Videomappings

Videomappings: Aida, Palestine (2009)
von Till Roeskens

Till Roeskens’ Videomappings; Aida, Palestine beginnt mit der Erzählung einer Frau von einem Garten, der ihrer Familie einmal gehörte, von Johannisbrotbäumen, deren Früchte auf der Zunge zergingen, und von Oliven, deren Öl so gelb gewesen sei wie reines Gold. Zur Stimme der Frau setzt sich im Bild eine unbeholfene Zeichnung zusammen. Es scheint, dass wir eine weiße Fläche sehen, die auf der Rückseite von unsichtbarer Hand mit Filzstift bemalt wird. Der Filzstift dringt durch und hinterlässt eine Spur. Eine Reihe identischer Dreiecke ist im Entstehen und die Erzählung der Frau handelt nun von einer Vertreibung aus dem zuvor beschriebenen Paradies, von einem Leben im Erdloch und schließlich von der Ankunft an einem Ort mit dem Namen Aida, einem Flüchtlingscamp in der Nähe von Bethlehem. Zeichnung und Stimme gehören zusammen, auch wenn es uns nicht gleich gelingen will, das eine auf das andere zu beziehen. Die Dreiecke werden mehr, drei Striche für jedes. Sie stellen die Zelte des Flüchtlingscamps dar. Die Stimme der Frau gibt jedem Zelt einen Namen. Es werden Linien gezogen, die die Zelte in Gruppen aufteilen, nach Familien und Herkunftsort. Noch immer vermehren sich die Zelte, und als es keinen Platz mehr für weitere gibt, beginnt sich um jedes der Dreiecke ein Quadrat zu formieren. Heute sei das Camp nicht mehr wieder zu erkennen, sagt die Frau, da aus den Zelten Häuser geworden seien. „Heute sind wir Tausende.“

Zwischen heute und damals, zwischen Erzählung und Zeichnung, Stimme und Bild ist etwas unwiederbringlich verloren gegangen. Unwiederbringlich heißt auch, dass es in diesem Film keine Bilder geben wird zu den Orten, von denen die Rede ist. Nicht einmal die Sprecherin selbst werden wir zu sehen bekommen. In Videomappings geht es nicht darum, zu zeigen, was verloren wurde oder das Verbliebene vor der Kamera zu versammeln, womöglich ein Inventar des Verlusts zusammen zu stellen, auf das man sich dereinst würde beziehen können, sollte es irgendwann einmal darum gehen, das Verlorene wieder zu erkennen und Rechtsansprüche geltend zu machen. Es geht nicht um die Darstellung des Verlorenen, sondern um die Dokumentation des Verlusts. Wie aber dokumentiert man einen Verlust?

Auch die nächste Erzählung handelt von einem Garten, von einem Haus in einem Tal, das dem Erzähler und seiner Familie in einem Handstreich genommen wurde. Eine gerade Linie stellt den Weg dar, der dorthin führte, parallel dazu verläuft in einer Wellenlinie ein Fluss. Der Mann erinnert sich an die Adler, die er als Junge dort habe kreisen sehen, und er zeichnet sie mit wenigen Strichen dorthin, wo der Himmel sein müsste. Das leise Kratzen des Filzstifts und die Stimme des Mannes: wir wissen, dass beides zusammengehört und im gleichen Raum stattfindet, direkt vor der Kamera. Ohne ihn zu sehen, wissen wir, dass der Erzähler hinter der weißen Fläche steht und zeichnet. Wie er müssen wir uns mit dem Wenigen begnügen, das bleibt, mit Erinnerungen und einer unbeholfenen Skizze. Während er aber weiß, wovon er erzählt, müssen wir es ihm ungesehen glauben.

Es gibt in Videomappings nur einen einzigen sichtbaren Ort, nämlich die weiße Leinwand, auf deren Rückseite gezeichnet wird. Diese Zeichnungen sind die einzigen Bilder, Kartografien ohne Maßstab und Legende, in denen sich verschiedene Zeiten überlagern, ohne dass etwas weggewischt werden müsste. Man wird kaum umhin kommen, in diesem radikalen Bildentzug nicht nur den Versuch zu sehen, einen Verlust sichtbar zu machen, sondern auch eine Art und Weise, die dokumentarischen Instrumente auf ihren nackten Kern zu reduzieren: eine sichtbare Linie und eine Stimme, beides Spuren von etwas Abwesendem. Ohne Umwege führt uns Videomappings vor, was Kino ist: eine weiße Leinwand, auf der sich Spuren abzeichnen werden. Wenn es sich fügt, werden wir zu dem, was wir sehen, Stimmen und Geräusche hören. Wie eines zum anderen passt oder gehört, ist eher der Gegenstand eines Fragens, als der Ausdruck einer Evidenz. Denn zwischen Stimme und Zeichnung hat immer schon ein Verlust stattgefunden. Bild und Ton sind immer schon auseinandergelaufen, bevor sie womöglich wieder zusammen finden.

