Notizen über das Politische und den Film
[Unveröffentlicht. Der Text besteht aus gesammelten Notizen, die vermutlich während der Arbeit an der Filmreihe Der Standpunkt der Aufnahme zusammen kamen. Die Zwischenüberschriften habe ich nachträglich eingefügt. | Anm. Tobias Hering, 2019]
In „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repoduzierbarkeit“ schreibt Walter Benjamin: „Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen.“ Wenn das stimmt, dann gibt es kein Problem mit dem Politischen im Kino. Es bestünde keine Gefahr, dass das Publikum sich um Kopf und Kragen genießt, noch dass es sich von Propaganda auf die Folter spannen ließe. Die Verdummung hätte keine Chance, weder auf dem Wege des Placebo-Spektakels, noch als indoktrinäre Litanei, denn das Medium Film selbst – unabhängig davon, was auf der Leinwand zu sehen ist – wäre aufklärerisch. Für Benjamin bestand offenbar noch Grund zu der Annahme, dass die Apparatur und die kollektive Rezeptionssituation, die der Film formal-ästhetisch antizipiert, das Publikum zu einer kritischen Masse formieren.
1968 sah es so aus: „Der Film der Zukunft wird sich außerhalb des Kinos abspielen, zu Hause, in den Wohnungen. Jeder wird wählen können, was er sehen will, unbeaufsichtigt von Verleihapparaturen und Zensurinstanzen. Man wird Filme kaufen wie Platten, Bücher oder Bilder. Diese Freiheit der Wahl wird eine neue Souveränität gegenüber dem Show-Kino geben. Da man wählen, seinen Geschmack oder Ungeschmack privat pflegen kann, braucht man auf die Manipulation der Kinobranche nicht mehr sauer sein. Man kann zum Beispiel Trivialfilme wie Spezialitäten zu sich nehmen, man wird ins Kino gehen, weil man die Aggressivität von James Cagney besser genießt, wenn sechshundert Leute um einen herum sind, weil die Reize der Taylor auf die Präsentation vor tausend Leuten berechnet sind und da am besten wirken (unverhüllten Sex gibt’s im Heim-Kino besser). Diesen Widerspruch wird die Zukunft des Kinos produzieren: ‚weiter’ wird’s mit dem Film außerhalb des Kinos gehen, dem Kino für alle und von allen. Das traditionelle Kino aber wird den Glanz des Altehrwürdigen bekommen. Man wird es liebevoll betrachten wie den Zirkus: eine traditionsreiche Sache mit eigenen Sorgen und Fährnissen, herrlich außerhalb der Wirklichkeit, vielleicht die beste Alternative zu einer Droge.“ – Werner Kließ, „Kino und Drogen“, in: Film 1968 No. 9, zitiert aus: Großes Kino, Kleines Kino 1.968 Bilder, Jörg Probst, Hanns Zischler (Hg.), Merve Verlag, Berlin 2008.
Was war geschehen? Eines, das geschehen war, hatte Benjamin in seinem Nachwort zu dem Essay bereits ahnend beschrieben: „Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg.“ Das kurze, wohl 1939 verfasste Nachwort hat eine eigentümliche Sogwirkung. Es ist etwas Verhängnisvolles in ihm, ein Verhängnis, das aus der Zukunft kommt, ähnlich dem Sturm, der dem Engel der Geschichte in einem anderen Text Benjamins die Flügel aufzwingt und ihm bereits die Trümmerhaufen, von denen er noch nicht wissen konnte, vor die Füße schleuderte. Auch Kließ’ Text – eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen beiden – handelt von der Zukunft. Das Medium Film (oder der Ort Kino?) scheinen von sich aus der Zukunft zugewandt. Vorstellungen vom „Film der Zukunft“ hat es zu jeder Phase der Filmgeschichte gegeben. Jedes Gegenwärtige wird in ihr als Übergangsform erlebt und als Herausforderung, eher das zukünftige Potenzial zu entdecken, das in ihr geborgen liegt, als sich darauf zu konzentrieren, wie es um den Film hier und jetzt bestellt ist.
