
Dem politischen Kino ist das Publikum abhanden gekommen. Ohne Publikum lässt sich aber das „Politische“ nicht denken, es gibt also das politische Kino nicht mehr. Was es stattdessen gibt, sind Dokumentarfilmer, Medienaktivistinnen, Videokünstler, deren Arbeit von politischen Anliegen motiviert ist und die sich frei zwischen dokumentarischen Formen, Experimentalfilm und Aktivismus bewegen. Es mangelt nicht an Filmen und Videos, die Klischees entlarven, Regeln brechen und Wirklichkeiten sichtbar zu machen, welche dem dominanten Bildregime widersprechen. Aber sichtbar für wen? Und wessen Klischees, wessen Regeln? Kommen diese „Gegen-Bilder“ dem Bildregime überhaupt nah genug, um ihm in die Parade fahren zu können? Ins Kino kommen sie jedenfalls nicht mehr.
Was eigentlich alle angeht – und nichts anderes meint „politisch“ –, findet vor kleinen, meist homogenen Teilöffentlichkeiten statt. In Ausstellungen, Workshops und Themenabenden, oder allenfalls auf Kunstbiennalen und Filmfestivals, die zwar ein größeres Publikum anziehen, sich als saisonale Events mit einer kuratorischen Handschrift aber eher durch ihren Ausnahmecharakter profilieren. Nicht nur das Publikum ist auf unzählige Nischen verteilt, auch die Filme und Videos sind in eine Distanz zueinander gerückt, aus der es schwer ist, ein gemeinsames Anliegen zu formulieren, oder vorhandene Gegensätze in einen fruchtbaren Konflikt treten zu lassen. Allenfalls dass ein Kurator einmal ein Nebeneinander inszeniert, aber nicht für die Masse, sondern für ein Publikum, das an solchen Programmen ein spezielles Interesse hat. Der Kurator der Masse ist der Markt.
Die Masse ist der Aggregatzustand von Politik und sie war auch von Anfang an das Milieu des Kinos. Dass sie der politischen Filmarbeit verloren geht, ist daher ein elementares Dilemma. Um das Verhältnis zwischen Kunst, Politik und Masse ging es Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Er schrieb seinen wohl bekanntesten Text, als die Kunst mit dem Film ein Medium hervorgebracht hatte, das sich an ein Massenpublikum richtete und daher auf der Höhe seiner Zeit war. Der bürgerlichen Kritik war das Kino wegen seiner Allianz mit der Masse suspekt. Benjamin dagegen lebte auf bei dem Gedanken, Avantgarde und Masse könnten am gleichen Strang ziehen: „Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen. Und zwar ist der entscheidende Umstand dabei: nirgends mehr als im Kino erweisen sich die Reaktionen der einzelnen, deren Summe die massive Reaktion des Publikums ausmacht, von vorneherein durch ihre unmittelbar bevorstehende Massierung bedingt. Und indem sie sich kundgeben, kontrollieren sie sich.“ Das Publikum ein wogender Leviathan, der im Begriff stand, das Kino zu verlassen und die Welt zu verändern. Film war ein revolutionäres Medium, darin waren sich alle einig – die ihn verdammten und die ihn feierten.
Benjamin war womöglich der letzte, der trotz aller Widersprüche von der „gesellschaftlichen Bedeutung des Films“ tout court schreiben konnte. Gerade in ihrer widersprüchlichen Realität waren Film und Kino ja ein authentischer Ausdruck der Zeit. Benjamin hatte das Werben des Faschismus um die Masse klar vor Augen und er idealisierte auch die Rolle, die das Kino dabei spielte, keineswegs. Hätte er sich jedoch, wie die bürgerliche Kritik seiner Zeit, einer distinguierenden Nomenklatur bedient, hätte er zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Skandalfilm, Propaganda und Show-Kino unterschieden, so hätte er womöglich die Widersprüche umgangen, aber seine Argumentation auch um ihren revolutionären Elan gebracht. Nur indem er das Ganze einfordert, indem er Kino und Masse zusammen denkt und niemanden in spezialisierte Nischen entlässt, kann er glaubhaft machen, dass Film nicht nur dann und wann, sondern von Anfang an und in all seinen Formen ein Politikum ist.