Ein Floß in den Bergen

Die Kartografien in Videomappings erinnern an die „Floß-Transkriptionen“, die Fernand Deligny von seinem Zusammenleben mit autistischen Jugendlichen in den Cevennen angefertigt hat1. Auch diese Karten sind keine maßstabgetreuen Abbilder von Orten, sondern die Spuren von Anwesenheiten, Gegenständen, Tätigkeiten, Routinen und Ereignissen. Nicht einmal als Spuren möchte Deligny sie bezeichnen, sondern als „Seinsweisen, die eine Spur suchen.“ (Deligny, S. 92) Linien und Knotenpunkte müssen darin als Bewegungen in der Zeit gelesen werden, nicht als die Topografie eines Ortes. Wenn sie dennoch die Namen von Orten tragen, so deshalb, weil die Bewegungen sich immer auf den Ort bezogen und durch das ermöglicht wurden, was er vorgab: Bäume, Felsen, ein Fluss, eine Mauer, eine Furt, ein Ofen.

In Delignys jahrelangem, anti-psychiatrischem Projekt ging es darum, mit der Abwesenheit der Sprache umzugehen. Die Videokartografien, die Till Roeskens im Aida-Camp aufgezeichnet hat, sind hingegen ein Umgang mit dem Fehlen von Bildern. In beiden Fällen wird in der Zäsur, die das Abwesende hinterlässt, eine neue Form des Erzählens ermöglicht. Ein „Fingieren“, das jedoch nicht bedeutet, „Illusionen hervorzurufen, sondern verständliche Strukturen zu entwickeln.“2 Delignys Arbeit mit den Autisten ging nicht von der Annahme aus, dass diesen die Sprache fehlte. Dennoch brauchte es lange, dem Drängen dieser abwesenden Sprache zu entkommen, der Versuchung zu widerstehen, sie durch etwas anderes zu ersetzen und sich damit noch im Schweigen ihrer Autorität zu unterwerfen. In der Sprachlosigkeit der Autisten wurde die Sprache dagegen denen, die sie hatten, zu einem sperrigen Gepäck von zweifelhaftem Nutzen. Anstatt „herauszufinden/ was SIE [die Autisten, T.H.] hatten/ oder was SIE nicht hatten/ oder wovon sie befallen waren“, schreibt Deligny, begannen er und seine Mitstreiter, „uns auf die Suche zu machen/ nach dem, was uns fehlen könnte/ woran uns ernstlich mangeln könnte/ dass dieses ‚Wir’ von konjugierten Personen in ihren Augen nicht existiert.“ (Deligny, S. 21f.)

Wo die Sprache unbrauchbar geworden war, traten die Tätigkeiten und Gesten, die Dinge und das Sicht- und Fühlbare in die Zwischenräume. Anstatt aber dieses Sichtbare zu zeichnen, wie es ist oder wie man es sah, sind die Kartografien der Versuch, zu verstehen, was die Orte mit der Gruppe mit der Zeit gemacht haben. Zu welchen Routinen sie verlockten und welche spontanen Möglichkeiten dort ergriffen wurden, weil man keine Worte hatte, mit denen man den Anderen hätte fragen, rufen oder bitten können. Die Karten stellen dar, „wie wir eingreifen und auf welche Weise sich derjenige, der sie anfertigt, zu dem Zeitpunkt, in dem er sie anfertigt, daran erinnert.“ (Deligny, S. 138)

Der „Floß-Effekt“, der dabei zum Tragen kommt und der für Delignys Projekt zentral wurde, ist die nachträgliche Verbalisierung eines in den Karten wiederkehrenden Zeichens, das sich zufällig und überraschend eingestellt hat. Bei der Transkription standen vertikale Linien für die Anwesenden, horizontale Linien für die regelmäßigen Tätigkeiten, für die „Planken, der Dinge, die zu machen sind“ (Deligny, S. 91). Das Raster, das sich daraus nach einer Weile „ornamentierte“, hatte die Form eines Floßes, einer tragfähigen Struktur, die Deligny als „eine Wirkung des Wir, die man nicht kommen sah“ (Deligny, S. 139), beschreibt. Der Zweck der Karten besteht dementsprechend nicht darin, eine Ortskenntnis in ihnen festzuschreiben, sondern sie später und immer wieder miteinander zu vergleichen. „Gerade der Vergleich der Karten bringt etwas ganz anderes zum Vorschein, als der Autor der Karte hat aufzeichnen wollen.“ (Deligny, S. 140) Was zum Vorschein kommt, ist „ein Wir, das über eine bloße Übereinkunft weit hinausgeht.“ (Deligny, S. 93)