Wie oft wurde eine Phase des Kinos, kaum dass sie einen Namen hatte, für tot und nichtig erklärt und eine neue ausgerufen, die dann auch nicht viel älter wurde. Woher kommt das? Womöglich war das Auftreten des Kinos bzw. des bewegten Bildes tatsächlich ein so einschneidendes Erlebnis, dass es phylogenetische Spuren hinterlassen hat im Zeitgefühl, im Verhältnis zur Geschwindigkeit, im Sehen. Wann zuvor hat man das Sehen in Bildern pro Sekunde gedacht und dabei die wundersame Selbsttäuschung des Auges mitgedacht, die aus einzelnen Bildern eine flüssige Bewegung macht? Vielleicht hat die Assoziation des Flüchtigen, Vorbeieilenden mit der Apparatur des Films zu tun, die man kennt, manchmal hört, aber selten sieht. Mit dem Rattern, dem Transport, dem Drehen der Rädchen und dem Summen des Films.
Die Vorstellung, dass der Film seiner Zeit – und damit einem selbst – stets voraus ist, sein eigenes Ding macht, einem davon läuft, könnte dem Alptraum eines Filmvorführers entsprungen sein, der von dem Film auf der Leinwand gebannt nicht gesehen hat, wie sich der Film hinter seinem Rücken aus dem Projektor windet, auf dem Boden der Projektionskabine kringelt und womöglich schon auf dem Weg zum Notausgang ist. Habe ich dieses Bild eines Films, der sich selbständig macht, nicht schon im Film gesehen? Die Dialektik von Materialität und immateriellem Artefakt führt mitten durch den Begriff „Film“. Film kann beides heißen, das Trägermaterial, früher aus Zelluloid, heute aus Polyester, ebenso wie die bewegte Bildfolge, die auf eine Leinwand projiziert oder auf einem Bildschirm betrachtet wird, die als intentionale oder intentional gebrochene Erzählung wahrgenommen wird und als immaterielle Referenz in den Diskurs eingeht, wie ein Name, ein Roman oder ein Sprichwort.
Technik, Ästhetisierung, Faschismus…
Womöglich kommt man dem Dilemma der politischen Film- und Videoarbeit näher, wenn man die Parallelen zwischen Benjamins Zeit und der Gegenwart nicht an den Sprüngen in der technischen Entwicklung festmacht, sondern daran, wie es um die Eigentumsverhältnisse bestellt war – und ist. Denn je mehr die technische Entwicklung voranschreitet, desto anachronistischer werden die Eigentumsverhältnisse, oder genauer, desto anachronistischer wird die fortgesetzte Armut einer Mehrheit der Weltbevölkerung. Gegen die Evidenz dieses Anachronismus kann die ungerechte Verteilung des globalen Wohlstands nur mit Gewalt aufrecht erhalten werden. Das war damals wie heute kein Bücherwissen, sondern Alltagswissen, die optisch und taktil wahrnehmbare (sicht- und spürbare) Realität.
Dem Faschismus seiner Zeit konzedierte Benjamin, dass er die neu entstandenen proletarischen Massen zu organisieren sucht, ohne die Eigentumsverhältnisse anzutasten, auf deren Beseitigung sie hindringen. Der Faschismus beansprucht, „die Massen zu ihrem Ausdruck (beiliebe nicht zu ihrem Recht) kommen zu lassen“. Die Massen haben ein Recht auf Abschaffung der ausbeuterischen Eigentumsverhältnisse, der Faschismus sucht ihnen einen Ausdruck in deren Konservierung zu geben. Der Faschismus läuft Benjamin zufolge auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. „Und die Ästhetisierung der Politik mündet im Krieg.“ Diese These unterfüttert Benjamin mit zwei verschiedenen Argumenten, einem, das er „politisch“ nennt: dass nur der Krieg es möglich macht, Massen zu mobilisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse anzutasten. Und einem „technischen“: „Nur der Krieg macht es möglich, die sämtlichen technischen Mittel der Gegenwart unter Wahrung der Eigentumsverhältnisse zu mobilisieren.“ (darüber Harun Farocki in Zwischen zwei Kriegen, 1978) Die Mobilisierung der technischen Möglichkeiten im Krieg als ein ästhetisches Erlebnis zu feiern, wie es faschistische Autoren vor, während und nach jedem Krieg getan haben und tun.