Ganz anders heute, ich sage „wir“. Wir misstrauen dem Massenpublikum, oder genauer: wir misstrauen dem, was sie sich versammeln lässt, also hier dem Film. Ein Film, der vor einer Masse „funktioniert“, ist politisch und künstlerisch kompromittiert. Dabei haben wir die Sehnsucht nach der Masse keineswegs aufgegeben. Wenn wir einen Film sehen, bei dem wir spüren, dass er Sehen und Handeln verändern kann, dann wünschen wir uns, er käme groß in die Kinos, wo ihn alle sehen würden, damit sich endlich mal wirklich was ändert. Aber die Masse ist davon gelaufen, so denken wir, betreibt Starkult und lässt sich berieseln, anstatt nachzudenken und aktiv zu werden. In den Studiokinos, Galerien und Hochparterres schärfen wir unsere Kritik an Filmen, die die Masse keine fünf Minuten ertragen würde. Denken wir. Aber hat denn wirklich die Masse den politischen Film aufgegeben? Hat nicht vielmehr der politische Film die Masse aufgegeben?
Wenn wir das nicht auf uns sitzen lassen wollen, wenn wir darauf bestehen, dass die Abwesenheit der Masse unter uns eine unverheilte Wunde bleibt, dann müssen wir uns auch eingestehen, dass viele der Orte, die wir dem politischen Film schaffen, Trauerorte sind. Sie sind durchzogen vom Phantomschmerz der Abwesenheit. Es fehlt jemand, in diesem Fall Viele. Wir sollten Fünfzigtausend sein, sind aber nur Fünfundzwanzig. Trauerorte sind familiäre Orte, wo sich die Anwesenden kennen, oder im Laufe des Abends wieder erkennen – an ihrer Sprache, ihrem Habitus, der Ernsthaftigkeit ihrer Argumente oder der Sehnsucht ihres Tanzes. Es sind nicht immer Trauerfeiern, die an den Trauerorten stattfinden, es werden dort auch Feste gefeiert, zukünftige Projekte diskutiert und spontane Aktionen geplant.
Ich versuche hier eine Vielzahl disparater Erfahrungen zueinander zu bringen, die ich über die Jahre mit politischer Filmarbeit gemacht habe, und die meist alles andere als freudlos waren. Vielleicht ist Trauer daher eine missverständliche Referenz. Unsere Trauer ist nicht wehleidig, sondern ein ernsthafter und auch aufrichtiger Umgang mit dem Verlust von Utopien, der sich durchaus vereinbaren lässt mit dem Glauben, dass sich das Blatt noch einmal wenden lässt. Aber auch diese Trauer hat ihre Rituale, in unserem Fall Formate und Räume, Sprachen, in denen man redet, und Uhrzeiten, zu denen man sich trifft. So offen und flexibel unsere Treffen sind, so zeichnet sie doch eines aus: würde die Abwesende plötzlich auftauchen, so bliebe sie für uns ein Gespenst. Wir haben uns angewöhnt, über sie zu reden, und haben darüber fast verlernt, mit ihr zu reden. Wie können wir sicher sein, dass die Masse die Sprache unserer Filme versteht?
Diese Provokation ist nicht neu und an einigen Filmen und Kritikformaten zielt sie vorbei. Aber das Dilemma, dass, wenn man den Markt umgeht, man meist auch die Masse verpasst, ist durch die Etablierung von kritischen, nicht-kommerziellen Teilöffentlichkeiten nicht gelöst. Diese sind Ausdruck einer Krise der Kritik und sie können zu deren Bewältigung nur beitragen, solange in ihnen ein Stachel spürbar ist. Denn auf Dauer macht es nicht satt, Politik im kleinen Kreis zu diskutieren. Politische Filme sind stets umgeben von den Gespenstern der Abwesenden, die sie nicht zu sehen bekommen – weil sie nicht davon erfahren haben, weil ihnen gesagt wurde, sie verstünden eh nichts, weil sie sich das Ticket nicht leisten konnten, weil sie zu müde waren, weil sie im Knast sitzen, weil sie tot sind, oder weil sie abgeschoben wurden, bevor ihre Sache eine Öffentlichkeit bekommen konnte.