Ich ziehe den Vergleich zwischen Videomappings und Delignys „Floß in den Bergen“ nicht heran, um etwa eine Parallele zwischen Vertreibung und Autismus herzustellen. In einem gewissen Sinn scheinen die beiden Beispiele sogar konträr zueinander zu liegen, denn während es bei Videomappings um eine Situation geht, in der die Stimme beredt wird, weil nur noch wenig zu sehen ist, ging es bei Deligny ja wesentlich darum, sich in der Abwesenheit der Sprache auf Augen und Hände zu verlassen. „Worauf also sich verlassen, wenn die Sprache fehlt/ auf unsere Augen, unsere Hände/ wir fingen an Spuren aufzuzeichnen.“ (Deligny, S. 16) Augen und Hände kommen jedoch auch bei Videomappings ins Spiel, die Hände der Sprechenden, die sich an unsere Augen richten, nicht als Gebärden oder indem sie uns Zeichen gäben, sondern auch hier indem sie eine Spur aufzeichnen, in der eine Wirklichkeit lesbar wird, die zwar unsichtbar, aber deshalb keineswegs inexistent ist.

Ich schlage eine Parallellektüre dieser beiden Spuren vor, weil es beide Male um die veränderte Wirkung geht, die das Sichtbare ausübt, wenn die Autorität einer vermeintlich objektiven Institution – dort die Sprache, hier die Bilder und Archive – in Frage gestellt oder einfach nicht in Anspruch genommen wird. Eine unheilvolle Dynamik entwickeln dokumentarische Bilder immer dann, wenn sie sich als Autorität zwischen mich und den Anderen schieben. Wenn sie die Möglichkeiten unserer Verständigung an die Autorität einer Wirklichkeit zu binden versuchen, die bereits von solchen dokumentarischen Bildern geprägt ist und in solchen Bildern archiviert wird. Wenn Deligny sich im Leben mit den Autisten darüber klar wird, wie sehr uns die Sprache „konjugiert“, so konjugieren uns dokumentarische Bilder zweifellos in ähnlicher Weise. Auch wenn uns ihre Grammatik bisweilen hilft, uns über die Wirklichkeit zu verständigen, so werden ihre Ansprüche doch gänzlich unerträglich, wenn nur noch das dokumentarische Bild zu wissen vorgibt, was zwischen mir und dem Anderen vor sich geht. Man ist versucht, die Augen zu schließen, ehe man am Bild blind wird. „Schließ deine Augen und schau!“3

Film jedoch kann die Augen nicht verschließen, er kann sich nicht an geschlossene Augen richten. Eine schwarze Leinwand erwartet das Licht und eine weiße Leinwand erwartet ein Bild, oder, wie bei Videomappings, eine Spur. Film lebt von der „unausweichlichen Modalität des Sichtbaren“4, von dem, was Georges Didi-Huberman, der diese Passage aus Joyces Ulysses liest, als eine „Symptom-Arbeit“ bezeichnet, „bei der das, was wir sehen, von einem Werk des Verlusts getragen (und auf es verwiesen) ist.“5 Beim Film, gerade beim Film mit seinem unsichtbaren Flackern zwischen den Bildern, wird das Sehen von einem Verlust getragen, von einem Nicht-Sehen ermöglicht und davon, dass das Nicht-Gesehene uns entgeht. Wenn nun gerade der Dokumentarfilm es sich zur Aufgabe macht, das Nicht-Gesehene und Unsichtbare sichtbar zu machen und ins Bild zu holen, dann übersieht er dabei oft, dass das, wozu unser „unvollständiges“ Sehen uns herausfordert, nicht ein „vollständiges Sehen“ sein kann, sondern dass es darum geht, das, was unserem Sehen entgeht, als die Möglichkeit eines anderen Blicks zu verstehen.

Wir öffnen die Augen also wieder und sehen in einer Arbeit wie Videomappings ein Sichtbares, das nicht mehr das „Abbild“ einer Wirklichkeit zu sein vorgibt, sondern das von einem Werk des Verlusts getragen ist und unser Sehen in eine Symptom-Arbeit verwickelt, das heißt, es zu einem Sehen macht, welches in dem, was es sieht, etwas entziffert, das ihm entgeht. Ein solches Sehen weiß um sein Nicht-Sehen und es verzweifelt dennoch nicht an sich. Es ist dabei zu begreifen, dass auch das, was ihm entgeht, was es niemals mehr sehen wird, den Index des Wirklichen haben kann. Und mit diesem neu gewonnenen Selbstvertrauen ermöglicht ein solches Sehen auch ein weniger voreingenommenes Hören auf die Stimmen.