Mitte der 60er Jahre traf der Anachronismus zwischen technischer Entwicklung und Reichtumsverteilung, dem der zweite Weltkrieg nichts anhaben konnte, erneut auf einen Innovationsschub bei den zur Verfügung stehenden Bildmedien. Man muss die Rolle von Filmkollektiven und frühen Videoaktivistinnen dieser Zeit gar nicht idealisieren, um feststellen zu können, dass die anti- bzw. post-koloniale Mobilisierung in Afrika, Asien und Lateinamerika, wie auch die Revolten in den Städten, Fabriken und Universitäten der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften massiv mit bildpolitischen Instrumenten arbeiteten: mit dokumentarischen Fotos, Plakaten, Graffiti, Logos und Symbolen und nicht zuletzt mit Filmaufnahmen, deren Herstellung durch die Einführung von Video gerade dabei war, mobiler und handlicher zu werden, und deren massenhafte Verbreitung durch das Fernsehen zumindest vorstellbar geworden war.
Wenn man als nächste Kadenz dann die sogenannte digitale Revolution setzen möchte, so sollte man nicht übersehen, dass seit dem Auftreten des Fernsehens und der etwas späteren Einführung der Videotechnik die Vorstellung eines „Films von allen für alle“ eine realistische Utopie war, an der seit dem zwei Generationen involvierter Film- und Videomacher*innen arbeiten. Es ist sicher aufschlussreich und unterhaltsam, sich anzusehen, welche späteren Stadien der technischen Entwicklung in den visuellen Künsten vorweg genommen, angeträumt wurden, so wie Benjamin im Dadaismus, im Kubismus und im Futurismus das Begehren nach einer veränderten Wahrnehmung ausgedrückt findet, die dann erst mit dem Film vollständig auf ihren Begriff kam. Die Frage, die mich umtreibt, ist allerdings, ob die Unfähigkeit der „digitalen Revolution“, eine emanzipierte und emanzipierende Öffentlichkeit hervorzubringen, nicht daher rührt, dass sie zwar die Massen mobilisiert, aber die Eigentumsverhältnisse nicht antastet. So wie der Faschismus in den 30er Jahren.
Godard hat diese Gefahr des „politischen Films“ bereits 1970 erkannt und in der Art eines lutherischen Thesenanschlagens programmatisch zu Papier gebracht. Seine berühmte, in 39 Punkten durchdeklinierte Unterscheidung zwischen „politische Filme machen“ und „Filme politisch machen“ ist, abgesehen von einigen Unschärfen im Detail, heute so relevant wie damals. Sie nimmt sich sämtliche Stadien der Bildproduktion vor und benennt jeweils, wie die bürgerliche, systemerhaltende Variante ausfällt und wie dagegen die revolutionäre Arbeitsweise auszusehen habe. Die Dichotomie basiert hier genau auf dem Widerspruch, den Gebrauch des Mediums zu liberalisieren, ohne die Eigentumsverhältnisse anzutasten. „Politische Filme machen“ heißt, politische Themen im Kino salonfähig zu machen, und damit das „kritische Denken“ mit dem Warencharakter des Filmgeschäfts zu versöhnen. Schon damals, und heute erst recht, sind Filme zu politischen Themen mühelos kompatibel mit einem kapitalistischen Info-Marktplatz und einer ausbeuterischen und autoritären Produktionsweise. „Filme politisch machen“ heißt dagegen, die Eigentumsverhältnisse, die kapitalistische Wirtschaftsordnung angreifen. Da der gesamte Produktions- und Verwertungsprozess von Film tief in diese Ordnung involviert ist, heißt es also, eine vollkommene Neuorientierung dieser Prozesse, wo nicht gar ein Angriff gegen den Film selbst.