Wenn es politischen Filmen und der Arbeit mit ihnen gelingt, die Abwesenden an den Tisch zu holen, dann wird das Reden im kleinen Kreis weniger traurig und die Feste haben ein offenes Ende. Im Kino des Thailänders Apichatpong Weerasethakul zum Beispiel sitzen die Abwesenden immer mit am Tisch (in seinem letzten Film Uncle Boonmee werden sie sogar sichtbar). Das Berliner Künstlerduo bankleer gibt uns in seinen Videos mit dem Zombie eine Maske in die Hand, hinter der wir unsere eigene Abwesenheit in den Kalkülen der Macht durchspielen können. Viele politische Filme und Videos betreiben derzeit eine Archäologie enttäuschter Utopien. Wenn sie gut sind, dann tun sie das aber nicht aus Nostalgie, sondern weil sie wissen, dass man in einer Welt, mit der man sich nicht abfinden kann, den Siegern misstrauen sollte. Filme daher über die Opfer von unsichtbaren Kriegen und ihr Fortleben in der Revolte der Überlebenden. Zeugendokumente von widerständigen Bauern, die von ihrem Land vertrieben wurden und niemals wieder irgendwo angekommen sind, schon gar nicht im Bewusstsein der Öffentlichkeit. Oder Filme wie die von Joanne Richardson über ein post-kommunistisches Europa, in dem die jüngste Vergangenheit bereits im Museum steht, während eine neue Identität aus Feudalkitsch, Euroshopping und ethnischem Branding zusammen genagelt wird. Die Abwesenheit, die entsteht, wenn man die Leere nicht aushält.
Man wirft uns vor, wir würden uns nicht gut vermarkten. Dass wir von Dingen reden, die keiner verstünde, oder die längst abgehakt seien, dass unsere Filme zu lang seien oder zu kurz, und dass wir zu viel wollten. Wer keine Kompromisse machen will, bekommt in Sachen politische Filmarbeit das gleiche zu hören wie bei der Jobsuche: Sie vermarkten sich nicht gut, Sie jammern zu viel, Sie sind unbescheiden, Sie reden zu viel oder zu wenig, Sie sind zu dick, zu dünn, zu dunkel. Da gibt es eine Verbindung, eine von vielen. Denn auch das Verhältnis der Macht zur Masse hat sich verändert. Sie umschmeichelt sie nicht mehr, sondern drangsaliert sie. Um sie konform zu halten, reichen die Werbepausen nicht mehr aus, sondern es ist Gewalt nötig. Nicht dass Gewalt nicht immer im Spiel war, aber die unverminderte Ausbeutung einer wachsenden Mehrheit durch eine sich verschanzende Minderheit geht einher mit einem ständigen Zuwachs an Sichtbarkeit und der Beschleunigung von Kommunikation. Die Ungerechtigkeit in der Verteilung von Lebensqualität und Überlebenschancen ist evident und sichtbar, im Leben wie im Film.
Wenn wir heutige Filme neben die von Jean-Luc Godard, Chris Marker und Christoph Schlingensief stellen, wenn wir das anti-koloniale „Third Cinema“ von neuem entdecken, die Agit-Prop-Filme der russischen Avantgarde oder die Arbeiten von Lesbenkollektiven aus den 80er Jahren, dann geht es darum, Fäden der Kritik nicht abreißen zu lassen. Es geht aber auch hier darum, Viele zu sein und nicht nur fünfundzwanzig. Kino kann das, denn es ist nicht nur ein Medium, das uns hier und jetzt versammelt, sondern auch eine Form, die Abwesenden zu Wort kommen zu lassen.
Der obige Text ist während der Arbeit an der Programmreihe Der Standpunkt der Aufnahme für das Kino Arsenal in Berlin im Herbst 2010 entstanden. Veröffentlicht wurde in der Wochenzeitung Freitag eine nach einem konstruktiven Lektorat von Matthias Dell gekürzte Fassung.