und Oberhausen sehr positiv aufgenommen wurde, von den meisten Genossen des ERP jedoch als „esoterisch“ kritisiert und als „Marihuanada“ bezeichnet wurde.
Sowohl bei den Kurzfilmtagen Oberhausen, als auch beim Arsenal ‒ Institut für Film und Videokunst ist eine 16mm-Kopie des Films archiviert. Die Kopien unterscheiden sich ‒ abgesehen von ihrem unterschiedlichen Alterungsgrad ‒ in den Abspännen: während in der Oberhausener Kopie die Namen der Kollektivmitglieder genannt werden, fehlt diese Texttafel im Abspann der Arsenal-Kopie.
In Oberhausen hat LA ZONA INTERTIDAL zwei Kopienlaufkarten, deren Einträge darauf schließen lassen, dass die Festivalkopie, die 1982 auf den Kurzfilmtagen gezeigt wurde, aus dem Bestand der Freunde der deutschen Kinemathek (also dem heutigen Arsenal) kam. Nachdem der Film auf den Kurzfilmtagen ausgezeichnet worden war, erwarb offenbar auch Oberhausen eine Archivkopie, die ab August 1982 vorlag. Die erste Kopie wurde Ende 1982 „engdültig“ an die Freunde der deutschen Kinemathek zurück gesandt, wo sie bis heute verwahrt wird. Wann und unter welchen Umständen sie in die Sammlung der „Freunde“ gekommen war, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.
Seit September 2017 widmen Luciano Piazza und Jesse Lerner beim Los Angeles Film Forum eine Serie von Programmen dem lateinamerikanischen Experimentalfilm unter dem Titel „Ism, Ism, Ism: Experimental Cinema in Latin America“. Im Zuge ihrer Bemühungen wurden neu lichtbestimmte Kopien von LA ZONA INTERTIDAL hergestellt. Dies ermöglichte den Erwerb weiterer 16-mm-Kopien für die Archive des Arsenal ‒ Institut für Film und Videokunst und der Kurzfilmtage Oberhausen im Rahmen von „Archive außer sich“. Das 16-mm-Original-Kameranegativ wurde von Guillermo Escalón bereitgestellt.
Text: Tobias Hering, Markus Ruff. Dank an Guillermo Escalón.
LIBER ARCE – LIBERARSE von Mario Handler
Uruguay, 1969, 9:30 Minuten, 16mm digitalisiert, s/w
LIBER ARCE – LIBERARSE gehört zu der recht großen Zahl von Filmen, von denen Kopien sowohl im Archiv der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, als auch des Arsenal – Institut für Film und Videokunst verwahrt sind. Der Film lief 1971 auf den Kurzfilmtagen in Oberhausen. Bereits im Vorjahr waren dort zwei Filme von Mario Handler zu sehen gewesen: EL PROBLEMA DE LA CARNE (Das Problem des Fleisches, 1969) und ME GUSTAN LOS ESTUDANTES (Ich mag die Studenten, 1968). Liber Arce ist der Name eines Studenten, der bei Protesten in Montevideo von der Polizei getötet worden war. Sein Begräbnis wurde zur größten Demonstration, die die Stadt bis dahin erlebt hatte. Der Film dokumentiert die Ereignisse vor und nach dem Begräbnis. Der Titel verwandelt den Namen des Getöteten in einen Aufruf: liberarse, sich befreien.
In Oberhausen nahm die Internationale Jury der Arbeitsgemeinschaft der Filmjournalisten LIBER ARCE – LIBERARSE zum Anlass, „Mario Handler und sein Filmkollektiv“ ex aequo mit dem Kolumbianer Carlos Alvarez und dessen Kollektiv mit Geldpreisen auszuzeichnen. In der Begründung heißt es, dass der Preis „nicht aus filmkritischen oder anderen fragwürdigen ästhetischen Kategorien vergeben worden“ sei, sondern, dass es „ein politischer Preis“ sei, der beiden Kollektiven „den nächsten Schritt in ihrem Kampf“ ermöglichen solle. Die Auszeichnung war vermutlich der Anlass, die Kopie für das Festivalarchiv zu erwerben.
LIBER ARCE – LIBERARSE wurde 1973 in den Verleih der Freunde der Deutschen Kinemathek (heute: Arsenal – Institut für Film und Videokunst) aufgenommen. Weitere Titel von Mario Handler im Verleih waren ELECCIONES (Wahlen, Co-Regie Ugo Ulive, 1967) sowie die bereits erwähnten EL PROBLEMA DE LA CARNE und ME GUSTAN LOS ESTUDANTES.
Im Jahr 2015 ermöglichte eine Förderung des uruguayischen Ministeriums für Bildung und Kultur die Restaurierung der zwischen 1964 und 1973 entstandenen Filme von Mario Handler. Das Projekt wurde maßgeblich von dem 2019 verstorbenen Filmkritiker und -kurator Jorge Jellinek in Zusammenarbeit mit Karin und Mario Handler geleitet.
Die Entscheidung, sich im Rahmen von „Archive außer sich“ an der Restaurierung von LIBER ARCE – LIBERARSE und ME GUSTAN LOS ESTUDIANTES zu beteiligen, führte zu einer Kooperation zwischen den uruguayischen Partner*innen sowie dem Arsenal und den Kurzfilmtagen Oberhausen. Im Zuge der Recherchen zu möglichen Ausgangsmaterialien erwiesen sich die 16mm-Archivkopien des Arsenal und der Kurzfilmtage als geeignet. Ergänzend fanden sich im Bundesarchiv–Filmarchiv 16-mm- und 35-mm-Dupnegative von LIBER ARCE – LIBERARSE.
Die digitale Restaurierung der Filme erfolgte 2018 und 2019. Zu ihrer Sicherung wurden außerdem neue 35-mm-Negative sowie Filmkopien hergestellt.
Text: Markus Ruff