„Politische Filme machen“ heißt dagegen, Filme zu „politischen Themen“ zu machen, ohne die Bedingungen der eigenen Arbeit und die Rolle von Film, Kino und Fernsehen in Frage stellen zu müssen. Filme zu politischen Themen sind mühelos kompatibel mit einem kapitalistischen Info-Marktplatz und einer ausbeuterischen und autoritären Produktionsweise. Filme politisch machen ist dagegen ein schwieriges Unterfangen voller Konflikte und Widersprüche, in denen sich unschwer die Konflikte und Widersprüche der Gesellschaft wieder erkennen lassen.
(Man hat das Gefühl, um über politischen Film ohne Missverständnisse schreiben zu können, müsste man das Gros dessen, was alle Wochen in die Kinos kommt, erst mal vom Tisch räumen. Es geht nicht um den Schakal, den Untergang, auch nicht um The Social Network. Worum dann? Will man nicht in der Nische landen, sollte man vielleicht doch den Begriff des Politischen weit fassen und was Filme betrifft, davon ausgehen dass sie „alle im Dienste von etwas stehen, auch wenn der Regisseur es selbst nicht weiß“, wie es der französische Filmemacher Paul Carpita formulierte und daher lieber von „verwickeltem“ als von „aktivistischem“ Film sprach.)
Es geht nicht nur um das Internet, sondern genau wie bei Benjamin, dem es auch nicht nur um das Kino ging, auch um die vermeintlich demokratisierten Produktionsbedingungen in der digitalen Filmarbeit, um die emanzipierte Rezeptionshaltung, die autonomeren Vertriebsstrukturen und das aufgeklärte, barrierefreie Verhältnis zwischen Mensch und Apparat, sowie das egalitäre zwischen Filmenden und Gefilmten. Alles Dinge, von denen Menschen zu träumen anfingen, als sie das erste Mal sahen, wie ihr „Spiegelbild vor ein Publikum transportiert“ wurde, eine von mehreren Formeln, die Benjamin für das Aufkommen des Films findet.
Beide Texte (Benjamin/Kließ) formulieren eine Zukunftsprognose, die sich dann mehr oder weniger eingelöst hat. Sie sind an der Schwelle formuliert, als das Kommende bereits sichtbar war, aber noch nicht die Dominanz erreicht hatte, die sie voraussahen. Benjamin stellt seine Kriegsprognose im Säbelrasseln des Jahres 1939 auf, Kließ prophezeit das Heim-Kino zu einem Zeitpunkt, als gerade die erste tragbare Videokamera (Sony Portapak) auf den Markt gekommen war, und einige Jahre, bevor sich das Video Home System (VHS) als Kassettensystem für den privaten Konsum von Filmen durchsetzte. Zur gleichen Zeit wurde auch Benjamins Essay wieder entdeckt. Die technische Entwicklung holte das Nachdenken über Film aus der Versenkung in den Film auf der Leinwand zurück. Video warf grundsätzliche Fragen auf, denn es ermöglichte eine radikale Neuformierung der Produktion wie auch der Rezeption von Film.