Was wir hören und sehen wird in dieser Lockerung der dokumentarischen Autoritäten aber nicht unweigerlich zur „Fiktion“, wie es eine gängige Kritik an diesen Autoritäten gerne hätte, sondern es wird zu einer Spur. Das heißt, es wird zu einem Abdruck, zu einer Materialität – Linien, Stimmen – die wir nur deshalb wahrnehmen können, weil es eine Berührung gegeben hat; weil etwas oder jemand anwesend war und etwas anderes sich dieser Anwesenheit in den Weg gelegt hat. Ohne diese doppelte Anwesenheit wird kein Abdruck hinterlassen. Als Spur kann er jedoch erst lesbar werden, wenn das, was zuvor anwesend war, abwesend ist. In dieser Dialektik von Abwesenheit und Anwesenheit sieht Didi-Huberman sowohl die Fragilität, als auch die Stärke des Abdrucks begründet, vor allem jedoch seine kritische Funktion, die mit seiner „symptomalen Funktion“ zusammenfällt6. Die kritische Kraft des Abdrucks liegt für Didi-Huberman darin, dass er es ermöglicht, das Bild nicht mehr als Abbild, sondern als Spur zu betrachten.

In einer solchen Betrachtung können Abwesendes und Anwesendes nicht mehr gegeneinander ausgespielt werden entlang einer Skala von Präsenz und Repräsentation, die darüber befindet, was glaubwürdig oder realistisch ist und was in den Bereich der Einbildungen und Fiktionen zu verweisen sei, eine Skala, die stets die Tendenz hat, das Anwesende und Sichtbare gegenüber dem Abwesenden und Unsichtbaren zu bevorteilen, und zudem die Gegenwart mit einem stärkeren Wirklichkeitsindex zu versehen als die Vergangenheit. Freilich wiederhole sich in einer solchen Kritik, schreibt Didi-Huberman, eine hinlänglich bekannte Kritik an den Ansprüchen des Bildes. Bei der Betrachtung des Bildes als Abdruck gerate man jedoch auf einen ganz anderen Pfad als den der Abstraktion (und ich möchte hinzufügen: der Fiktion), denn man wendet sich ja nicht ab von der Vorstellung eines Realen, das der Wahrnehmung zugänglich ist, sondern beansprucht dieses Reale mit dem Begriff des Abdrucks umso mehr. Anstatt um die allfällige Skepsis an der Realität gehe es darum, ihr in unserem Blick einen anderen Ort zu geben. Dieser Ort liegt aber nicht mehr in einer intelligiblen Distanz, sondern gerade in einer bis zur Berührung herangerückten Nähe, in der gleichwohl eine irreduzible Distanz aufbewahrt bleibt. Das Bild als Abdruck zu betrachten, bedeutet auf eine gewisse „angemessene Distanz“ zu verzichten, welche das Funktionieren einer gewissen Optik zu erfordern scheint, und sich überdies unbedingt zu erlauben, anachronistisch zu werden. Die kritische Funktion des Abdrucks liegt gerade in seiner anachronistischen Struktur, die es ermöglicht, etwas Abwesendes als anwesend wahrzunehmen, und gleichzeitig in einem Anwesenden die Unwiederbringlichkeit eines Verlusts zu denken.

Tobias Hering

Der erste Teil dieses Textes wurde als ein Kapitel von Verlass und Vertrauen veröffentlicht. Der zweite Teil, über die Floß-Transkriptionen von Fernand Deligny, ist dabei wegfallen.


1 Die langjährige Arbeit Delignys ist auf vielfache Weise dokumentiert, nicht nur in zahlreichen Artikeln, die er und seine Mitarbeiter in Fachzeitschriften veröffentlicht haben, sondern auch in einem Film, Le moindre geste (F 1971), den Deligny selbst gedreht hat, sowie dem dokumentarischen Essay Ce gamin là (F 1975) von Renaud Victor. Ich zitiere aus der im Merve-Verlag 1980 auf Deutsch erschienenen Textauswahl „Ein Floß in den Bergen“ (im Folgenden im Text zitiert als Deligny).

2 Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen, Berlin 2006, S. 57

3 James Joyce, Ulysses, Frankfurt/Main, 1975, S. 53

4 Ebd.

5 Georges Didi-Huberman, Was wir sehen, blickt uns an, München 1999, S. 16

6 Ich paraphrasiere hier einen Absatz aus La ressemblance par contact, S. 309