Benjamins technisch-materialistische Analyse des Films hat den Vorzug, gegen eine Idealisierung des Spektakels gewappnet zu sein. Sie hält die Räume, Requisiten und Apparate präsent und damit die Materialität und Körperlichkeit von Produktion, Verwertung und Rezeption. Ihr Nachteil ist freilich, dass sie zeitgebunden ist und Gefahr läuft, mit der Veränderung dieser Räume und Apparate obsolet zu werden. Jedenfalls ist es nicht ganz einfach, Benjamins klaren und beinahe prophetischen Gedanken eine aktuelle Interpretation zu geben, ohne seinem eigenen dialektischen Anspruch Unrecht zu tun. Die Begriffe „Film“ und „Kino“ decken längst nicht mehr dieselben Bedeutungsfelder und sozialen Praktiken ab. Filmegucken ist schon lange kein Massenerlebnis mehr, nicht nur weil die Kinos halbleer bleiben, sondern weil Filme dort gar nicht mehr hinkommen. Sie sind von Festplatte zu Festplatte gewandert und in einzelne Blicke aufgegangen. Darüber gilt es nicht zu jammern, sondern ganz im Sinne Benjamins zu fragen, was die neuen Formate für die sozialen Praktiken, an denen Filme beteiligt sind, bedeuten. Sowenig sich er um keinen Preis der Debatte anschließen wollte, ob Film Kunst sei oder nicht, so wenig sollten wir uns aufhalten bei der Frage, ob die Digitalisierung die Filmkultur zerstöre, sondern uns damit auseinandersetzen, wie sie sie verändert. Film bleibt ein Politikum.
Versenkung, Zerstreuung, Sog…
„Die zerstreute Masse versenkt das Kunstwerk in sich.“ Diese Formulierung Benjamins war eine Polemik gegen den bürgerlichen Kunstbegriff, der das Verhältnis zwischen Kunstwerk und Betrachter um die Kontemplation organisierte. Kontemplation gipfelte in Versenkung: der Versenkung des Betrachters im Kunstwerk. Wenn Benjamin den Spieß umdreht und das Kunstwerk in der zerstreuten Masse der Betrachter versenkt, so ist die Zerstreuung die Speerspitze gegen die Kontemplation. Zerstreuung also als ein Verhältnis des Betrachtens verstanden, das den Betrachter in seiner Welt belässt und mündig zwischen dieser und dem Kunstwerk kritisch zu vermitteln. Der Satz „die zerstreute Masse versenkt das Kunstwerk in sich“ bekommt eine aktuelle Bedeutung, wenn man unter Zerstreuung die räumliche Distanz zwischen den Betrachtern sieht, also die Atomisierung der Masse, die sich dann bestenfalls erst auf einer virtuellen Ebene – im „Diskurs“ oder im Internet – wieder formiert. Auch mit dieser Form der Zerstreuung hätte Benjamin jedoch vermutlich keine Probleme gehabt. In dem heutigen laxen und ungleich flüchtigeren Umgang mit Filmen hätte er ohne weiteres eine Form der „taktischen Rezeption“ erkannt, die das Kino mit der Architektur verbindet: „Die taktische Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit.“ „Diese an der Architektur gebildete Rezeption hat aber unter gewissen Umständen kanonischen Wert. Denn: die Aufgaben welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßen Optik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktischen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt. Gewöhnen kann sich auch der Zerstreute. Mehr: Gewisse Aufgaben in der Zerstreuung bewältigen zu können, erweist erst, dass sie zu lösen einem zur Gewohnheit geworden ist.“ (Und was Benjamin vom Städtebau und der Architektur im Passagenwerk schreibt: die Sympathie für den nachlässigen, scheinbar zweckentfremdenden, profanen, aufsässigen, beiläufigen, „respektlosen“ Umgang mit dem baulich Vor-Gesetzten, wo es um den „Respekt“ vor einer Macht geht, der diese Architektur als Ausdruck und Druckmittel dient.)
Der Sog in Benjamins Nachwort zum Kunstwerk-Text ist von der Art: Geister die man rief und nicht mehr loswird. Wer den Film als die ureigenste Kunstform der proletarischen Revolution begrüßt hatte, sah sich zunehmend mit der Tatsache konfrontiert, dass die Kollektivierung, die der Film und das Kino mit dem Publikum unternahmen, auf eine Vermassung hinausliefen und damit einer Herrschaftsfantasie dienten, welche die erst symbolische Aufhebung und dann reale Vernichtung der Massen im Namen eines einzigen Führers bedeutete. „Der massenweisen Reproduktion kommt die Reproduktion von Massen besonders entgegen.“ Benjamin setzt sogar die positiven Konnotationen seines Kernbegriffs, den der technischen Reproduzierbarkeit, aufs Spiel, um der Dialektik des Films auf die Spur zu kommen.
Gemäß der materialistischen Filmtheorie, um die sich Benjamin hier bemüht und die ihm einen eigentümlich technischen Blick geben, korrespondiert die Zurichtung der Massen für den Führer beim Film mit der Ausrichtung der Perspektive auf die Apparatur. „In den großen Festaufzügen, den Monstreversammlungen, in den Massenversammlungen sportlicher Art und im Krieg, die heute sämtlich der Aufnahmeapparatur zugeführt werden, sieht die Masse sich selbst ins Gesicht. dieser Vorgang […] hängt aufs Engste mit der Entwicklung der Reproduktions- bzw. Aufnahmetechnik zusammen.“ Für einen Moment ist nicht zu unterscheiden, ob die Filmkamera für die Reproduktion von Massen erfunden wurde, oder ob sich die Massen unablässig formieren, weil die Filmkamera läuft und läuft und läuft. Schon wieder ist etwas am Entgleiten, dennoch wollte Benjamin festhalten am emanzipatorischen Potenzial, das er im Film erkannt hatte. Man spürt allerdings die Anstrengung, die es ihn kostete, die Assoziationskette zu einem quietschenden Halt zu bringen, um im letzten Satz einen Kampf mit offenem Ausgang zu beschreiben, den er für die gegenwärtige Situation hielt: Die „Selbstentfremdung [der Menschheit] hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt. So steht es um die Ästhetisierung der Politik, welche der Faschismus betreibt. Der Kommunismus antwortet ihm mit der Politisierung der Kunst.“
Das „Nachwort“ datiert von 1939. Was die gesellschaftlichen Ambitionen von Film betrifft, sind wir alle Überlebende einer Katastrophe, nach der niemand mehr Lust verspürte, der Kunst, auch nicht dem Film, eine tragende politische Rolle zuzutrauen. Über das Politische des Films wird seit dem am Einzelfall entschieden, keiner wird sich mehr die Finger verbrennen mit der Behauptung, das Medium an sich sei revolutionär, oder das Kino ein prädestinierter Inkubator für eine kritische Masse. Dass der „Film der Zukunft“ 1968 ins Heim-Kino projiziert wurde, hatte zweifellos mit der grundlegenden Frustration an der Masse und dem Misstrauen gegenüber dem Kollektiv zu tun.
Ici et ailleurs
Vielleicht müsste es darum gehen – und sei es, um Bewegung in die Diskussion zu bringen –, Benjamins Radikalität hinsichtlich der Integrität dessen, was Kunst sei, auf das Feld „Politik“ anzuwenden. Zur Debatte steht nicht, ob Film politisch sein kann oder soll, sondern die Frage, wie sich Film innerhalb der sozialen und ökonomischen Verstrickungen verhält, aus denen er sich schlechterdings nicht befreien kann. Hier geht es nicht um ein a priori im Sinne eines „es gibt kein Außerhalb“, das sich aus dem Begriff oder der Materialität von Film zwingend ergäbe, sondern um einen kapitalistischen Verwertungszusammenhang, der total geworden ist und dennoch kontingent bleibt – so schwer es mittlerweile auch fällt, sich ein Agieren von außen vorzustellen, das nicht entweder selbstzerstörerisch, oder folgenlos wäre. Zweifellos ist eine andere Welt möglich und sind immer und zu jederzeit andere Filme möglich. Die eigentliche Frage jedoch ist, ob es zwischen diesen beiden Möglichkeiten einen Zusammenhang gibt. Können Filme die Welt verändern? Und wenn die etwas selbstzerfleischerische Befragung an diesen Punkt gelangt ist, dann stellt jemand in die entstandene Stille hinein die Frage, ob das denn nötig sei. Soll Film denn die Welt verändern?
Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob man sich als Teil der Welt versteht, um deren mögliche Veränderung es geht, oder ob man diese andernorts wähnt. Die Forderung nach Veränderung „ailleurs“ geht meist einher mit der Forderung nach einer Veränderung der Wahrnehmung „ici“. Die betrachtete Realität ist „ailleurs“, das Publikum sitzt „ici“. Damit sich dort etwas ändert, müssen wir hier anders wahrnehmen. Das kann ja noch nicht ausreichen. Wenn die hiesige Wahrnehmung mit der dortigen Realität zu tun haben soll, dann muss aus dieser Wahrnehmung eine Praxis folgen, die dort spürbar wird. Die mächtigste, nächst liegende und am häufigsten bemühte Praxis zwischen da, dort und irgendwo ist der Konsum. Konsumverzicht, ethisch und politisch korrekter Konsum sind zweifellos das populärste Format für den bürgerlichen Protest. Ein „Hands-on“ beziehungsweise „Finger weg!“-Aktionismus, der sich recht bequem im Alltag unterbringen lässt und dem oft zu Recht vorgeworfen wird, dass er dem Fetisch Ware eine Renaissance verschafft, anstatt die Warenförmigkeit der sozialen Beziehungen anzugreifen. Ethischer Konsum boomt, Konsumverzicht muss man sich leisten können. Für alle anderen gilt, was Engels 1850 über das gerade erst wieder um eine Revolution gebrachte Proletariat schrieb: „Der Masse braucht die Entsagung um so weniger gepredigt zu werden, als sie fast nichts mehr hat, dem sie noch entsagen könnte.“ Sobald „die Entwicklung der modernen Produktivkräfte das Material des Genießens ins Unendliche vermehrt“ haben, verliert der Aszetismus seine Berechtigung und mündet „entweder direkt in die bürgerliche Knickerei oder in ein hochtrabendes Tugendrittertum, das in der Praxis ebenfalls auf eine spießbürgerliche oder zunfthandwerkermäßige Knauserwirtschaft hinauskommt.“
Konsumverzicht ist Teil einer psychosozialen Ökonomie, die das Grauen verrechnet, anstatt gegen es aufzubegehren. De facto ist Konsumverzicht ein Hochpreisprodukt, aber sein Warenwert ergibt sich nicht so sehr aus den „Fair Trade“-Abkommen und Direktabnehmerkonditionen, wie es die Verpackungen suggerieren, sondern aus der Tatsache, dass das Gros der Konsumenten mit minderwertigen Produkten abgespeist wird, sowie aus der um jeden Preis aufrecht zu erhaltenden Gewissheit, dass das Gros der Produzenten misshandelt wird. In der Skandalisierung von Produktionsbedingungen und der Aufdeckung globaler Produktionsketten findet auch ein nicht unbeträchtlicher Teil des „politischen Dokumentarfilms“ und des investigativen Journalismus ein erträgliches Auskommen. Meist von NGOs koproduziert und nicht selten von den ethisch korrekten Handelsketten gleich mit vertrieben sind solche Filme jedoch keine Beiträge zu einer gerechteren Wohlstandsverteilung, sondern Psychopharmaka für alle, die glauben möchten, dass es seit 1989 keine Klassenkämpfe mehr gibt.
Reale Veränderungen bringt die politische Filmarbeit meist nur denen, die sie ausführen. Wer es geschickt anstellt, baut sich darauf eine Künstler*innen-Existenz; wer kompromisslos ist oder die allfällige „Professionalisierung“ verschläft, findet sich rasch auf der selben Prekaritätsstufe wieder wie diejenigen, denen sein solidarisches Arbeiten gewidmet war. Auch hier zeigt sich rasch, dass die politische Dichotomie zwischen dem Konsumkontext eines Films und der Realität, die er dokumentiert, die Apartheid zwischen Beschauer und Beschautem gegen grundsätzliche Angriffe resistent ist. Hör- und sichtbar wird ein Protest in aller Regel erst, wenn er sich auf die Spielregeln des kapitalistischen Bildermarktes eingelassen hat. Und daran hat der explosive Zuwachs von Bildproduzenten und die rasante Beschleunigung der Vertriebswege nichts Grundsätzliches geändert.